03 – Die Mykener

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

03 – Die Mykener

In mittelhelladischer Zeit um 2000 v. Chr. wandern indoeuropäische Gruppen in Griechenland ein. Sie vermischen sich mit der einheimischen Bevölkerung, welche die späteren Griechen Karer oder Pelasger nennen, und werden später zu den mykenischen Griechen. Zur gleichen Zeit gelangen die vedischen Inder nach Indien und die Hethiter nach Kleinasien, es finden also große Bevölkerungsbewegungen statt. Sehr bald geraten die Mykener in den Einflussbereich der minoischen Kultur, doch unterscheiden sich die Mykener auch deutlich von den Minoern, v.a. was die Sprache und ihre Architektur anbelangt. Die Mykener, deren Schrift, Linear B, wir lesen können, sprechen eine frühe Form des Griechischen. Anders als die Minoer leben die Mykener in stark befestigten Burgen, deren Zentrum das Megaron bildete, eine Art rechteckiger Thronsaal mit zentralem Herdfeuer, das als Repräsentations- und Kultraum diente. Auf alle Fälle sind die Mykener also eine kriegerische Kultur. Auf den Fresken finden sich Jagdszenen, wir kennen ihre schwere Bewaffnung, und wir haben Kunde von ihren Streitwägen.
Die bedeutendsten Funde wurden in Mykene gemacht. Wichtig sind hier v.a. die Gräber. Das sogenannte Gräberrund B aus dem 17. Jh., das 30 Gräber enthält, ist noch relativ arm, doch im jüngeren Gräberrund A, das sechs Schachtgräber enthält mit weiteren Gräbern darin, wurden Prunkdolche gefunden, Schmuck, Waffen und Szepter. Am bedeutendsten sind die goldenen Totenmasken, allen voran die sogenannte Maske des Agamemnon, die Heinrich Schliemann fälschlicherweise dem legendären König Mykenes attribuierte. Bedeutsam ist, dass das Gräberrund A in die Palastanlage integriert ist, die Herren von Mykene also eine enge Verbindung zu ihren adeligen Vorfahren hatten. Die Lokalität so nahe am Löwentor unterstreicht die Prominenz dieser Toten und bestätigte täglich die herausgehobene Stellung der herrschenden Eliten.
Daneben gibt es wuchtige Kuppelgräber, auch Tholosgräber genannt, allen voran das sogenannte Schatzhaus des Atreus. Die eigentliche Grabkammer liegt in einem Annexgebäude zum großen Rundbau, das Gewölbe symbolisierte wohl den Kosmos. Ein Gang, Dromos, führt hin zur Tholos. Bei einer Beerdigung fanden hier schaurige Riten statt. Der Dromos musste aufgegraben werden, manchmal wurden in diesem Gang Pferde geopfert. Die Trauergemeinde zog dann mit dem Leichnam in die Tholos, um dort ein Totenmahl einzunehmen. Man findet Feuerspuren. Dann wurde die Leiche in den Annexraum zu den früher Verstorbenen gebracht, die Tholos geschlossen und der Dromos wieder zugeschüttet. Die Trauernden verließen also das Reich der Toten und kehrten wieder in ihre Alltagswelt, in das Reich der Lebenden zurück. Dieser exklusive Bestattungsraum markiert ganz klar den Elitestatus dieser Toten. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Toten und den Lebenden werden in diesem eindrucksvollen Bestattungsritual performativ dargestellt und dienen damit auch der dynastischen Legitimation der Herrschenden.
Wir gehen heute von elf Königtümern aus, die wiederum in Provinzen untergliedert waren. Diese Hauptresidenzen sind Knossos, Tiryns, Mykene, Midea, Pylos, Athen, Theben, Orchomenos, Gla, Iolkos in Thessalien und Sparta. Auch Argos war wichtig. Ganz Griechenland ist jedoch von mykenischen Siedlungen überzogen, diese Kultur ist also nicht nur in den Zentren präsent.
Wahrscheinlich sind diese Königtümer lauter Einzelherrschaften. Einen, wenn auch nur temporären Oberbefehl, wie Agamemnon ihn in der Ilias inne hat, erscheint zweifelhaft. Auch die Oberhoheit Mykenes ist keinesfalls bewiesen, die Abgrenzung der Herrschaftsbereiche unklar.

