09 – Neue Kriegstechnik und Tyrannis

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Werner Rieß
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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

09 – Neue Kriegstechnik und Tyranis

Die archaische Zeit ist nicht nur von der Kolonisation und dem starken Einfluss des Orients geprägt, sondern auch von einer militärtechnischen und einer politischen Neuerung, dem Aufkommen der Hoplitenphalanx und der Tyrannis. Zunächst zur Phalanx: In homerischer Zeit kämpfen die Aristokraten Mann gegen Mann im Einzelkampf. Sie fahren mit dem Streitwagen in die Schlacht, steigen dann ab und treten in den Nahkampf mit dem Gegner ein. Eine individuelle Adelsethik, die sich noch nicht auf die ganze Polis bezieht, ist die Folge. Ab dem 8. Jh. greifen wir archäologisch Änderungen:
Die Rüstungen werden ab 750 schwerer, die eigentliche Phalanx wird dann wohl zwischen 700 und 650 v. Chr. eingeführt, wobei mit einer langen Übergangsphase und mit regionalen Unterschieden zu rechnen ist. Ich gehe zunächst auf das idealtypische Szenario und den damit verbundenen Mentalitätswandel ein, bevor ich dieses Modell vor dem Hintergrund neuerer Forschungen kurz kritisiere. In der Phalanx sind alle auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Es geht darum, durch konzertiertes Stoßen mit Schild und Lanze die gegnerische Phalanx aufzubrechen. Dazu muss sich die Schlachtreihe in gleichem Tempo bewegen, niemand darf von der Stelle weichen. Mit dem großen Rundschild am linken Arm deckt man die rechte Blöße des Kameraden links ab; die eigene, ungeschützte rechte Seite wird vom Schild des Nachbarn zur Rechten geschützt. Weder ist es möglich wegzulaufen – Flucht reißt die Phalanx auseinander und wird mit äußerster Verachtung gestraft -, noch ist es möglich, nach aristokratischer Manier individuell voranzustürmen, weil dies den sicheren Tod und ebenfalls die Auflösung der Phalanx bedingt hätte. Auch die Aristokraten müssen sich also buchstäblich in die Schlachtreihe eingliedern, die Bauern fühlen sich nun genau so wichtig wie die Aristokraten, eine kooperative Ethik entsteht, das Bewusstsein, gemeinsam für die Polis verantwortlich zu sein.
Der Individualismus tritt also radikal zurück, die Gemeinschaft zählt, nicht mehr der Einzelne. Wir sind auf dem Weg hin zu einer militärischen und damit auch politischen Gleichheit, die zu einer Form der Demokratie bzw. zu einer Polisverfassung führt, die den Einzelnen vollkommen vereinnahmt, in der es keine Menschenrechte und keinen Schutz vor dem Staat gibt nach dem Motto: Du bist nichts, Deine Polis ist alles. Dies unterscheidet die griechischen Demokratien grundsätzlich von unserem modernen Demokratieverständnis. Soweit also das idealtypische Szenario. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass die Entwicklung bei weitem nicht so geradlinig verlief. Das archaische Schlachtfeld war sehr uneinheitlich:
Der adelige Einzelkampf fand parallel neben dem Kampf in der Phalanx statt. Einige Männer kämpften also in dichterer Formation, andere bevorzugten immer noch den Kampf Mann gegen Mann. Daneben gab es auch ärmere Leichtbewaffnete sowie Reiter. Man wird sich die Entwicklung hin zur klassischen Hoplitenphalanx also gar nicht kompliziert und heterogen genug vorstellen können. Meines Erachtens jedoch ist die traditionelle Beschreibung in ihren Grundzügen richtig und gibt uns sehr wohl Aufschluss über die mentalitätsgeschichtlichen Paradigmenwechsel in der archaischen Zeit.

Die Archaische Zeit war jedoch nicht nur von der Tendenz hin zur Demokratie geprägt. Es gab in der Krise auch immer wieder charismatische Männer aus dem Adel, die die Herrschaft illegal an sich rissen und eine Tyrannis begründeten. Sie ist eine hypertrophe Form und gleichzeitig eine Perversion der Adelsherrschaft, da der Tyrann ja meist versucht, seine Standesgenossen auszuschalten. Dabei gibt er vor, im Interesse des Demos, also des Volkes zu handeln. Die populären Maßnahmen, die der Tyrann ergreift, wie etwa die Wiederherstellung von Ordnung im Lande, die Belebung der Wirtschaft, die Errichtung von Großbauten, die Organisation von glanzvollen Festen, die Verminderung sozialer Spannungen sowie auch die Verbesserung der Rechtspflege, geschehen nicht etwa aus philanthropischen Gründen, sondern aus reinem Machtkalkül, um sich die Zustimmung des Volkes möglichst dauerhaft zu sichern. Die Lebensweise der Tyrannen ist betont adelig: Sie züchten Pferde für Wagenrennen, nehmen an den panhellenischen Spielen teil, suchen sich ihre Freunde und Frauen in internationalen Kreisen und mehren ihren Reichtum. Die Macht sichern sie sich eben durch diesen Reichtum, eine Soldateska aus Klienten und Söldnern und ein internationales Netzwerk von Beziehungen.
Die Stellung der Tyrannen zur jeweiligen Stadtverfassung konnte jeweils sehr unterschiedlich sein: Einige Tyrannen lassen sich eine führende Position einräumen, ein ordentliches höchstes Amt mit außerordentlichen Vollmachten. Andere stehen neben der Stadt, regieren sie also wie ein fremder Oberherr von außen, d.h. Magistrate, Rat und Volksversammlung existieren weiter, akzeptieren aber die Oberhoheit, zahlen Steuern und leisten Heeresfolge. Der Tyrann konnte aber auch in der Stadt stehen, die Verfassung zum Schein bestehen lassen, aber die wichtigsten Ämter mit seinen Gefolgsleuten und Verwandten besetzen. Die Schattierungen sind mannigfaltig. Schuller beschreibt die Tyrannis als ein Durchgangsstadium hin zum verfassten Hoplitenstaat, idealiter zur Demokratie. Das ist so nicht ganz richtig, denn Tyranneis konnten auch später in der griechischen Geschichte auftreten, oder anders: Nicht alle Städte hatten in ihrer Geschichte einen Tyrannen.
Sagen wir eher: Die Tyrannis ist gewissermaßen ein Krisenphänomen. Wenn der Demos uneins ist, egal zu welcher Zeit, wenn starke Rivalitäten im Adel vorherrschen, sind das ideale Bedingungen dafür, dass es einer charismatischen Gestalt gelingt, einen Großteil des Volkes auf ihre Seite zu ziehen, also den Demos gegen den Adel zu instrumentalisieren. Aber auch hier gilt es wieder zu differenzieren, die Tyrannis bleibt ambivalent zu bewerten. Der Tyrann ist nicht nur ein Instrument des Demos gegen den Adel, sondern selbst ein hypertropher Adeliger, seine Herrschaft eine Übersteigerung der Adelsherrschaft. In dieser Spannung spiegelt sich ein Grundproblem der Geschichtswissenschaft, das Oszillieren zwischen einer biographischen und einer strukturgeschichtlichen Herangehensweise. Heute ist man mehrheitlich der Meinung, dass auch die Tyrannis nur multikausal zu erklären ist und auch immer nur vor dem Hintergrund der lokalen Begebenheiten. Zwei gegensätzliche Richtungen reiben sich, einerseits die Abschaffung des Königtums, dann die schrittweise Entmachtung des Adels und damit verbunden die kontinuierliche Verschiebung der Herrschaftsbasis nach unten, also der Weg hin zur Demokratie, und im Gegensatz dazu der Aufstieg einiger Adeliger zu einer übersteigerten Adelsherrschaft. Von diesen beiden Tendenzen war dann doch die hin zur Demokratie stärker. Warum?
Paradoxerweise trug gerade die Tyrannis zur Demokratie bei, sie stärkte den Freiheitswillen der Bürger. Der Tyrann hatte seinerseits die Bürgeridentität durch Festspiele erhöht, den Adel geschwächt, die Infrastruktur gestärkt, all dies kam der Demokratie zu Gute. Man kann also paradoxerweise sagen: Der Aufstieg einiger Adeliger, die dann ihre Macht auch oft missbrauchten, führte zu ihrem Fall am Ende der archaischen Zeit. Erst nach dem Sturz der meisten Tyranneis wurde diese Herrschaftsform dann durchgehend negativ konnotiert.

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08 – Die große Kolonisation / Der Orient

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

08 – Die Große Kolonisation / Der Orient

Das Hauptereignis der Archaischen Zeit war mit Sicherheit die Kolonisation (750-580 v. Chr.), die den Griechen nicht nur neue Welten, sondern auch neue geistige Horizonte erschloss. Sie erklärt sich hauptsächlich, wie die Krise der Archaischen Zeit insgesamt, durch die enorme Bevölkerungszunahme, die zu Landnot führte und somit viele Menschen zur Auswanderung zwang. Schon vor der eigentlichen Kolonisation folgten die Griechen den phönizischen Handelswegen und tauschten Keramikprodukte und Sklaven gegen Metall und Luxusgüter aus dem Orient. Die frühesten uns bekannten Niederlassungen sind Al Mina an der nordsyrischen Küste und Pithekoussai auf der Insel Ischia.
An beiden Orten wohnen Griechen mit Phöniziern zusammen, wobei Al Mina eher eine Handelsniederlassung als eine Kolonie, wie Pithekoussai, war. Der Ablauf war immer ähnlich: Man fragte zuerst beim Orakel von Delphi oder bei Zeus in Olympia nach, wohin man Kolonisten entsenden sollte. Delphi und Olympia wurden damit zu Koordinationszentren und Informationsbörsen für die ganze Kolonisations-bewegung. Meist zogen junge, waffenfähige Männer, wohl meist nicht mehr als 200, unter der Führung eines Adeligen los. Man nannte ihn Oikistes oder Archegetes. Der Oikistes wurde nach seinem Tode als Heros verehrt. Er bekam seinen eigenen Kult. Sein Grab befand sich nicht außerhalb der Stadt, sondern oftmals auf der Agora. Frauen nahm man sich dann aus der einheimischen Bevölkerung vor Ort; manchmal zogen Frauen aber auch aus der Mutterstadt nach. Schutzgott war meist Apollon, dem man dann den Beinamen Archegetes gab, aber auch Zeus und Hera. Die Einrichtung eines Kultes am Siedlungsort war dann der konstitutive Akt der Koloniegründung. Durch die damit verbundenen Rituale konnte des Gründungsakts dann regelmäßig gedacht werden. Das Land wurde unter den Erstsiedlern gleichmäßig verteilt, rechtliche, politische und religiöse Institutionen gegründet.
Obwohl es sich bei den Neugründungen um selbständige Poleis handelte, blieben sie natürlich den jeweiligen Mutterstädten politisch, religiös, aber vor allem kulturell eng verbunden. Vor allem Korinth übte über seine Kolonien eine strenge Kontrolle aus. Die egalitäre und vor allen Dingen geplante Stadteinteilung führte in den Kolonien zu regelmäßigen Stadtplänen, z. B. in Megara Hyblaia auf Sizilien. Auch hier sieht man wieder den Willen zur Rationalität und Logik bei den Griechen. Diese Gestaltbarkeit, gerade im politischen Bereich, in dem Verfassungen ausgehandelt und sozusagen auf dem Reißbrett entworfen werden konnten, wirkten auf das Mutterland zurück. Die Griechen lernten, dass Verhältnisse nicht naturgegeben und unabänderlich, sondern von Menschenhand verändert und auch neu geschaffen werden konnten.
Am Anfang spielten die Euböer die Vorreiterrolle bei der Kolonisation. Sie legten Al Mina und auch Pithekussai an. Vor allem Chalkis wurde auf Sizilien aktiv. Chalkis und Korinth dominierten bald die Kolonisationsbewegung im Westen, Megara und Milet die im Osten, v.a. im Schwarzmeergebiet. Das Beispiel, das wir am besten kennen, ist die Gründung Kyrenes um 630 durch Thera. Dieser Bericht liegt uns in drei Fassungen vor: Die theraische und die kyrenische Version überliefert uns Herodot; außerdem haben wir einen epigraphischen Text aus dem 4. Jh., der mehr oder weniger auf ältere Texte aus der Kolonisationszeit zurückgeht. In diesem Fall sehen wir, dass die Auswanderung nicht freiwillig war. Es musste gelost werden; wer sich der Verlosung zu entziehen versuchte, wurde hingerichtet. Den Kolonisten wurde die Rückkehr streng verboten. Wir sehen hier also eine Gemeinschaft, deren Ressourcen so knapp waren, dass sie ums Überleben kämpfen musste.

