Vergils Aeneis als römischer Gründungsmythos

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Vergil
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Verg.A.2.268-297 – Original

268 Tempus erat, quo prima quies mortalibus aegris
incipit, et dono divom gratissima serpit.
270 In somnis, ecce, ante oculos maestissimus Hector
visus adesse mihi, largosque effundere fletus,
raptatus bigis, ut quondam, aterque cruento
pulvere, perque pedes traiectus lora tumentis.
Ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo
275 Hectore, qui redit exuvias indutus Achilli,
vel Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis,
squalentem barbam et concretos sanguine crinis
volneraque illa gerens, quae circum plurima muros
accepit patrios. Ultro flens ipse videbar
280 Compellare virum et maestas expromere voces:
“O lux Dardaniae, spes O fidissima Teucrum,
quae tantae tenuere morae? Quibus Hector ab oris
exspectate venis? Ut te post multa tuorum
funera, post varios hominumque urbisque labores
285 defessi aspicimus! Quae causa indigna serenos
foedavit voltus? Aut cur haec volnera cerno?”
Ille nihil, nec me quaerentem vana moratur,
sed graviter gemitus imo de pectore ducens,
“Heu fuge, nate dea, teque his, ait, eripe flammis.
290 Hostis habet muros; ruit alto a culmine Troia.
Sat patriae Priamoque datum: si Pergama dextra
defendi possent, etiam hac defensa fuissent.
Sacra suosque tibi commendat Troia penatis:
hos cape fatorum comites, his moenia quaere
295 magna, pererrato statues quae denique ponto.”
Sic ait, et manibus vittas Vestamque potentem
aeternumque adytis effert penetralibus ignem.

Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Theodore C. Williams
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

That hour it was when heaven’s first gift of sleep
on weary hearts of men most sweetly steals.
O, then my slumbering senses seemed to see
Hector, with woeful face and streaming eyes;
I seemed to see him from the chariot trailing,
foul with dark dust and gore, his swollen feet
pierced with a cruel thong. Ah me! what change
from glorious Hector when he homeward bore
the spoils of fierce Achilles; or hurled far
that shower of torches on the ships of Greece!
Unkempt his beard, his tresses thick with blood,
and all those wounds in sight which he did take
defending Troy. Then, weeping as I spoke,
I seemed on that heroic shape to call
with mournful utterance: “O star of Troy!
O surest hope and stay of all her sons!
Why tarriest thou so Iong? What region sends
the long-expected Hector home once more?
These weary eyes that look on thee have seen
hosts of thy kindred die, and fateful change
upon thy people and thy city fall.
O, say what dire occasion has defiled
thy tranquil brows? What mean those bleeding wounds?”
Silent he stood, nor anywise would stay
my vain lament; but groaned, and answered thus:
“Haste, goddess-born, and out of yonder flames
achieve thy flight. Our foes have scaled the wall;
exalted Troy is falling. Fatherland
and Priam ask no more. If human arm
could profit Troy, my own had kept her free.
Her Lares and her people to thy hands
Troy here commends. Companions let them be
of all thy fortunes. Let them share thy quest
of that wide realm, which, after wandering far,
thou shalt achieve, at last, beyond the sea.”
He spoke: and from our holy hearth brought forth
the solemn fillet, the ancestral shrines,
and Vesta’s ever-bright, inviolate fire.

Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Leitfragen:

1) Wovon handelt der Quellentext?

2) Welche Bedeutung hat das Erscheinen Hektors im Traum des Aeneas?

3) Welche Absicht verbirgt sich hinter der trojanischen Herkunft des Aeneas?

Kommentar:

Noch heute führt die Frage nach der Historizität der von Homer in seinem Epos Ilias geschilderten Ereignisse um den Untergang der Stadt Troja in der Forschung zu Diskussionen. In den deutschen Altertumswissenschaften entbrannte zu Beginn des 21. Jahrhunderts (unter anderem) darüber eine besonders hitzige Auseinandersetzung zwischen den Tübinger Altertumswissenschaftlern Heinrich Korfmann und Frank Kolb, welche als die „Troja-Debatte“ bekannt geworden ist. Daran zeigt sich die Bedeutung, die das Epos als europäisches Bildungsgut nach wie vor trägt. Bis heute gehört der Trojanische Krieg zum Grundbestand der europäischen Mythenerzählungen und ist Teil des kulturellen Gedächtnisses. Schon in der Antike wurden die homerischen Texte vielfach rezitiert und aufgegriffen und der Trojanische Krieg wurde zu einem zentralen Ereignis sowohl der griechischen, als auch der römischen Mythologie. Für die römische Literatur, die bewusst nach griechischen Vorbildern geschaffen wurde, sind die homerischen Epen dabei literarische und kulturelle Denkmäler. Besonders deutlich zeigt sich dies an dem von Vergil (70 – 19 v. Chr.) verfassten Epos Aeneis, welches er zwischen 29 v. Chr. und seinem Tod im Jahre 19 v. Chr. schuf. Das Epos erzählt von der Flucht des Trojaners Aeneas aus der brennenden Stadt Troja, seinen Irrfahrten über das Mittelmeer sowie der Gründung einer neuen Heimstätte auf italischem Boden. Dabei lehnt sich Vergils Erzählung an die homerischen Epen Ilias und Odyssee an, kehrt aber die Reihenfolge um. So beginnt die Aeneis mit der Flucht des Helden Aeneas aus Troja und seiner Reise in die neue Heimat Italien (in Anlehnung an die Odyssee), wo der Trojaner dann in einen Krieg gerät, aus dem er als Sieger hervorgeht (in Anlehnung an die Ilias, wobei der Krieg diesmal gewonnen wird). Im Folgenden soll anhand einer ausgewählten Textstelle aus der Aeneis gezeigt werden, welche Bedeutung das trojanische Epos für die Römer hatte.