Die archaische Epoche wird aufgrund ihrer intensiven Kontakte zum Orient auch als orientalisierende Epoche bezeichnet. In vielerlei Hinsicht kennen wir heute die Abhängigkeit der Griechen von den Orientalen besser als früher, aber wir gewinnen auch immer mehr Einsicht, wie die Griechen sich die Errungenschaften des Orients fruchtbar und eigenständig anverwandelten. Ich kann hier nur einige, wenige Phänomene kurz ansprechen: In der Kunst sind die archaischen Jünglingsstatuen, die Kouroi, unverkennbar an ägyptischen Statuen orientiert. Der orientalisierende Vasenstil mit Ornamenten und Pflanzen, Voluten, Rosetten, Palmetten und Lotosblüten löst den geometrischen Stil ab. Nun gibt es auch Tierdarstellungen, wie Löwen und Panther, also Tiere, die die Griechen nie sahen. Das Haushuhn wird jetzt eingeführt. Anders als bei den Verdienstfesten der homerischen Zeit beginnen die zum Gastmahl, zum Symposien, Geladenen, jetzt zu liegen. Es geht nun nicht mehr nur ums Essen: In komplizierten Trinkritualen, bei Spielen, Wettbewerben in Rede und Dichtung, Gesang und Tanz und in Begleitung von Hetären feiern wohlhabend gewordene Schichten, die nach aristokratischen Idealen streben, sich selbst. Viele semitische Lehnwörter für Dinge der materiellen Kultur, wie Gefäßformen, Kleidung, Fischfang und Schifffahrt finden nun Eingang ins Griechische. Griechische Söldner kämpfen in ägyptischen und babylonischen Diensten. Von den Lydern lernen die Griechen wahrscheinlich die Geldwirtschaft kennen.
Der entscheidendste Impuls aus dem Osten war jedoch die Übernahme der Schrift von den Phöniziern. Wer auch immer sie vornahm, muss perfekt zweisprachig und ein großes Gefühl für beide Sprachen gehabt haben. Als Ort der Übernahme wird man sich Al Mina vorstellen dürfen. Die Griechen verwenden einige Buchstaben der reinen Konsonantenschrift der Phönizier, die sie in ihrer Sprache nicht brauchen, nun als Vokalzeichen, die im Griechischen so wichtig sind, und kreieren sich damit ein sehr subtiles Schriftsystem, das sehr bald nicht nur zur Magazinierung und zu Handelszwecken eingesetzt wird, sondern auch zum Niederschreiben von bis dato mündlicher Epik, von Lyrik, Gesetzestexten und Geschichtsschreibung. Dieser Medienwechsel stellt tatsächlich einen Quantensprung im Geistesleben der Griechen dar.
Die Schrift fand zwischen 750 und 650 durch den Handel rasche Verbreitung in allen Gesellschaftsschichten, womit der Alphabetisierungsgrad im klassischen Griechenland höher als im römischen Kaiserreich war. Das früheste griechische Schriftzeugnis ist eine Hexameterzeile auf einer Dipylonkanne aus Athen und der Nestorbecher aus Pithekoussai. Erinnern wir uns auch daran, dass die olympischen Sieger seit 776 v. Chr. bezeugt sind, dass man also die Sieger aufzeichnete, sobald man das neue Medium zur Verfügung hatte. Die Gründungsdaten der sizilischen Kolonien werden ab 734 aufgezeichnet, die athenischen Archonten seit 683.
Die mentalen Folgen dieses revolutionären Medienwechsels sind gar nicht zu überschätzen. Die Entstehung der griechischen Philosophie und des Verfassungsdenkens war nun möglich. Dadurch, dass es sich beim griechischen Alphabet um eine säkulare Schrift handelte, die nicht z.B. an eine Priesterkaste gebunden war, konnte es auch nicht zu einer Monopolisierung der Schriftlichkeit durch einige Wenige kommen. Dieser demokratische Grundzug der griechischen Schrift erklärt, warum sie zum Katalysator für viele gesellschaftliche Entwicklungen werden konnte: Durch die Förderung des logischen und rationalen Denkens, die Förderung des Individualismus und die schriftlich fixierte Rechtsprechung war es schließlich möglich, den Weg hin zur Demokratie zu beschreiten.

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07 – Krise und Entstehung der Polis

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

07 – Krise und Entstehung der Polis

Um 750 v. Chr. kommt Bewegung in die griechische Welt. Die Griechen erwachen plötzlich auf allen Gebieten: Politik, Tempelbau, Architektur, Vasenmalerei, Bildhauerei, Schrift und damit verbunden individuelle Dichtung und auch Philosophie. Durch die Einführung der Geldwirtschaft und den zunehmenden Handel wird die Gesellschaft auch viel mobiler als vorher. Mit diesen Errungenschaften geht aber auch eine tiefgreifende Krise einher, die die griechische Welt im Laufe der archaischen Zeit grundlegend veränderte. Das starke Bevölkerungswachstum stellte die Griechen vor bis dato ungekannte Probleme.
Zwei Lösungsversuche trugen ihrerseits zu einem beschleunigten Wandel in der Sozialstruktur bei, zum einen die Kolonisation, die ihrerseits wieder die allgemeinen Trends verstärkte und auf die wir im nächsten Podcast eingehen werden, zum anderen die Entstehung der Polis, die wir heute behandeln werden, und die entscheidend diese dynamische Umbruchs- und Achsenzeit prägte. Zu Beginn der archaischen Epoche war Griechenland noch rückständig und lag kulturell weit hinter dem Orient zurück. Am Ende der Archaik war Griechenland auf allen Gebieten führend und distinkt eigenständig gegenüber dem Osten. Die Krise hatte also durch die Produktivkräfte, die sie freisetzte, durchaus auch positive Folgen.
Ausganspunkt ist, wie gesagt, das starke demographische Wachstum und damit einhergehend Landnot, Armut und Elend. Immer mehr Weidefläche wird nun zu Ackerland umgewandelt. Die Großviehzucht geht dramatisch zurück. Die Landwirtschaft intensiviert und spezialisiert sich und wendet sich immer mehr von der Selbstversorgung ab. Dafür müssen nun große Mengen Getreide aus dem Schwarzmeergebiet importiert werden. Der rege Güteraustausch wird durch das Aufkommen der Geldwirtschaft ermöglicht. Damit werden auch Landparzellen veräußerbar. Diese Mobilität des Grundbesitzes hat enorme Auswirkungen auf die Sozialstruktur.
Viele verlassen nun auch die Landwirtschaft und wenden sich Handel und Gewerbe zu und kommen damit zu Reichtum, was das Sozialsystem weiter verändert. Einigen Familien gelingt es nun, Reichtum auf sich zu konzentrieren, v.a. durch Handel; andere verlieren Besitz und sacken in der sozialen Hierarchie ab. Es wurde leichter, sozial auf-, aber auch abzusteigen. Sozialprestige konnte nun also auch mit Geld errungen werden, was oftmals eine mangelnde adelige Abkunft kompensierte. Selbstverständlich betrachtete die alte Adelsschicht diesen Aufstieg der Neureichen mit großer Sorge. Sie suchte sich durch ein neues Kriterium, die vornehme Geburt, die man sich eben nicht kaufen konnte, nach unten, d. h. gegenüber den neureichen Aufsteigern abzuschotten, was jedoch nicht gelang. Wir können durchaus von einem neuen Geldadel sprechen. Die Gesellschaft wurde also horizontal wie vertikal flexibler und mobiler, was auch zu einem Desintegrationsprozess im Adel führte, der als krisenhaft empfunden wurde. Gleichzeitig gab es auch Unmut von unten. Der demographische Druck hielt weiter an, Land war trotz Kolonisation knapp. Die Landparzellen wurden immer kleiner. Bei Missernten reichte es oft nicht mehr zum Lebensnotwendigen.
Mit der Geldwirtschaft kam automatisch auch das Schuldenmachen und das Zinsnehmen auf. Man verschuldete sich also immer mehr bei reichen Geldgebern, d.h. meist beim Adel. In Extremfällen konnte dies zum Verlust des kleinen Grundstücks führen und sogar zur Schuldknechtschaft, d.h. ursprünglich freie Griechen mussten sich als Art Sklaven beim reichen Großgrundbesitzer verdingen, um ihre „Schuld“ abzubezahlen. Dies ist jedoch nur der wirtschaftliche Aspekt. Ein wichtiger jurisdiktioneller Grund kommt hinzu: Die Reichen hatten die Rechtsprechung monopolisiert und fällten Urteile, die für sie opportun und von Interesse waren, d.h. oftmals zu Gunsten der reichen/adeligen Gläubiger und zu Ungunsten der armen Schuldner. Ihre Wut wird man sich vorstellen können. Hesiod spricht von krummen Urteilen. Der Ruf nach einer Entschuldung und sogar einer Neuaufteilung des Bodens wurde immer lauter. Hier setzte Solon an, auf den wir im Kontext der Entwicklung in Athen noch eingehen werden. Um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, kam es ab ca. 750 v. Chr. zu einer Welle von Gesetzeskodifikationen, die den Unterschichten mehr Rechtssicherheit geben sollten. Es muss aber gleichzeitig betont werden, dass die absolute Verarmung nur Wenige traf, mit Sicherheit eine Minderheit, denn sonst hätte man ja keine Hoplitenphalanx aufstellen können.
Keinesfalls kann also von einer Dichotomie zwischen Armen auf der einen und reichen Adeligen auf der anderen Seite gesprochen werden. Die archaische Gesellschaft war bereits komplex und relativ weit ausdifferenziert. Wir haben es mit einer sehr heterogenen Protestbewegung zu tun aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Zielen. Während die wohlhabenderen, nichtadeligen Freien nach mehr politischer Partizipation strebten, gerade weil sie sie Hauptlast im Krieg als Hopliten tragen mussten, ging es den Ärmeren weniger um politische Teilhabe als vielmehr um Entschuldung und eine Neuverteilung des Landes. Um Verfassungsfragen wie um die Gesellschaftsordnung wurde also heftig gestritten. Der Raum dieser Auseinandersetzungen war nun, aufgrund des Bevölkerungswachstums, eine dichter bebaute Siedlung, die sich auch öffentliche Einrichtungen gab, die Polis. Wir können sie definieren als eine städtische Siedlung, oft auf einer befestigten Anhöhe, in der auch der Adel wohnt. Zur ihr gehört auch ein landwirtschaftliches Umfeld, doch die politischen Entscheidungen werden in der Stadt getroffen, in politischen Institutionen, für die entsprechende Bauten geschaffen werden: Ein öffentlicher Platz, die Agora, ein Gebäude für den Rat der Ältesten und Tempel für die gemeinsame Kultausübung, aber auch Straßen und eine Stadtmauer. Die Polis ist die örtliche Konzentration des politischen, wirtschaftlichen, religiösen und geistigen Lebens. Sie ist die oberste staatliche Einheit für ihre Bewohner. Gleichzeitig bezeichnet der Terminus auch die politische Verfasstheit, die in Gesetzen ihren Ausdruck findet. Über der Polis-Ebene gibt es nur ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Polis ist also grundsätzlich politisch autonom und wirtschaftlich autark. Daher ist sie auch als Mikro-Staat so exzellent zu untersuchen, v.a. aufgrund der Schriften des Aristoteles und Platons. Selbstverständlich existieren stammstaatliche und monarchische Herrschaftsformen parallel zur Polis weiter. Dennoch ist sie in ihrer zentralen Bedeutung für den mediterranen Kulturkreis überhaupt nicht zu überschätzen. Ab dem Hellenismus und der Ausbreitung der Polis bis nach Indien durch die Eroberungszüge Alexanders des Großen wird die Polis zum Inbegriff griechischen, urbanen Lebens. Das Konzept wird dann auch von den Römern übernommen. Wer nicht in Poleis lebt, lebt offenbar in Dörfern und Stammesverbänden und ist demnach ein Barbar. Mediterrane, d.h. zivilisierte Menschen leben dagegen in Städten. Die Entstehung der Polis ist im Detail noch immer unklar, doch brachten Ausgrabungen erhebliche Fortschritte.
Der Motor aller Entwicklungen war das starke demographische Wachstum an der Wende vom neunten zum achten Jahrhundert. Drei Phänomene sind für uns archäologisch greifbar. 1. Alte Siedlungen wachsen. 2. Neue Siedlungen werden gegründet. Die Kolonisierung scheint von Beginn an in Form der Polis von statten gegangen zu sein. 3. Manche Siedlungen werden aufgegeben (Lefkandi, Zagora auf Andros, Emporion auf Chios) und mit anderen zusammengelegt (Binnenkolonisation oder Synoikismos). Diese Konzentrationsprozesse fanden im Wesentlichen im siebenten statt.

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Quellen-Hinweise
Sehen Sie zu diesem Podcast auch die Quellen zur archaischen Krise. Alle Quellen enthalten einen Leitfragen- und Kommentarbereich zum besseren Verständnis des Textes.
Hier geht’s zu den Quellen

 

 

 

 

06 – Die Dunklen Jahre

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

06 – Die Dunklen Jahrhunderte

Wir gehen im Folgenden bei der Behandlung der Dunklen Jahrhunderte exemplarisch auf das Fürstengrab von Lefkandi ein, anschließend auf die Homerische Gesellschaft, also die Gesellschaft, die in den Epen entworfen wird und in etwa der Gesellschaft des achten und frühen siebenten Jahrhunderts entsprochen haben dürfte, also der Archaischen Gesellschaft.
In Euböa ist ein gewisser Aufschwung schon ab dem 11. Jh. zu greifen, der Handel mit dem Orient ist intensiv. In einer Notgrabung in Lefkandi kam 1981 ein prunkvolles Fürstengrab zum Vorschein, ein 45m langes Haus, 10m breit, offenbar aus dem 10. Jh. Das Haus war schon vor der Bestattung ca. 950 v. Chr. eingestürzt.
Ein Mann und eine Frau wurden hier mit einem Pferd in einem Tumulus bestattet, der im Haus aufgeschüttet wurde. Ganz klar handelt es sich um eine Bestattung innerhalb der Oberschicht. Eine Eisenklinge, eine Pfeilspitze und ein Schwert deuten auf eine Kriegeridentität hin. Die junge Frau war mit Goldschmuck bestattet worden. Eine weitere Grabkammer enthält vier Pferde. Diese Fürstenfamilie von Lefkandi war also reich, gesellschaftlich herausgehoben und pflegte intensive Kontakte zum Orient. Östlich vom Fürstengrab befindet sich ein Gräberfeld mit ebenfalls wohlhabenden Bestatteten. Dieses Gräberfeld ist auf das Heroengrab hin ausgerichtet. Beisetzungen fanden hier bis ins neunte Jahrhundert hinein statt. Wir greifen hier also eine differenzierte Sozialstruktur: Die Elite im Tumulus, die reicheren Gemeindemitglieder nahebei. Lefkandi ist reicher als jede andere Siedlung im Griechenland jener Zeit, was Euböa als Drehscheibe für den Orienthandel einmal mehr bestätigt. Wichtig ist, dass es also auch in den sogenannten Dunklen Jahrhunderten durchaus fürstliche Herrschaftsformen gab, die den bei Homer geschilderten ähneln. Für diese frühe Zeit ist keine mündliche Sagenkunst belegt, aber es ist möglich, dass an diesen Fürstenhöfen die ersten Heldenlieder mündlich vorgetragen wurden, die homerischen Gesänge also in diesem Kontext ihren Sitz im Leben haben.
Ich komme zur Gesellschaft des achten und siebenten Jahrhunderts und folge hier im Wesentlichen den Ausführungen Fritz Gschnitzers in seiner „Griechischen Sozialgeschichte“. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Gesellschaft um eine Aristokratie; alles basiert auf Nah- und Treuverhältnissen. Die Verhältnisse sind noch einfach, eine grundlegende Unterscheidung betrifft die Einteilung dieser Gesellschaft in Freie und Unfreie. Bei den Freien wird zwischen Einheimischen und Fremden unterschieden. Wir gehen nun von oben nach unten, also vom König über den Adel zum Volk. Schließlich gehen wir auch noch auf Abhängige und Sklaven ein.
Die Stellung des Königs ist relativ schwach, sie ist nur ein wenig aus dem Kreis der Adeligen herausgehoben. Der König überragt seine Standesgenossen an Reichtum und Macht, ist aber vom Adelsrat abhängig. Er ist als Geschäftsführer der Gemeinde auch für die Kriegführung zuständig. Daneben erfüllt er auch sakrale Funktionen und übt die Rechtsprechung aus. Seine Stellung ist erblich.
Der Kriegeradel ist einem strengen Ehrenkodex verpflichtet. Sich vor allen anderen auszuzeichnen, immer der Beste zu sein und die anderen zu überragen ist die Leitvorstellung, die die Ilias vorgibt (6.208; 11.783f.). Arete, also die Bestheit, gilt als Tugend. Status muss immer erkämpft und behauptet werden, einen Erbadel gibt es nicht vor dem Ausgang der Archaik, als der Adel sich nach unten abschließen will. Noch ist es entscheidend, dass man so herausragt, dass einem die Gemeinschaft Ehre erweist, das ist die time. Zu dieser Adelsethik gehört auch, dass die homerischen Helden die Handarbeit noch nicht scheuen. Sie arbeiten auf dem Feld mit und können auch zimmern.
Eine wichtige Institution ist die Gastfreundschaft nach außen, die Proxenie, die auf Gegenseitigkeit beruht und sich vererbt. Der griechische Adel ist also von Anfang an international. Die Adeligen holen sich ihre Frauen häufig aus dem Ausland und stärken so ihre internationalen Verbindungen. Nach innen sind die Verdienstfeste von entscheidender Bedeutung. Die Adeligen laden ihre Gefährten, ihre hetairoi, zu Gastmählern nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit ein. Nah- und Treuverhältnisse werden hier nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch begründet und ständig erneuert. Bei Raubzügen ist man auf die Kooperation seiner Standesgenossen angewiesen. Ein erfolgreicher und damit angesehener Adeliger musste also gut im Networking sein.
Die Hauptbeschäftigungen dieser Aristokraten waren Krieg, Raub und Jagd, aber auch Spiel, Gesang und Tanz. Feine höfische Sitte gehörte auch dazu. Wenn die Adeligen nicht im Krieg oder auf Beutezügen waren, dann maßen sie sich in sportlichen Disziplinen, wie etwa Wagenrennen, Faustkampf, Ringkampf, Wettlauf, Diskus- und Speerwerfen. Schon hier sieht man die Wettbewerbsethik der Griechen, ihre agonale Kultur und es verwundert nicht, dass die Olympischen Spiele angeblich 776 v. Chr. einsetzen, also schon zu Beginn der Archaischen Zeit.
Wir kommen nun zum Volk, also zu den nichtadeligen Freien. Sie untergliedern sich in Grundbesitzer und Grundbesitzlose. Politische Rechte sind faktisch auf die Grundbesitzer beschränkt. Eine Volksversammlung wird nur gelegentlich einberufen. Manchmal berät der Adelsrat auch vor dem Volk. Doch nur die Vornehmen ergreifen das Wort. Das Volk ist im Wesentlichen auf eine Zuschauerrolle beschränkt und äußert seine Meinung durch Schweigen, Murren oder Beifall. Die Volksversammlung erfüllt also eine Akklamationsfunktion.
Der Begegnungsraum zwischen Adel und Volk ist die Polis, die bei Homer schon deutlich zu greifen ist, v.a. in der Odyssee. Das Volk kämpft schwerbewaffnet im Krieg mit, allerdings zu Fuß. Die Frühform der Phalanx kommt bei Homer, realistischerweise, neben dem adeligen Einzelkampf vor.
Eine eigene Gruppe sind die Handwerker, die Demiurgen, die, obgleich grundbesitzlos, wichtige Aufgaben für die Allgemeinheit erfüllten, wie etwa Schmiede und Töpfer. Neben den sesshaften Handwerkern gab es auch fahrende Leute, die Spezialwissen anboten: Sänger, Seher, Ärzte, Herolde, Zimmerleute, Kunst- und Lederarbeiter und auch Kaufleute. Diese wandernden Menschen hatten eine ambivalente Stellung in der Gesellschaft, ihre Berufe waren erblich.
Unter den Grundbesitzern und den Handwerkern stehen die Grundbesitzlosen, die sich oftmals als freie Lohnarbeiter, Theten, verdingen müssen. Sie sind fast so verachtet wie Bettler. Eine Sonderstellung kommt den Fremden zu. Sie sind nicht rechtlos, stehen unter dem besonderen Schutz des Zeus, haben es aber schwerer, ihr Recht in der Fremde durchzusetzen.
Rechtlos waren die Sklaven. Der Ursprung der Sklaverei lag in der ganzen griechischen Geschichte immer in der Kriegsgefangenschaft.
Wurde eine Stadt erobert, wurden die Männer meist getötet, Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt, wurden also wie Beute behandelt. D.h. es gab viel mehr Sklavinnen als Sklaven. Männliche Sklaven, die in den Haushalten heranwuchsen, dienten oft als Hirten, Handwerker, manche wurden auch als Gutsverwalter eingesetzt. Neben diesen erworbenen Sklaven entstand in den Gebieten, in denen sich die neuen Eroberer (Dorer) die einheimische Bevölkerung abhängig gemacht hatten, eine Schicht von landsässigen Unfreien, die von der herrschenden Schicht streng geschieden waren: Das waren in Sparta die Heloten, in Kreta die Periöken, in Thessalien die Penesten. Homer erwähnt diese Großgruppen mit keinem Wort, da er ja die ruhmvolle Vorzeit der Helden schildern will.
Die archaische Gesellschaft gliedert sich in verschiedene soziale Gruppen. Kern sind die oikoi, die individuellen Haushalte. Die nächstgrößere Einheit ist der genos, also die Verwandtschaft, die mehrere Generationen zurückverfolgt werden kann. Ein genos umfasst mehrere oikoi.
Unterabteilungen des Stammes sind die Phylen. Es gibt drei dorische und vier ionische Phylen. Doch weisen sie keine überlokale Organisation auf und auch keine gentilizischen Unterabteilungen.
Die Phratrien, wörtlich Bruderschaften, sind Sozialverbände, die nicht auf Verwandtschaft beruhen. Vielleicht sind das die Gemeinschaften der hetairoi unter Führung einer oder zweier aristokratischer Familien, also eine Untergliederung der Phyle, aber eben nicht gentilizisch.
Deutlich erkennen wir Elemente der Kontinuität von der Archaischen zur Klassischen Zeit. An erster Stelle natürlich das Wertesystem. Hier ist Homer besonders wirkmächtig, dann die Kultur des Symposion, des vornehmen Gelages als Oberschichtenritual, das sich im Lauf der Zeit zusehends demokratisiert, und die Vorstellung von einer Gesellschaft als gift-giving society, also einer Gesellschaft, die sich wesentlich über den Austausch von Geschenken identifiziert, was den späteren Euergetismus und die Liturgien mitbegründen wird.