Die hier vorliegende Textstelle aus dem zweiten Buch der Aeneis ist Teil der Schilderung des Helden Aeneas am Hofe der karthagischen Königin Dido. Aeneas berichtet seinen Zuhörern vom Untergang Trojas. Er erzählt, wie die Griechen in der Nacht aus ihrem Versteck, dem hölzernen Pferd, welches die Trojaner bei Tag in die Stadt gezogen haben, schlüpften, die Stadttore für das griechische Heer öffneten und begannen, die schlafenden Trojaner zu töten. In dem vorliegenden Textausschnitt berichtet Aeneas, dass ihm in dieser Nacht der bereits von Achilles getötete trojanische Prinz Hektor im Traum begegnete. Hektor, gezeichnet von den im Kampf erlittenen Wunden, richtet seine Worte an den überraschten Aeneas und gibt ihm den Auftrag, die untergehende Stadt, deren Rettung er für aussichtslos hält, im Beisein der Stadtgötter zu verlassen.

Hektor erscheint in Aeneas‘ Traum in einem beklagenswerten Zustand. Er ist schwer verwundet und in tiefer Trauer. Aeneas ist von seinem Anblick bestürzt und schmerzhaft berührt, was mehrmals erwähnt wird. Die ihm von Aeneas gestellten Fragen zu seinem Erscheinen ignoriert Hektor und richtet seine Anweisungen, Aeneas solle die Stadt verlassen, da diese dem Untergang geweiht ist, unumwunden an Aeneas. Eine solche Flucht und Abkehr von der Verpflichtung des Kampfes ist für einen antiken Helden wie Aeneas eigentlich undenkbar. Dass Hektor dennoch von Aeneas fordert, das Kampfgeschehen tatenlos zu verlassen, bedeutet, dass hier ein Auftrag von berufenster Stelle erfolgt. Der Auftritt einer solch autoritären Figur wie Hektor und seine Anweisungen zeigen, dass Aeneas nicht nur das Recht, sondern vielmehr auch die Pflicht hat, dem Kampfe zu entfliehen. Berechtigung erhält er zudem durch Hektors Aufforderung, die Götter mitzunehmen. Die Kultgegenstände der Götter holte Hektor denn auch selbst aus dem Tempel. Dies zeigt Hektors großes Bemühen um den Auftrag. Gleichzeitig wird die Mitnahme der Götter dadurch rechtens gemacht und der Auftrag an Aeneas besiegelt. Der Inhalt des Auftrages wird hier also in der Person des Auftraggebers gerechtfertigt. Hektors Auftritt zeugt zudem von der Wichtigkeit des wesentlichen Ziels: Aeneas soll eine neue Stadt für die Götter erbauen. Das ist der entscheidende Grund dafür, dass Hektor Aeneas die Erlaubnis erteilt, das Kampfgeschehen zu verlassen. Hektors Auftreten zeigt also, dass die Gründung einer neuen Stadt schlussendlich Aeneas‘ göttliche Pflicht ist.

Aeneas gelingt diese von Hektor geforderte Aufgabe am Ende der Aeneis: Nach jahrelanger Irrfahrt und vielen Abenteuern wird er Herrscher der Latiner, eines Volks am Tiber, von dem später Romulus und Remus, die eigentlichen Gründer Roms, abstammen. Vergil erzählt mit der Aeneis damit die Geschichte der sagenhaften Abstammung der Römer von dem Trojaner Aeneas. Schon zu Beginn der Geschichte, wie die obige Textstelle durch den Auftritt Hektors erkennen lässt, wird deutlich, dass das Fernziel des Aeneas die Gründung Roms ist. Dies ist der Grund, warum Aeneas überhaupt aus Troja fliehen muss. Es ist seine göttliche Pflicht, Rom zu gründen. Damit schuf Vergil ein römisches Nationalepos, das den Machtanspruch der Römer durch göttliches Wirken rechtfertigte. Vergil eignete sich dabei die homerischen Texte an und definiert die römische Kultur als erneuerte griechische Kultur. Die Römer ziehen ihre nationale Identität also aus der Sage um die Gründung des römischen Volkes durch einen trojanischen Helden. Damit sind die homerischen Epen grundlegende Dokumente der römischen Nationalidentität. Anders als heute, galt ihr Wahrheitsgehalt als unzweifelhaft und damit als historische Realität.

Text zum downloaden

Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Der Untergang Mykenes, Troja“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
Hier geht’s zum Podcast