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05 – Homer

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

05 – Homer

Es ist leider völlig unmöglich, Homer und die vielen mit ihm verbundenen Fragen in wenigen Minuten zu behandeln. Ich möchte daher nur kurz und ganz überblicksartig auf zwei Themenkomplexe eingehen, welche die jüngsten Debatten bestimmen und in direkter Relevanz zu Troja stehen. Einmal die komplexe Frage, inwieweit die homerischen Texte die mykenische Vergangenheit widerspiegeln können, zum anderen, was es mit den provokanten Thesen Raoul Schrotts auf sich hat, die jüngst in den Medien breit und sehr kontrovers diskutiert wurden.
Niemand bestreitet, dass die homerischen Epen, die Ilias und die Odyssee, auf eine lange vorausgehende mündliche Sängertradition zurückgehen. Wie die Sänger und Rhapsoden genau arbeiteten und in welchem Verhältnis ihr Schaffen zu den Texten steht, die wir haben, kann hier leider nicht erörtert werden. Der Basler Gräzist Joachim Latacz geht davon aus, dass die stark formelhafte Hexameterdichtung durchaus in der Lage war, Sagengut auch in mündlicher Form über Jahrhunderte hinweg recht detailgenau zu tradieren. Er geht daher davon aus, dass der Troja-Stoff in mykenische Zeit zurückreicht und ist recht optimistisch, dass die Sage hier die Kunde von einem tatsächlichen Trojanischen Krieg bewahren konnte.
Dass die Sänger tatsächlich alte Erzählungen in großen Mengen erlernen und, leicht variierend, frei vortragen konnten, hat v.a. die oral poetry-Forschung gezeigt, die Milman Parry in den 30ern des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Als er die mündliche Heldendichtung der Guslare, der serbokroatischen Sänger untersuchte, stieß er auf eine noch lebendige mündliche Vortragskultur. Diese Sänger konnten aufgrund der immer wiederkehrenden Formeln riesige Textbestände ohne schriftliche Fixierung vortragen und waren stolz darauf, nicht zu reproduzieren, sondern die altbekannten Stoffe immer wieder neu und adressatengerecht zusammenzusetzen.
Es geht immer um Ehre, Rivalitäten unter Männern, die mit Macho-Gehabe ausgetragen werden, es geht um den Kampf um Frauen, Liebe, verletzte Frauen- und Männerehre usw., also durchaus um Themen, die in den homerischen Epen auch eine große Rolle spielen. Gerade die oral poetry-Forschung hat aber auch gezeigt, dass sich die Gesänge, so konservativ und starr sie auch sein mögen, sich doch im Laufe der Zeit verändern, weil sie sich immer dem Erwartungshorizont des jeweiligen zeitgenössischen Publikums anpassen müssen. Hier sind wir nun im Bereich der Rezeptionsästhetik. Die Sänger tragen vor, was das Publikum versteht und erwartet. Die Zuhörer müssen das Geschehen in ihre Welt einordnen können.
Langsam, beinahe unmerklich, verändern sich also die Gesänge und orientieren sich immer an der jeweiligen zeitgenössischen Realität oder der ihr unmittelbar vorausliegenden Vergangenheit. Die homerischen Epen können also nur ganz auszugsweise mykenische Realität bewahrt haben und beziehen sich überwiegend auf die Realität der beginnenden Archaik bzw. der ausgehenden Dunklen Jahrhunderte.
Anhand zweier berühmter Beispiele möchte ich in aller Kürze zeigen, dass Homer ein Amalgam kreiert, er also bewusst archaisiert, um seinem Text eine altertümliche Patina zu geben, er aber im wesentlichen seine Zeit beschreibt, wie ja schon oftmals von der Forschung beobachtet wurde.
Im zweiten Buch der Ilias listet Homer im sogenannten Schiffskatalog alle am Troja-Zug teilnehmenden Griechen auf. Könnte diese Liste auf die mykenische Zeit zurückgehen? Ja, würde Latacz sagen, denn die Liste ist Boeotien-zentriert, Mykene und Pylos spielen eine wichtige Rolle, zur Zeit des Dichters aber nicht mehr, also muss die Liste sehr alt sein. Zudem kommen Orte vor, die man später überhaupt nicht mehr identifizieren konnte. Dem ist entgegenzuhalten, dass wichtige mykenische Orte fehlen, wie etwa Midea oder Orchomenos, bei Korinth und Athen ist nicht zu entscheiden, ob der Dichter die mykenischen Orte meint oder die zeitgenössischen, denn hier bestand ja Siedlungskontinuität. Warum werden die wichtigen mykenischen Orte in Kleinasien nicht genannt? Zudem weisen die Orte einiger Protagonisten überhaupt keine Funde aus der Bronzezeit auf, wie man erwarten würde. Fazit: Diese Liste hat mit der Topographie der mykenischen Welt nur wenig zu tun, sondern spiegelt, archaisierend, die Verhältnisse im achten Jahrhundert wider. Der Zweck ist nicht historische Akkuratesse, sondern ein literarischer, die Vorstellung der griechischen Helden. Die Liste besteht wahrscheinlich aus verschiedenen Listen und wurde von verschiedenen Redaktoren verfasst, die Vorlagen sind unbekannt.
Mein zweites Beispiel sind die sog. Mykenaika, also mykenische Gegenstände, wie etwa der berühmte Eberzahnhelm des Meriones, Bronzewaffen und Streitwägen, der Taubenpokal des Nestor, der turmähnliche Schild des Aias, das Vergolden der Hörner von Opferrindern. All diese Funde lassen sich aber auch ins erste Jahrtausend datieren. Oder man machte Funde bei der Grabräuberei, oder aber diese wertvollen Gegenstände waren im Familienbesitz und wurden von Generation zu Generation vererbt. Manche mögen im achten Jahrhundert auch noch in Gebrauch gewesen sein. Aufgrund der archaisierenden Tendenz blendet der Dichter bewusst auch viel Zeitgenössisches aus, wie das Reiten, die Schrift oder das Söldnerwesen, aber er beschreibt definitiv nicht die mykenischen Paläste und deren komplexe und hoch spezialisierte Wirtschafts- und Arbeitsweise. Viele Realia gehören eindeutig ins achte Jahrhundert: Die Massenkämpfe in Phalangen, die Polis, zum Teil auch mit ihren Institutionen, wie etwa die Volksgerichtsbarkeit, und die Eisenwerkzeuge. Die Dichtung ist also ein Amalgam aus verschiedenen Epochen, wobei die Betonung nicht einmal auf Mykene liegt.
Ich möchte im Folgenden auf die umstrittenen Thesen des österreichischen Literaturwissenschaftlers und Autors Raoul Schrott eingehen, die er in seinem 2008 erschienenen Buch „Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe“ vorgelegt hat. Homer sei demnach ein griechischer Schreiber in assyrischen Diensten gewesen und habe in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts in Kilikien gelebt und gearbeitet. Er sei also ein griechisches Migrantenkind gewesen und in der griechischen Diaspora im assyrischen Herrschaftsbereich aufgewachsen. Troja sei denn auch nicht in der Troas zu suchen, sondern sei vielmehr in der Südosttürkei zu lokalisieren, genauer in Karatepe. Ich möchte ganz kondensiert die Hauptthesen Schrotts referieren und dann kurz aus meiner Sicht auf sie eingehen:
Vieles bei Homer sei orientalisch geprägt, die Kulturkontaktzone zwischen Ost und West sei Kilikien gewesen. Die Fachwissenschaften dächten in Schubladen und würden die anatolischen bzw. orientalischen Hintergründe ausblenden. Die Beschreibung Trojas bei Homer passe besser zu Karatepe in Kilikien als zu Hissarlik. Etymologisch sei vieles bei Homer aus dem Assyrischen abzuleiten. Die Ilias wird bei Schrott zum Schlüsselroman: Die Assyrer seien die Vorlage für die angreifenden Griechen gewesen, die Trojaner demnach die einheimischen Kilikier. Homer beschreibe also letztendlich Kämpfe zwischen Assyrern und Kilikiern.
Diese Thesen wurden, soweit ich sehe, fast einhellig von der Forschung abgelehnt, übrigens auch von beiden Seiten des Troja-Streites, nur mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Vorsichtigen Zuspruch hat Schrott bislang nur von den Althistorikern Christoph Ulf und Robert Rollinger erfahren, die Schrotts Thesen als Anregung verstehen, sich wieder verstärkt mit den orientalischen Vorgaben auseinanderzusetzen und von Walter Burkert, einem der besten Kenner der orientalisierenden Epoche, der seine Reaktion in der rhetorischen Frage: Warum nicht Karatepe, bündelte.
Ich versuche nun, die Gegenargumente der Forschung zu bündeln und mit einigen eigenen Überlegungen zu versehen: Der große Medienhype war meines Erachtens übertrieben. Man schmälert Homers Leistung nicht, wenn man ihn von West- nach Ostanatolien verlegt. Bislang hat man ja Ionien, vielleicht sogar Smyrna als seine Heimat angenommen. Auch nach Schrott bleibt Homer ja muttersprachlich ein Grieche.
Schrotts Thesen lösen immer noch nicht die Frage nach der Historizität des Trojanischen Krieges. Schrott löst also nicht so viel wie er vorgibt. Mein größter Einwand ist die Frage nach dem geistigen Umfeld, das ein Dichter braucht, so genial er sein mag, um die alten Sängertraditionen zur Großleistung der Ilias zusammenzufassen und grundlegend zu redigieren. Ist es vorstellbar, dass so ein Werk in der Diaspora, in Kilikien entsteht? Rezeptionstheoretisch gesprochen: Ist überhaupt ein Publikum für so ein Monumentalwerk in der griechischen Diaspora vorhanden? Warum schreibt Homer, wenn er schon bilingual war, nicht gleich Assyrisch, für den assyrischen Königshof? Hätte er damit als Migrantenkind nicht besser vorankommen können? Schrotts Kritik, dass die Fachwissenschaften Scheuklappen hätten und sich nicht mit den orientalischen Vorlagen beschäftigen, ist schlichtweg falsch. Forscher wie Walter Burkert, Christoph Ulf, Martin West und v.a.m. haben immer wieder auf die östlichen Traditionen hingewiesen. Es gibt viel Forschungsliteratur dazu, auch interdisziplinäre Tagungen haben immer wieder stattgefunden. Meines Erachtens spricht nach wie vor sehr viel für Ionien als die Heimat Homers. Dort fanden die Kulturkontakte zwischen Ost und West, die Homer brauchte, genauso statt wie in Kilikien. Homer konnte sich dort genauso von der Dichtung des Zweistromlandes inspirieren lassen wie in Kilikien. Und vergessen wir nicht: Die Griechen erwachen geistig in Ionien. Kurz nach den homerischen Epen entsteht dort die vorsokratische Philosophie, später dann auch die Geschichtsschreibung. Thales kommt aus Milet, eben nicht aus Karatepe. Ionien war der Nährboden für den griechischen Geist. Große Werke können immer nur in einem fruchtbaren geistigen Umfeld geschaffen werden. Viele Dinge mussten zusammen kommen, um einen Kultursprung wie die Verschriftlichung der homerischen Epen zu ermöglichen. Ob die Diaspora im Osten, am Rand der griechischen Welt, der geeignete Ort dafür war?
Nun zur Beschreibung Trojas, die besser auf Karatepe passen würde: Die Hissarlik-Befürworter finden genau so viele, wenn nicht mehr Hinweise bei Homer, die genau auf die Troas passen und auf Hissarlik. Das Problem ist, dass Homer eine literarische Landschaft entwirft, keine historische. Viele kleinasiatische Städte könnten Troja sein, sie haben Stadtmauern, Quellen, Flüsse im Umland usw.. Die Etymologien bei Schrott sind oft gewagt und sprachwissenschaftlich keinesfalls abgesichert. Der Stoff wird nach Schrott in Kilikien orientalisiert und wandert dann nach Griechenland, wo er begeistert rezipiert wird. Wenn aber alles so kilikisch und assyrisch ist, warum benutzen die Griechen dann diesen Text zur Identitätsstiftung? Für sie waren die homerischen Helden der Inbegriff des Griechentums.
Das nächste Problem ist, das Epos als Schlüsselroman zu lesen, also die Griechen als Assyrer zu verstehen, die Trojaner als Kilikier. Das kann so nicht richtig sein. Die gesamte Welt, die Homer beschreibt, ist griechisch. Selbst die Trojaner denken und handeln wie Griechen. Griechen und Trojaner teilen eine gemeinsame Wertewelt. Man hat versucht, Priamos und den Trojanerhof luwisch bzw. hethitisch zu verstehen, das ist aber gescheitert. Der trojanische Königshof funktioniert wie ein griechischer Palast.
Schrott widerspricht sich zudem selbst. Einmal seien die Informationen, die Homer liefert, exakt. Er sei ein Protohistoriker, ein Protogeograph. Dann aber, wenn einige Informationen, die bei Homer zu finden sind, nicht ins Schrottsche System passen, befleißige sich Homer der poetischen Fiktion, er sei ein Dichter, man dürfe nicht alles auf die Waagschale legen. Schrott geht also weitgehend intuitiv und spekulativ vor. Schrotts Argument, dass er bislang nicht widerlegt werden konnte, überzeugt nicht. Wie auch? Er kann ja auch die Gegenseite, den mainstream der Forschung, nicht widerlegen.
Die Beweislast liegt doch bei demjenigen, der eine rund zweihundertjährige Troja- und Homerforschung verschiedener Disziplinen als grundlegend falsch erweisen will. Man wird also dabei bleiben müssen: Homer stammt wohl aus Ionien, schreibt in einer hoch kultivierten griechischen Umgebung, aus einem griechischen Blickwinkel heraus, hat aber starke Kulturkontakte in den Orient, die er fruchtbar in sein Werk einbaut und die wir tatsächlich verstärkt interdisziplinär untersuchen müssen. Es ist bezeichnend, dass dieser neuerliche Streit um Troja und Homer bislang im Ausland fast nicht rezipiert wurde.

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04 – Der Untergang Mykenes, Troja

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

04 – Der Untergang Mykenes, Troja

Um 1200 sehen wir die mykenische Welt im Niedergang begriffen. Dabei passiert nicht alles gleichzeitig, Pylos wird beispielsweise früher zerstört als Tiryns und Mykene. Der Niedergang ist ein langwieriger Prozess, der sich über 150 Jahre lang hinzieht und ist auf jeden Fall multikausal zu verstehen. Früher war man der Meinung, dass Eindringlinge von außen, die Dorer die Zerstörungen verursachten, und tatsächlich greifen wir mancherorts Neuankömmlinge. Zudem geht zeitgleich auch das Hethiterreich unter; es finden also tatsächlich große Bevölkerungsbewegungen im östlichen Mittelmeerraum statt.
Sie leiten die sogenannten Dunklen Jahrhunderte ein. Die archäologischen Befunde sind alles andere als einheitlich. Es gab Zerstörungen, das Auflassen von Siedlungen (z. B. Gla, Krisa), aber auch immer wieder Neuanfänge. Lefkandi scheint in dieser Zeit geradezu zu wachsen. Wahrscheinlich richten zuerst die Seevölker, die im Alten Testament als Philister auftauchen, die ersten Zerstörungen an und ziehen dann weiter. Es fällt auf, dass man auf den Kykladen keine Zerstörungshorizonte aus dieser Zeit findet. Waren die Kykladen also die Basis der Seevölker? Danach stoßen indoeuropäische Neuankömmlinge in das Machtvakuum vor. Wir sollten hier noch nicht gleich von Dorern sprechen, denn die Ethnogenese findet wohl erst in Griechenland statt. Das Verhältnis der Neuankömmlinge zu den Mykenern ist schwierig zu fassen. Zum Teil gab es kriegerische Auseinandersetzungen, auch Umgruppierungen der bestehenden Bevölkerung sind möglich. Mancherorts bleibt die mykenische Kultur unberührt, wie z. B. in Attika. Erst jetzt bilden sich die späteren griechischen Dialekte heraus. Die mykenische Staats- und Gesellschaftsstruktur löst sich auf, und mit ihr verschwindet auch Linear B. Wie lassen sich nun die großen Bevölkerungsbewegungen bzw. der starke Bevölkerungsrückgang in manchen Gebieten erklären? Messenien verliert in jener Zeit rund 90% seiner Einwohner. Wahrscheinlich gab es Naturkatastrophen, wie Erdbeben, und Ernteausfälle aufgrund von Dürren. Aufgrund knapper werdender Nahrungsmittelressourcen muten innere Auseinandersetzungen plausibel an, also Aufstände der unterdrückten Bevölkerung gegen die Palasteliten, bürgerkriegsähnliche Szenarios und natürlich auch Kriege zwischen den mykenischen Herrschaftsbereichen. Eindringlinge von außen sind ebenfalls nicht zu leugnen, sie profitierten wohl von der Schwäche der mykenischen Gemeinwesen. Doch auch diese Invasionstheorie wirft ihre eigenen Fragen auf: Warum waren die mykenischen Streitwagenkämpfer den Angreifern aus dem Norden dauerhaft unterlegen? Brachten die Männer aus dem Norden wirklich eine neue Kampftechnik mit, die das Hethiterreich zu Fall brachte und sogar Ägypten in Bedrängnis brachte? Man wird sich eine komplexe Gemengelage von Gründen vorstellen müssen, mit mehreren Einwanderungsschüben, die mehr oder weniger kriegerisch verliefen und die mykenischen Herrschaftsgebilde aufgrund deren struktureller Schwäche zum Kollabieren brachte. Dabei müssen wir regional mit stark divergierenden Tendenzen rechnen. Die Katastrophe kam also nicht plötzlich, sondern ist das Ergebnis einer lang anhaltenden Instabilität.
Noch eine Überlegung der Mykenologen zum Abschluss: Meist reagieren Menschen auf Bedrohungen von außen mit Trotz und Widerstandsfähigkeit. Man versucht, das Zerstörte wieder aufzubauen. Hier geschieht dies nicht mehr. Die Untertanen der mykenischen Reiche scheinen den Glauben an diese Herrschaftsform verloren zu haben; sie konnten sich wohl nicht mehr mit der Palastwirtschaft identifizieren. Was also verlorenging, war der gesamtgesellschaftliche Basiskonsens, damit war der Untergang dieses Systems dann besiegelt. Man diskutiert auch heute noch viel über die Brüche bzw. Kontinuitäten von der mykenischen zur späteren griechischen Welt. Und ganz sicher gibt es einige Kontinuitätslinien, gerade im Bereich der Sprache und der Religion. Insgesamt aber ist die Gesellschaft, die wir aus den Tontäfelchen rekonstruieren können, um 1200 untergegangen, die Folge war ein enormer Kulturabfall.
Die materielle Verarmung ist archäologisch zu greifen, Linear B gerät in Vergessenheit, es folgt eine lange schriftlose Periode bis ca. 800/750 v. Chr. Diesen Zeitraum nennen wir die Dunklen Jahrhunderte.

Wir kommen zum nächsten großen Abschnitt der Vorlesung, Troja – alte und neue Kämpfe.
Der Trojanische Krieg gehört zum Grundbestand europäischer Mythenerzählungen und europäischen Bildungsgutes sowie zu unserem kulturellen Gedächtnis. Seine höchst umstrittene Historizität und die damit zusammenhängenden Fragen sind aktueller denn je, wie die Berichterstattung in den Medien gerade seit 2001 deutlich zeigt.
Ich möchte zunächst in einem ersten Schritt auf Troja eingehen, die Stadt und v.a. die Geschichte ihrer Ausgrabung. In einem zweiten Schritt möchte ich dann auf Homer und seine Dichtung und ihre spezifischen Probleme eingehen. In einem dritten Schritt möchte ich dann versuchen, diese beiden Ebenen zusammenzubringen. Sie werden sehen, dass dies nicht gelingen wird. Die Gründe hierfür werden lehrreich sein und die neueren Debatten um die Stellung und Bedeutung der Stadt am Skamander und die Herkunft Homers in einen größeren Kontext stellen. Um es vorweg zu sagen: Weder aus Sicht der Altphilologie noch aus Sicht der Archäologie oder Alten Geschichte kann von einem historischen Trojanischen Krieg die Rede sein. Vielleicht ist der Kern der Sage ein viel unspektakulärer Einwanderungsvorgang von Griechen in der Troas ab dem 11. Jh.

Zur Forschungs- bzw. Grabungsgeschichte:
Seit dem 11. Jh. n. Chr. suchten europäische Reisende Troja in den Ruinen von Alexander Troas bzw. Sigeion. Ab 1750 suchten Engländer unter dem Einfluss der Ilias-Übersetzung von Alexander Pope den Ort. Graf Choiseul-Gouffier ließ als französischer Gesandter an der Hohen Pforte die ersten Karten der Troas anfertigen. 1785 glaubte Jean-Baptiste Lechevalier, den Ort der Sage auf der Anhöhe Balli Dag gefunden zu haben, beim Dorf Pinarbasi. 1801 wies schließlich Edward Clarke aufgrund von Münzfunden nach, dass der Hügel Hisarlik, 4,5km von den Dardanellen entfernt, das antike Ilion war. 1822 kam Charles Maclaren, ein schottischer Verleger und Hobbyarchäologe, zum gleichen Ergebnis. Mit seinen Schriften inspirierte Maclaren den jüngsten Sohn der Familie Calvert, welcher der Hügel gehörte, zu eigenen Forschungen. 1863-1865 nahm Frank Calvert die ersten Probegrabungen vor und war überzeugt, Troja in Hisarlik gefunden zu haben. 1868 kam dann Heinrich Schliemann in die Troas. Er war Kaufmann, kein ausgebildeter Archäologe und kannte den damaligen Forschungsstand nicht. Frank Calvert machte ihn schließlich auf Hisarlik aufmerksam.
Schliemann entfaltete nun, zwischen 1870 und 1890, eine rastlose Ausgrabungstätigkeit, bei der er auch viel zerstörte, weil er schnell zum Felsen, zu den ältesten Schichten vordringen wollte. Allerdings muss man ihm zugutehalten, dass es noch keine Vorbilder gab, die Feldforschung noch in den Kinderschuhen steckte, und er auch im Laufe der Zeit besser wurde, wie seine Tagebücher zeigen. Schliemann war ein Meister der Selbstinszenierung und liebte kühne und voreilige Schlussfolgerungen. Er hielt die zweite Schicht für das Troja Homers und glaubte, den Schatz des Priamos gefunden zu haben.

Heute wissen wir, dass diese Schicht rund 1000 Jahre älter ist als die Schicht, in der ein vermeintlicher Trojanischer Krieg stattgefunden haben könnte. Nach dem Tod Schliemanns übernahm Wilhelm Dörpfeld die Grabung. Auch für Dörpfeld war die Historizität des Trojanischen Krieges nicht hinterfragbar. Er identifizierte aber Troja VI als die entscheidende Schicht. 1932-1938 gruben dann die Amerikaner unter Leitung von Carl Blegen von der University of Cincinnati. Insgesamt unterscheiden wir heute neun bzw. zehn Schichten mit ca. 50 Bauphasen als Untergliederungen. 1988 nahm der Tübinger Prähistoriker Manfred Korfmann die Grabungen wieder auf, in Zusammenarbeit mit der University of Cincinnati.
Seit Korfmanns Tod im Jahre 2005 steht die deutsche Grabung unter Leitung von Ernst Pernicka. Korfmanns Hauptbefund war, dass Troja VI eine große Untersiedlung im Süden und Osten der Zitadelle gehabt habe, eine Hypothese, die v.a. von Frank Kolb, Professor für Alte Geschichte in Tübingen, heftig angezweifelt wurde und noch immer wird. Bevor wir auf diese Kontroversen etwas näher eingehen, möchte ich in aller gebotenen Kürze die neun Schichten Trojas kurz vorstellen. Ich lehne mich hier an die Schriften des Kölner Archäologen Dieter Hertel an.
Troja I aus der 1. Hälfte des 3. Jahrtausends war ein kleines Dorf, das dem ägäisch-westanatolischen Kulturkreis angehörte.
Troja II weist mehrere Megara auf. Eine Untersiedlung war von einer Palisade umgeben. Hier fand sich der berühmte Schatz des Priamos.
Troja III-V ist dann weniger wohlhabend, in der Zitadelle sind die Häuser dicht gedrängt. In Troja III war die Mauer von Troja II wohl immer noch in Gebrauch. Troja IV weist nun eine Fläche auf, die sich im Vergleich zu den vorherigen Schichten verdoppelt hat. In Troja V wächst die Stadt weiter, es finden sich minoische Importe. Die Schichten III-V wurden von Schliemann stark zerstört. Diese fünf ältesten Schichten gehören der frühen Bronzezeit an. Die mittlere und spätere Bronzezeit umfasst die Schichten VI bis VIIb2 (1700-1020).
Troja VI ist dabei die größte und prächtigste Stadt, in der wir acht Bauphasen greifen können. Dörpfeld hielt Troja VI für das homerische Troja, das Troja der Ilias. Kern von Troja VI ist die Burg, die die Vorgängerbauten in den Schatten stellt. Die gewaltige Befestigungsmauer ist 550 Meter lang und hat einen Durchmesser von 220 Metern. Die Anlage im Inneren ist terrassenförmig. In der Mitte der Zitadelle gab es einen Palast und einen Kultbezirk. Die Häuser waren sehr groß. Die Häuser außerhalb der Mauer, die aber nah an die Mauer herangebaut waren, waren kleiner als die Häuser in der Zitadelle. Je näher man also an der Macht wohnte, desto größer wurden die Häuser. Korfmann glaubte in dieser Schicht eine Unterstadt bzw. Untersiedlung entdeckt zu haben.
Kolb stellt sich dieses Umland eher als Gartenland vor mit einzelnen Gehöften. Diverse Gräben und Mauerreste wurden von Korfmann zunächst als Annäherungshindernisse bzw. als weitere Stadtmauern gedeutet, eine These, die sich nicht halten ließ. Es ist schwierig, die Bevölkerungszahl von Troja VI zu berechnen, manche Forscher gehen heute von ca. 7000 aus. Korfmann wollte diese Stadt als orientalische Metropole verstanden wissen, als Residenzstadt und Handelszentrum. Doch ein Vergleich mit der Hethiterhauptstadt Hattusa lässt dies nicht zu. Vor allem fehlt in Troja der Beleg für buchhalterische Tätigkeit, Archive und Magazinierungspolitik. Troja muss also ein viel bescheidenerer Fürstensitz gewesen sein.
Obgleich die Architektur anatolisch ist, scheinen die Bande zwischen Troja und dem Hethiterreich nur schwach ausgeprägt gewesen zu sein. Fazit ist also: Troja VI war keine altorientalische Residenzstadt, kein spätbronzezeitliches Zentrum des Welthandels, sondern nur ein regionaler Mittelpunkt. Troja VI ging in einem Großbrand unter, allerdings finden sich keine Waffen. Die Stadt wurde wohl durch ein Erdbeben zerstört. Der Untergang datiert sich zwischen 1300 und 1250. Die Trojaner bauen nach dem Brand Troja wieder auf, Troja VIIa entsteht. Die Häuser sind nun allerdings kleiner, die Wände dünner als vorher. Die Besiedlung ist insgesamt dichter als in Troja VI. Es gibt keinen Kulturbruch, aber alles verläuft auf einem niedrigeren kulturellen Niveau. Auch Troja VIIa wird durch einen Brand zerstört (wohl um 1190/80), aber nur wenig deutet auf eine kriegerische Zerstörung hin. Es ist aber möglich, dass Feinde von außen, vielleicht die Seevölker, die Stadt niederbrannten. Leute aus dem Balkan ließen sich offensichtlich in Troja VIIb 1 nieder. Die Zäsur zur nächsten Schicht ist scharf. Blegen und Korfmann hielten übrigens Troja VIIa für das homerische Troja, eine These, die auch heute noch Anhänger findet. Beide Schichten von Troja VIIb zeigen eine neue, primitive Keramik, d.h. Menschen von außen müssen zugezogen sein, wahrscheinlich aus dem thrakisch-illyrischen Raum. Beide VIIb Schichten gingen in Bränden unter, die wieder nicht als kriegerisch verursacht einzustufen sind.
Einige halten aber VIIb 1 für das homerische Troja. Mit Troja VIIb 2, das sich nicht wesentlich von VIIb 1 unterscheidet, endet die Bronzezeit um 1020. Im Schutt von Troja VIIb, eine nähere Zuordnung ist leider nicht möglich, fand man ein luwisches Bronzesiegel, woraus Korfmann und der Klassische Philologe Latacz folgerten, dass man in Troja Luwisch sprach, also eine Sprache, die dem Hethitischen verwandt ist. Dies kann, muss aber nicht sein, denn das Siegel kann auch von außen nach Troja gelangt sein. Vielleicht darf man in Troja durchaus Mehrsprachigkeit annehmen, da es ja am Schnittpunkt von Kulturen lag.
Für Troja VI bis VIIb 2 liegt kein Hinweis auf eine mykenische Eroberung vor, es finden sich weder Rampenreste noch Schiffslagerbefestigungen an der Küste. Nur Troja VIIa könnte von Seevölkern oder Dardanern aus dem Balkan zerstört worden sein, nichts deutet auf ein mykenisches Koalitionsheer hin. Allerdings konnte Hertel zeigen, dass die Griechen den Untergang von VIIb 2 nutzten, um selbst auf Hisarlik zu siedeln. Troja VIII ist dann bereits eine griechische Stadt und markiert ab 950 den Beginn der Eisenzeit. Die Einheimischen wohnen nun mit Griechen zusammen. Altes steht neben Neuem. Die Mauer von Troja VI diente weiterhin als Bollwerk; den Griechen muss diese Mauer gewaltig vorgekommen sein.
Dies begünstigte natürlich die Sagenbildung. Troja IX ist dann die römische Stadt. Noch im 9. Jh. war die Stadt ein byzantinischer Bischofssitz (Troja X), bis ins 13. Jh. war sie bewohnt, dann wurde sie aufgelassen und verfiel.
Hertel stellt sich nun den Kern des Troja-Stoffes so vor: Griechen aus Mittelgriechenland versuchten im 11. oder 10. Jh. Troja VIIb 2 zu erobern, aber erfolglos. Die große, unüberwindbare Mauer blieb ihnen in dauerhafter Erinnerung. Erst durch ein Erdbeben waren die Trojaner dann so geschwächt, dass sie den Griechen nicht mehr Widerstand leisten konnten, die sich nun neben der einheimischen Bevölkerung niederlassen.
Ein leicht anderes Szenario ist ebenso plausibel: Es gab überhaupt keinen griechischen Angriffsversuch, weil die Mauern als unüberwindbar galten. Erst die Naturkatastrophe erlaubte eine weitgehend friedliche Landnahme der Griechen, die sich dann einen aitiologischen Mythos für die Landnahme schufen und diese heroisierten, also kriegerisch überhöhten. So könnte es natürlich gewesen sein, doch spricht dem entgegen, dass die Griechen Homers Troja zwar zerstören, dann aber gerade nicht dort siedeln, sondern wieder nach Hause fahren. Eine Landnahme ist mit den Epen gerade nicht zu erklären! Vielfach wurde angenommen, dass es mehrere mykenische Beutezüge in die Troas gegeben habe, die Homer dann zu einem einzigen Krieg kondensierte, so zuletzt von Korfmann geäußert.
Abgesehen davon, dass damit die Historizität des Trojanischen Krieges wieder vom Tisch ist, würde dieses Szenario voraussetzen, dass Troja für die Mykener ein lohnendes Ziel war, aber nach all dem, was wir heute wissen, war es das gerade nicht. Troja war gerade kein exponiertes, reiches und strategisch wichtiges Ziel. Gerade die jüngsten archäologischen Forschungen scheinen also die Historizität eines Trojanischen Krieges in noch weitere Ferne als je zuvor gerückt zu haben.

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03 – Die Mykener

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

03 – Die Mykener

In mittelhelladischer Zeit um 2000 v. Chr. wandern indoeuropäische Gruppen in Griechenland ein. Sie vermischen sich mit der einheimischen Bevölkerung, welche die späteren Griechen Karer oder Pelasger nennen, und werden später zu den mykenischen Griechen. Zur gleichen Zeit gelangen die vedischen Inder nach Indien und die Hethiter nach Kleinasien, es finden also große Bevölkerungsbewegungen statt. Sehr bald geraten die Mykener in den Einflussbereich der minoischen Kultur, doch unterscheiden sich die Mykener auch deutlich von den Minoern, v.a. was die Sprache und ihre Architektur anbelangt. Die Mykener, deren Schrift, Linear B, wir lesen können, sprechen eine frühe Form des Griechischen. Anders als die Minoer leben die Mykener in stark befestigten Burgen, deren Zentrum das Megaron bildete, eine Art rechteckiger Thronsaal mit zentralem Herdfeuer, das als Repräsentations- und Kultraum diente. Auf alle Fälle sind die Mykener also eine kriegerische Kultur. Auf den Fresken finden sich Jagdszenen, wir kennen ihre schwere Bewaffnung, und wir haben Kunde von ihren Streitwägen.
Die bedeutendsten Funde wurden in Mykene gemacht. Wichtig sind hier v.a. die Gräber. Das sogenannte Gräberrund B aus dem 17. Jh., das 30 Gräber enthält, ist noch relativ arm, doch im jüngeren Gräberrund A, das sechs Schachtgräber enthält mit weiteren Gräbern darin, wurden Prunkdolche gefunden, Schmuck, Waffen und Szepter. Am bedeutendsten sind die goldenen Totenmasken, allen voran die sogenannte Maske des Agamemnon, die Heinrich Schliemann fälschlicherweise dem legendären König Mykenes attribuierte. Bedeutsam ist, dass das Gräberrund A in die Palastanlage integriert ist, die Herren von Mykene also eine enge Verbindung zu ihren adeligen Vorfahren hatten. Die Lokalität so nahe am Löwentor unterstreicht die Prominenz dieser Toten und bestätigte täglich die herausgehobene Stellung der herrschenden Eliten.
Daneben gibt es wuchtige Kuppelgräber, auch Tholosgräber genannt, allen voran das sogenannte Schatzhaus des Atreus. Die eigentliche Grabkammer liegt in einem Annexgebäude zum großen Rundbau, das Gewölbe symbolisierte wohl den Kosmos. Ein Gang, Dromos, führt hin zur Tholos. Bei einer Beerdigung fanden hier schaurige Riten statt. Der Dromos musste aufgegraben werden, manchmal wurden in diesem Gang Pferde geopfert. Die Trauergemeinde zog dann mit dem Leichnam in die Tholos, um dort ein Totenmahl einzunehmen. Man findet Feuerspuren. Dann wurde die Leiche in den Annexraum zu den früher Verstorbenen gebracht, die Tholos geschlossen und der Dromos wieder zugeschüttet. Die Trauernden verließen also das Reich der Toten und kehrten wieder in ihre Alltagswelt, in das Reich der Lebenden zurück. Dieser exklusive Bestattungsraum markiert ganz klar den Elitestatus dieser Toten. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Toten und den Lebenden werden in diesem eindrucksvollen Bestattungsritual performativ dargestellt und dienen damit auch der dynastischen Legitimation der Herrschenden.
Wir gehen heute von elf Königtümern aus, die wiederum in Provinzen untergliedert waren. Diese Hauptresidenzen sind Knossos, Tiryns, Mykene, Midea, Pylos, Athen, Theben, Orchomenos, Gla, Iolkos in Thessalien und Sparta. Auch Argos war wichtig. Ganz Griechenland ist jedoch von mykenischen Siedlungen überzogen, diese Kultur ist also nicht nur in den Zentren präsent.
Wahrscheinlich sind diese Königtümer lauter Einzelherrschaften. Einen, wenn auch nur temporären Oberbefehl, wie Agamemnon ihn in der Ilias inne hat, erscheint zweifelhaft. Auch die Oberhoheit Mykenes ist keinesfalls bewiesen, die Abgrenzung der Herrschaftsbereiche unklar.

Die Linear B-Schrift
Als die Mykener die Herren von Knossos wurden, lernten Sie die Linear A-Schrift der Minoer kennen und übertrugen diese Schrift auf ihre eigenen Sprache, entwickelten also aus Linear A die Linear B-Schrift, die 1952 von Michael Ventris entziffert wurde. Linear B ist also eine Frühform des Griechischen.
Wir haben heute mehr als 5000 Täfelchen, überwiegend aus Knossos, Chania, Pylos, Mykene, Midea, Tiryns, Theben und Orchomenos. Bei Linear B handelt es sich um eine überregionale Schreibsprache, die ausschließlich für den palastinternen Gebrauch konzipiert war. Es handelt sich hauptsächlich um Inventarlisten von Wertgegenständen, Waffen und Geräten, von Ein- und Ausfuhr aus dem Palast, Kataster von Grundstücken und Listen von Palastbediensteten. Da die Schrift der griechischen Sprache nur schlecht angepasst war, konnte Literatur in unserem Sinne damit nicht geschrieben werden. Die Täfelchen waren ursprünglich nur luftgetrocknet, waren also nicht für die dauerhafte Aufbewahrung gedacht. Erhalten blieben sie nur, weil sie durch die Brände, welche die Paläste zerstörten, gehärtet und damit konserviert wurden. Oft stammt also das gesamte Aktenmaterial nur aus einem einzigen Jahr, nämlich dem Jahr des Untergangs. Wir erhalten also eine Momentaufnahme ohne Kontext, was die Interpretation erschwert. Dennoch lässt sich mit ihnen der Aufbau der mykenischen Gesellschaft recht gut erschließen. Es handelt sich um eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die komplexer als die des klassischen Griechenland war und sich eindeutig an den Palastkulturen des Vorderen Orients orientiert. Es ist sogar möglich, einzelne Schreiber zu unterscheiden. Ihr sozialer Rang war offenbar hoch, sie gehörten wohl zur Verwaltungselite.
Nun zur Schrift selbst: es handelt sich um eine Silbenschrift aus 87-91 Lautzeichen, je nach Zählung. Diese Silbenzeichen, die immer auf einen Vokal enden, nennt man Phonogramme. Daneben gibt es über 150 Ideogramme, also Zeichen, die die Sache selbst bedeuten. Es gibt auch Zeichen, die ein Wort wiedergeben, sogenannte Logogramme. Viele Ideogramme bezeichnen militärische Ausrüstungsgegenstände, Gefäße, Kleidung und landwirtschaftliche Produkte.

Mykenische Religion

Die mykenische Religion kennt zwar keine Gipfel-, Höhlen- und Baumheiligtümer, doch ist die religiöse Ikonographie der minoischen sehr ähnlich. Ganz sicher arbeiteten minoische Künstler in mykenischen Diensten. Die Doppelaxt als Symbol der Macht wurde von den Mykenern bereitwillig übernommen, allerdings fehlen Bilder der Ekstase und der Epiphanie und die damit verbundenen Kultobjekte wie Lustrationsbecken und Säulenkrypten. Den mykenischen Kriegsherren lagen ekstatische Trance-Zustände sehr fern. Das heißt, die Mykener pflegen einen sehr pragmatischen Umgang mit der Vorgängerkultur. Sie übernehmen, was sie zum Ausdruck ihrer religiösen Vorstellungen brauchen und verwerfen die Formen, die sie nicht benötigen.
Religion ist selbstverständlich eng mit den Herrschern verbunden, rituelle Handlungen konzentrieren sich auf das Megaron. Altäre stehen oftmals im Hof vor dem Megaron oder in der Vorhalle, Libationen scheinen im Megaron stattgefunden zu haben. Der zentrale Herd wurde wohl als Zentrum eines mykenischen Staatswesens angesehen. Der Wanax, der König, einen Titel, den noch Agamemnon in der Ilias trägt, erfüllt wohl wichtige sakrale Funktionen, indem er z. B. den Opfern vorsteht. Daneben gibt es viele weitere Kultdiener; wir können also eine entwickelte Kulthierarchie voraussetzen: die Priesterin von Pakijane, eine Schlüsselträgerin in Pylos, war in historischer Zeit für einen Schrein verantwortlich. Sie scheint die einzige weibliche Autoritätsträgerin in den mykenischen Texten zu sein. Wir kennen einen Hieroworgos, also einen Opferpriester, einen Sphageus, der das eigentliche Opfer vollzieht und daneben mehrere allgemeine Priester sowie einen Hautträger und einen Hüter des Feuers. Zudem gibt es viele Diener Gottes, deren sozialer Rang gänzlich unklar ist. Die mykenische Religion ist insofern griechisch, als uns in den Linear B-Täfelchen bereits Zeus, Hera, Poseidon, Artemis, Hermes, Dionysos, Ares und Athene begegnen.
Andere Götter haben auch griechische Namen, gerieten aber in Vergessenheit, wie z. B. die weiblichen Versionen von Zeus und Poseidon, nämlich Diwia und Posidaia. Nicht griechisch sind ganz unverständliche Götternamen, die wir gar nicht identifizieren können. Die Opfer werden in der Reihenfolge wie später durchgeführt: Prozession, vegetabilisches Voropfer in Form von Körner oder Kuchen, Libationen, dann das Tieropfer. Es erfolgen unblutige Zugaben. Auch scheint es schon Kultkalender gegeben zu haben. Zusammenfassend kann man also sagen, dass es gerade im Bereich der Religion durchaus Kontinuitätslinien von der mykenischen in die klassische Zeit gibt. Die mykenische Religion ist also mit der späteren griechischen Religion durchaus verwandt, weist aber für unser Empfinden auch viel Fremdes und Unverständliches auf.

Mykenische Gesellschaft

Die hierarchische Gliederung der Gesellschaft ist auffällig. An der Spitze steht der wanax, dem auch die größte Landzuweisung zusteht. Obwohl er wichtige sakrale Funktionen wahrnimmt, wie wir gesehen haben, ist er kein Pharao, kein Gottkönig, sondern fungiert eher als primus inter pares.
Unter ihm steht der lawagetas, eine Art Vizekönig. Er scheint ein militärischer Führer gewesen zu sein.
Der hepetas oder auch e-qe-ta ist als Reiter oder Ritter ein hoher Gefolgsmann des Königs. Die genauen Funktionen sind unklar, doch scheinen die hequetai die Zentraladministration repräsentiert zu haben. Sie kommen im Zusammenhang mit Streitwägen vor, sie bekommen auch Sklavinnen.
Ein moroqa ist ebenfalls ein hochrangiger Funktionär, dessen Bedeutung unklar ist.
Ein koreter oder korete ist eine Art Provinzstatthalter.
Der qasireu schließlich scheint den wanax auf lokaler Ebene vertreten zu haben. Er scheint auch eine Aufsichtsfunktion in den Schmiedewerkstätten innegehabt zu haben. Etymologisch entsteht aus dem qasireu der basileus, der König in klassischer Zeit. Wie ist diese semantische Aufwertung zu erklären? Als die Suprastrukturen, die Zentralgewalt wegbrechen, bleiben die lokalen Funktionsträger übrig und steigen wohl gesellschaftlich auf.
Die telestai sind die freien Grundbesitzer.
Der damo ist ein genau abgegrenzter Personenkreis von fixierter Rechtsstellung, also gerade nicht das ganze Volk. Der damo hat Land und kann es auch vergeben an die Funktionäre, wie den wanax und den lawagetas. Die Abgrenzung von den telestai ist schwierig.
Auf der untersten Stufe steht der doero, weiblich die doera, eine Art Sklave. Der klassische Begriff ist ja der des doulos, Sklave. Diese Diener werden auch im Zusammenhang mit den Göttern genannt, es handelt sich also um eine Art der Tempelsklaverei oder, sagen wir vielleicht besser, eine Art des Tempeldienstes. Im Kontext eines Tempels werden diese Bediensteten bei ihrem Namen genannt, was sie von herkömmlichen Sklaven unterscheidet.
Daneben gibt es viele weitere Ämter, Ränge und Berufe. Es scheint hohe Spezialisierung und Arbeitsteilung vorgeherrscht zu haben. Ganz klar ist diese Gesellschaft also komplizierter und hierarchischer als die der klassischen Zeit.

In einem Fall kennen wir die agrarischen Strukturen inklusive der Grundstückstypen besonders gut, wir sprechen von der Agrarverfassung von Pylos. Das Reich von Pylos umfasste zwei große Provinzen, die wiederum in neun bzw. sieben Bezirke eingeteilt waren. Jeder Bezirk unterstand einem korete und dessen Stellvertreter. Zwei dumartes haben Aufgaben in beiden Provinzen. Der Provinzstatthalter ist wohl der damokoros. Auf alle Fälle sind diese Reiche größer als die späteren Polis-Gebiete mit ihrem Umland.
Die Agrarverfassung im Reich von Pylos ist bekannt, weil wir Verzeichnisse von Grundstücken haben. Es gibt zwei Arten von Eigentum, die sog. ktoinai ktimenai und die kekemenai ktoinai.
Die ktoinai ktimenai bezeichnen bebautes Privatland, Acker- und Gartenland im Gegensatz zum nicht bebauten Land, oder auch neu kultiviertes Land im Gegensatz zum alten Acker- und Gartenland. Die Inhaber sind frei, das sind die telestai, ihre Zahl ist gering. Die kekemenai kotonai bezeichnen das brach liegende Gemeindeland, die Allmende, also das Gemeindeland, das offenbar genossenschaftlich bewirtschaftet und oft Hirten überlassen wurde. Sehr viel mehr Leute nutzen dieses Gemeindeland. Schon am Ende der mykenischen Zeit ist diese Zweiteilung überholt, die Bewirtschaftung ist bei beiden Arten von Land gleich, beide Typen von Land werden bebaut, was wohl notwendig ist aufgrund des Bevölkerungswachstums.
Eigentum können nur Freie erwerben, Pachten aber alle, d.h. neben Freien auch Sklaven und Frauen. Beide Grundstückstypen können verpachtet werden, d.h. Freie können auch Gemeindeland pachten, Sklaven können beide Typen von Land pachten, die alte Einteilung ist also nur noch rechtlich bedeutsam, nicht mehr wirtschaftlich. Da nun auch Sklaven als Pächter relativ selbständig wirtschaften konnten, nivellierten sich die Standesunterschiede. Was wir also in Pylos in spätmykenischer Zeit greifen, ist ein gewaltiger Landesausbau.

Handelsbeziehungen

Unsere wichtigste Quelle für Handelsbeziehungen ist das Schiffswrack von Uluburun. Ein mykenisches Segelschiff, wohl auf der Fahrt vom heutigen Libanon in die Ägäis sank vor der türkischen Südküste, nahe Kap Uluburun, reich beladen mit Handelswaren und Schätzen, die uns einen wunderbaren Einblick in die internationalen Handelsbeziehungen der Bronzezeit vermitteln. Das Wrack wurde von 1984-1994 von amerikanischen und türkischen Wissenschaftlern erschlossen; ich möchte hier nur auf die wichtigsten Funde eingehen: 348 Ochsenhautbarren, Rohkupferplatten zu je 24kg und 121 Barren in Brotlaibform, zusammen 10t. Dazu 1t Zinnbarren. Kupfer und Zinn stehen hier also im Verhältnis 10:1, genau dem Verhältnis, das man zur Herstellung von Bronze braucht. Daneben fand man Rohglas in verschiedenen Farben, Ebenholz aus Afrika, einen großen Elfenbeinzahn, Bernstein von der Ostsee, Lebensmittel, Keramik aus Kanaan und Zypern, Schmuck aus Gold und Silber, Werkzeuge aus Bronze, Bronzewaffen, eine vorderasiatische Schuppenpanzerrüstung, ein Rollsiegel aus Assur, Gewichte zum Abwiegen von Waren, 24 schwere Steinanker, eine aufklappbare Holztafel zum Schreiben, wie sie später auch von Homer beschrieben wird und, eine Sensation, einen goldenen Skarabäus der Nofretete.
Die Waren kamen aus verschiedenen Gegenden, das Schiff war wohl auf einer Rundreise, viele Fragen bleiben jedoch offen: Wie typisch war so ein Schiff? Fuhr es im Auftrag von Palästen oder war es privat initiiert? Die genaue Route ist unbekannt, ebenso die Ursache des Untergangs. Eine spannende Frage ist auch die nach der Besatzung: Die Archäologen vermuten aufgrund der persönlichen Gegenstände vier kanaanitische Händler und Seeleute, einer davon war wohl der Kapitän, zwei Mykener aus der Oberschicht, die vielleicht als Emissäre, als eine Art Botschafter fungierten und vielleicht den Empfänger repräsentierten. Ein weiterer Passagier stammte wohl aus Nordgriechenland.
Daraus kann man vielleicht folgern, dass das Schiff auf dem Weg nach Griechenland war. Auf alle Fälle sehen wir, dass zwischen den Küsten des östlichen Mittelmeeres ein lebhafter Handel stattfand, der insbesondere auch Luxusgüter umfasste.

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02 – Die Minoer

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Werner Rieß
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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

02 – Die Minoer

Wir beginnen die Vorlesung mit einem Überblick über die minoische Kultur auf Kreta. Entscheidend ist, dass die Minoer keine Indoeuropäer sind, sondern eine vor-indogermanische Sprache sprechen, weswegen wir ihre Schrift, Linear A, leider nicht lesen können. Die minoische Kultur erschließt sich daher für uns nur über die Archäologie, und auf der Archäologie beruht auch die Epocheneinteilung der minoischen Geschichte. Arthur Evans grub Knossos ab 1899 aus. Wichtige Palastanlagen neben Knossos sind Phaistos, Mallia und Kato Zakros im Osten der Insel. Wir wissen weder, woher die Minoer kommen noch wie es zur Palastentstehung überhaupt kam. Schon in der Vorpalastzeit 3000-2000 v. Chr. finden sich in Stein geschnittene Siegel. Der Stier scheint in der Religion schon eine Rolle gespielt zu haben, die Bauweise der Häuser ist auch hier schon agglutinierend. Der Sprung zur Hochkultur erfolgt um 2000 mit dem Beginn der Älteren Palastzeit. Politik und Wirtschaft scheinen in den Palastanlagen konzentriert gewesen zu sein, doch lassen kleinere Anlagen außerhalb auch auf einen lokalen Adel schließen. Es handelt sich offenbar um eine friedliche Kultur, die sich auch von außen nicht bedroht fühlte: Auf den Fresken finden sich z. B. Delphine. Schon in dieser Älteren Palastzeit waren die Minoer international sehr gut vernetzt, v.a. mit den Kykladeninseln und Ägypten. Zudem legten sie Handelsposten an, wie etwa auf Rhodos, Samos, Knidos und Karpathos. Um 1800 bzw. 1700 vernichtet eine Erdbebenkatastrophe diese älteren Paläste. Sie werden jedoch sogleich wieder aufgebaut, womit die Jüngere Palastzeit eingeläutet wird. Die minoische Kultur erreicht nun bis 1400 v. Chr. ihren Höhepunkt. Die Paläste betrieben als Administrationszentren eine ausgefeilte Versorgungs- und Magazinierungspolitik, was die Grundlage für eine hoch entwickelte Redistributionswirtschaft darstellte. Diese jüngeren Paläste werden um 1500 oder 1450 zerstört. Die Ursachen sind gänzlich unklar. Sicher ist, dass der Vulkanausbruch von Thera, der entweder auf 1640 bzw. 1628 oder aber auf ca. 1530 datiert wird und das minoische Akrotiri zerstörte, nicht für die Zerstörungshorizonte auf Kreta verantwortlich ist, wie früher oft angenommen wurde. Die Dicke der Aschenschicht auf Kreta ist minimal. Die Lavareste auf Santorin zeigen, dass der Vulkan sukzessive ausgebrochen und wieder in sich zusammengefallen ist und daher keinen Tsunami auslöste. Zudem ist die letzte minoische Keramik ca. 50 Jahre jünger als die von Thera. Thera und Knossos gingen also nicht gleichzeitig unter. Wolf-Dietrich Niemeyer fand heraus, dass um 1450 alle Paläste außer dem von Knossos zerstört und die Siedlungen wieder aufgebaut wurden, aber nicht die Paläste und schließt daraus, dass es sich bei diesen Zerstörungen um innerkretische Auseinandersetzungen gehandelt haben muss, aus denen Knossos als Sieger hervorging. Kreta war aber insgesamt wohl so geschwächt, dass es um 1375 seine Vormachtstellung an die Mykener abgeben musste. Nach Niemeyer erlebt das minoische Knossos zwischen 1450, dem Erringen der Alleinherrschaft auf Kreta, und 1375, der Ankunft der Mykener, seine Blütezeit. Das ist nur eine Theorie. Andere Forscher meinen, die Mykener seien schon 1450 gekommen, auf sie sei der Zerstörungshorizont zurückzuführen. Oder es gab zwei verschiedene Eroberungswellen vom Festland aus, eine um 1450, die andere um 1375. Die zweiten Eroberer seien dann die Mykener gewesen. Wie dem auch sei, Linear A bricht um 1375 ab, ab dieser Zeit sind die Mykener die Herren von Knossos und dem größten Teil Kretas. Nur der Osten steht nicht unter ihrer Kontrolle. Die Nachpalastzeit ist also mykenisch. Durch vielfältige Interaktion der Eroberer mit der unterworfenen minoischen Bevölkerung findet ein kultureller Verschmelzungsprozess statt. Die minoisch-mykenische Mischkultur entsteht.
Die Linear A-Schrift der Minoer ist eine reine Verwaltungsschrift. Sie diente zur Buchhaltung der Magazine und Vorratsräume. Sie ist an rund 25 Orten auf Kreta belegt, nicht nur in den Palastzentren. Bedeutende Fundorte sind Hagia Triada, Chania, Phaistos und Zakro. Linear A ist eine Silbenschrift, von der wir rund 800 Wörter unterscheiden können, deren Bedeutung wir aber nicht verstehen. Es gibt 90 Syllabogramme, 70% davon haben eine Entsprechung im mykenischen Linear B. Daneben gibt es auch sogenannte Logogramme, also Zeichen, die ein ganzes Wort bezeichnen. Linear A verwendet auch Monogramme, d.h. Zeichen, die aus zwei oder drei Syllabogrammen zusammengesetzt sind. Zahlzeichen sind in Linear A und B identisch, nur gibt es in Linear A kein Zeichen für 10.000. Obwohl Linear A nach wie vor nicht entziffert ist, haben wir dennoch ein grundlegendes Verständnis der Texte. Zwei Zeichen sind bekannt: KU-RO heißt Summe, Ganzes, PO-TO-KU-RO heißt Gesamtsumme. KI-RO heißt Defizit. Es geht also immer um Transaktionen, um Verwaltungsakte.
Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass es neben Linear A noch eine kretische Hieroglyphenschrift gab. Der Name ist etwas missverständlich, weil es sich auch bei dieser Schrift um eine Silbenschrift handelt. Wir können nicht sagen, ob Linear A oder die kretische Hieroglyphenschrift älter ist. In der mittel-minoischen Periode sind beide Schrifttypen in Verwendung, allerdings gibt es eine geographische Verteilung, die vielleicht auf eine politische Zweiteilung Kretas hinweist. Linear A wird im Süden verwendet, die Hieroglyphenschrift in Nord-Zentral und Nordostkreta. In der mittelminoischen Periode III wird schließlich die Hieroglyphenschrift zugunsten von Linear A aufgegeben. Nun wird überall Linear A bis zum Aufkommen von Linear B geschrieben.

Zur minoischen Religion

Die Minoische Religion geht aus Grabritualen hervor. Bald lösen sich die Riten von den Gräbern und haben nur noch mit Götterverehrung zu tun. In allen Heiligtümern finden sich Gabentische, Tonphalloi, Tassen mit weiblichen Brüsten, Rhyta, also Trinkgefäße in der Form von Stieren und natürlich die typischen Doppeläxte aus Bronze oder Gold, die entweder zu klein oder zu groß für eine tatsächliche Verwendung sind. Wie wir den Stierfresken entnehmen, spielten Stiere wohl auch im Kultus eine wichtige Rolle, vielleicht auch Stieropfer, aber es gibt keine Belege für einen eigentlichen Stiergott. Man muss aber daran denken, dass der Stier im Mythos sehr wohl mit Kreta verbunden wird. Denken Sie daran, dass sich Zeus in einen Stier verwandelt, um die schöne Europa nach Kreta zu entführen. Kreta ist auch die Insel des Zeus und damit auch die Insel des Stieres. Auf den allgemein bekannten Mythos vom Minotauros muss ich gar nicht weiter eingehen. Im Zentrum des Kultes stand also die Fruchtbarkeit des Menschen, worauf die Tonphalloi genauso wie die vielen weiblichen Figurinen hindeuten, die entweder ein Gefäß tragen oder bei denen die Brüste kleine Löcher haben, so dass man aus diesen Figurinen trinken konnte.
Die Minoer suchten die Nähe zu den Göttern in der Natur, auf Berggipfeln, wir sprechen von Gipfelheiligtümern, und drunten in der Erde, wir sprechen von Höhlenheiligtümern. Daneben gibt es auch Baumheiligtümer. Später werden die Götter dann auch in den Städten und Palästen verehrt, Walter Burkert spricht von Hausheiligtümern. Wir sehen also, dass die Religion bei den Minoern alle Lebensbereiche durchdringt.
Zunächst zu den Gipfelheiligtümern: Wir kennen über 20 sicher identifizierte Gipfelheiligtümer. Dort fand man Figurinen, meist Votivdarstellungen in Form von Tieren und menschlichen Körperteilen, wie z. B. Füße, Augen und Genitalia. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Votivgaben, Danksagungen für die Genesung von Krankheiten bzw. Bitten um Genesung bzw. Gesunderhaltung. Vielleicht gab es eine Berggöttin, die man auf den Gipfeln verehrte. Ein wichtiges Zeugnis ist hier das sog. Mutter-der-Berge-Siegel. In Sumer gibt es eine Herrin vom Berge, in Kanaan gab es Feueropfer auf den Gipfeln für Baal, wie im Alten Testament geschildert. Greifen wir also hier auf Kreta orientalische Traditionen? Offenbar hat man auf Kreta große Feuer zur Nacht auf den Gipfeln entzündet, denn wir finden viele Lampen und Tierreste. Figurinen wurden ins Feuer geworfen, auch kleine Tonkügelchen. Vielleicht gibt es hier eine Verbindung zu den späteren griechischen Feuerfesten. In mykenischer Zeit sind Gipfelheiligtümer nicht mehr nachzuweisen. Sie sind also ein typisch minoisches Phänomen.
Höhlenheiligtümer: 15 sind bislang sicher nachgewiesen, wahrscheinlich gab es aber doppelt so viele. Wie die Gipfelheiligtümer liegen auch sie siedlungsnah. In den Höhlen findet man Reste von Libationen und Trinkritualen. Auch Festmähler fanden statt. In den Höhlen wurden für die Gottheit männliche und weibliche Bronzefigurinen zurückgelassen, Doppeläxte, hunderte von dünnen Schwertern, Dolchen und Messern. Vielleicht greifen wir hier schon das Prinzip der Reziprozität, von Gabe und Gegengabe. Es wurde die Vermutung geäußert, dass man in den Höhlen versuchte, in ekstatische Trance-Zustände zu kommen. In dieser Trance wollte man dann Visionen haben vom Erscheinen, der Epiphanie der Göttin.
Auf manchen Goldringen werden Baumheiligtümer abgebildet. Der Baum ist von einer Mauer eingefriedet, es gibt auch einen Altar. Tänzer und Tänzerinnen werden in Ekstase abgebildet.
Die Schreine der Palastkulte, an denen man auch das typische Kultmaterial findet, sind auch für die breitere Öffentlichkeit zugänglich. Wichtig für die Hauskulte sind die Schlangendarstellungen, vielleicht galt die Schlange als Wächterin des Hauses. Und vielleicht wurden Schlangen sogar gehalten und gefüttert.
Tempel sind in der minoischen Kultur nicht belegt, doch gibt es eine wichtige Ausnahme. In Ayia Irini auf Keos fand man ein minoisches Gebäude aus dem 15. Jh. Es bestand aus einem Hauptraum mit Nebenräumen und einem Adyton. Sensationell ist, dass man 20 lebensgroße, weibliche Tonstatuen fand, mit entblößten Brüsten, die Hände an den Hüften, wohl Priesterinnen, die sich in Ekstase tanzen. Dieser Kult wurde offenbar bis in die klassische griechische Zeit praktiziert, also wohl rund 1000 Jahre, denn eine Inschrift belegt, dass der Tempel später dem Gott Dionysos geweiht war, also dem Gott des Weins, des Rausches und der Ekstase. Dies ist vielleicht der einzige archäologische Befund, der uns eine Kontinuitätslinie von der minoischen bis in die griechische Zeit hinein aufzeigt. Der minoische Kult der Ekstase wurde später wohl dionysisch verstanden.
In der neopalatialen Phase fanden im Thronraum von Knossos offenbar Salbungsrituale statt, wie ein Pithos und mehrere Alabastra zeigen, doch wir wissen leider nicht, wer auf dem Thron saß, ein König, ein Oberpriester oder eine Oberpriesterin, die vielleicht die Göttin in einem Ritual spielte? Sind wir hier in einer Theokratie?
In Knossos, Phaistos, Mallia und Zakros gibt es Zentralhöfe, in denen Altäre gefunden wurden. Auf der westlichen Seite gab es immer Kulträume, die sich zur Stadt hin öffnen, allerdings ist die genaue Kulttopographie unklar. Die Stiersprünge fanden wohl nicht in diesen großen Innenhöfen statt, weil diese gepflastert waren, aber die Opferung der Stiere kann man sich hier durchaus vorstellen. Weitere religiöse Architektur stellen die Lustralbecken und die Säulenkrypten dar. In Knosssos liegt der lustrale Baderaum direkt neben dem Thronsaal, in den Säulenkrypten fanden wohl Ernte- und Reinigungsfeste statt.
In der postpalatialen Phase, also nach 1450 werden die Gipfelheiligtümer aufgegeben, die Lustralbecken zugeschüttet, die Säulenkrypten anderweitig verwendet. Hier macht sich nun wohl mykenischer Einfluss bemerkbar. Es gibt viele Veränderungen, aber keinen direkten Bruch, wir greifen also immer noch im Wesentlichen eine Kontinuität im Kult. Offenbar gehen die Mykener sehr pragmatisch mit der minoischen Kultur um: Was in ihre eigenen religiösen Vorstellungen passt, wird übernommen, wie z. B. die Doppeläxte zur Darstellung von Macht, was sie nicht brauchen, wird nicht weitergepflegt.
Noch ein paar Worte zu den minoischen Ritualen: Wichtig sind Prozessionen zu den Heiligtümern, wo Männer und Frauen tanzen, um in Ekstase die Muttergottheit zu erfahren. Anders als im klassischen Griechenland wird auf den Altären nie Feuer gemacht, sondern nur an ihnen gebetet. Dennoch sind alle Elemente des späteren griechischen Opfers schon da: Die Prozession, der Altar, das Voropfer in Form von Libationen, das eigentliche Opfer, das Auffangen des Blutes, die Verzehrung des Fleisches. Es gibt einige, wenige Hinweise für Menschenopfer. In Knossos fand man die Überreste von vier Kindern, deren Knochen Schnittspuren aufweisen, d.h. das Fleisch wurde von den Knochen gelöst. Wenn es sich hier wirklich um Kannibalismus handeln sollte, so ist er auch durch eine Notlage, wie eine Hungersnot erklärbar. In Myrtos, an der Südostküste Kretas fand man bei einem Schrein den Schädel eines jungen Mannes, aber vielleicht handelt es sich hier einfach um Totenkult. Die Evidenz für Menschenoper ist also sehr dürftig.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die minoischen Riten den ganzen Kosmos einbinden, von den Höhlen bis zu den Gipfeln, auch in Häusern finden Riten statt. Die Religion durchdringt also alle Lebensbereiche. Das wichtigste Merkmal ist wohl die Vorstellung von der Epiphanie einer Göttin, die man in einem ekstatischen Tanz zu erleben versucht. Es ist sicher richtig, dass im Zentrum der Religion die Anbetung von Göttinnen stand, doch ist es voreilig, eine einzige minoische Muttergottheit zu postulieren. Die weiblichen Gottheiten werden immer anders dargestellt, einmal als Schlangengöttin, dann im agrarischen, bald wieder in einem kriegerischen Kontext. Es gibt sicher auch männliche Gottheiten, obwohl man auf den Darstellungen nicht unterscheiden kann, ob es sich um einen Gott, einen König, einen Priester oder einen Verehrenden oder einen Initianden handelt. Ein Vergleich mit allen anderen bronzezeitlichen Religionen lässt Polytheismus jedoch als wahrscheinlich erscheinen. Die Frage nach der Kontinuität von der minoischen zur mykenischen und dann sogar zur späteren griechischen Religion ist nach wie vor heftig umstritten.

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