Die Linear B-Schrift
Als die Mykener die Herren von Knossos wurden, lernten Sie die Linear A-Schrift der Minoer kennen und übertrugen diese Schrift auf ihre eigenen Sprache, entwickelten also aus Linear A die Linear B-Schrift, die 1952 von Michael Ventris entziffert wurde. Linear B ist also eine Frühform des Griechischen.
Wir haben heute mehr als 5000 Täfelchen, überwiegend aus Knossos, Chania, Pylos, Mykene, Midea, Tiryns, Theben und Orchomenos. Bei Linear B handelt es sich um eine überregionale Schreibsprache, die ausschließlich für den palastinternen Gebrauch konzipiert war. Es handelt sich hauptsächlich um Inventarlisten von Wertgegenständen, Waffen und Geräten, von Ein- und Ausfuhr aus dem Palast, Kataster von Grundstücken und Listen von Palastbediensteten. Da die Schrift der griechischen Sprache nur schlecht angepasst war, konnte Literatur in unserem Sinne damit nicht geschrieben werden. Die Täfelchen waren ursprünglich nur luftgetrocknet, waren also nicht für die dauerhafte Aufbewahrung gedacht. Erhalten blieben sie nur, weil sie durch die Brände, welche die Paläste zerstörten, gehärtet und damit konserviert wurden. Oft stammt also das gesamte Aktenmaterial nur aus einem einzigen Jahr, nämlich dem Jahr des Untergangs. Wir erhalten also eine Momentaufnahme ohne Kontext, was die Interpretation erschwert. Dennoch lässt sich mit ihnen der Aufbau der mykenischen Gesellschaft recht gut erschließen. Es handelt sich um eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die komplexer als die des klassischen Griechenland war und sich eindeutig an den Palastkulturen des Vorderen Orients orientiert. Es ist sogar möglich, einzelne Schreiber zu unterscheiden. Ihr sozialer Rang war offenbar hoch, sie gehörten wohl zur Verwaltungselite.
Nun zur Schrift selbst: es handelt sich um eine Silbenschrift aus 87-91 Lautzeichen, je nach Zählung. Diese Silbenzeichen, die immer auf einen Vokal enden, nennt man Phonogramme. Daneben gibt es über 150 Ideogramme, also Zeichen, die die Sache selbst bedeuten. Es gibt auch Zeichen, die ein Wort wiedergeben, sogenannte Logogramme. Viele Ideogramme bezeichnen militärische Ausrüstungsgegenstände, Gefäße, Kleidung und landwirtschaftliche Produkte.

Mykenische Religion

Die mykenische Religion kennt zwar keine Gipfel-, Höhlen- und Baumheiligtümer, doch ist die religiöse Ikonographie der minoischen sehr ähnlich. Ganz sicher arbeiteten minoische Künstler in mykenischen Diensten. Die Doppelaxt als Symbol der Macht wurde von den Mykenern bereitwillig übernommen, allerdings fehlen Bilder der Ekstase und der Epiphanie und die damit verbundenen Kultobjekte wie Lustrationsbecken und Säulenkrypten. Den mykenischen Kriegsherren lagen ekstatische Trance-Zustände sehr fern. Das heißt, die Mykener pflegen einen sehr pragmatischen Umgang mit der Vorgängerkultur. Sie übernehmen, was sie zum Ausdruck ihrer religiösen Vorstellungen brauchen und verwerfen die Formen, die sie nicht benötigen.
Religion ist selbstverständlich eng mit den Herrschern verbunden, rituelle Handlungen konzentrieren sich auf das Megaron. Altäre stehen oftmals im Hof vor dem Megaron oder in der Vorhalle, Libationen scheinen im Megaron stattgefunden zu haben. Der zentrale Herd wurde wohl als Zentrum eines mykenischen Staatswesens angesehen. Der Wanax, der König, einen Titel, den noch Agamemnon in der Ilias trägt, erfüllt wohl wichtige sakrale Funktionen, indem er z. B. den Opfern vorsteht. Daneben gibt es viele weitere Kultdiener; wir können also eine entwickelte Kulthierarchie voraussetzen: die Priesterin von Pakijane, eine Schlüsselträgerin in Pylos, war in historischer Zeit für einen Schrein verantwortlich. Sie scheint die einzige weibliche Autoritätsträgerin in den mykenischen Texten zu sein. Wir kennen einen Hieroworgos, also einen Opferpriester, einen Sphageus, der das eigentliche Opfer vollzieht und daneben mehrere allgemeine Priester sowie einen Hautträger und einen Hüter des Feuers. Zudem gibt es viele Diener Gottes, deren sozialer Rang gänzlich unklar ist. Die mykenische Religion ist insofern griechisch, als uns in den Linear B-Täfelchen bereits Zeus, Hera, Poseidon, Artemis, Hermes, Dionysos, Ares und Athene begegnen.
Andere Götter haben auch griechische Namen, gerieten aber in Vergessenheit, wie z. B. die weiblichen Versionen von Zeus und Poseidon, nämlich Diwia und Posidaia. Nicht griechisch sind ganz unverständliche Götternamen, die wir gar nicht identifizieren können. Die Opfer werden in der Reihenfolge wie später durchgeführt: Prozession, vegetabilisches Voropfer in Form von Körner oder Kuchen, Libationen, dann das Tieropfer. Es erfolgen unblutige Zugaben. Auch scheint es schon Kultkalender gegeben zu haben. Zusammenfassend kann man also sagen, dass es gerade im Bereich der Religion durchaus Kontinuitätslinien von der mykenischen in die klassische Zeit gibt. Die mykenische Religion ist also mit der späteren griechischen Religion durchaus verwandt, weist aber für unser Empfinden auch viel Fremdes und Unverständliches auf.

Mykenische Gesellschaft

Die hierarchische Gliederung der Gesellschaft ist auffällig. An der Spitze steht der wanax, dem auch die größte Landzuweisung zusteht. Obwohl er wichtige sakrale Funktionen wahrnimmt, wie wir gesehen haben, ist er kein Pharao, kein Gottkönig, sondern fungiert eher als primus inter pares.
Unter ihm steht der lawagetas, eine Art Vizekönig. Er scheint ein militärischer Führer gewesen zu sein.
Der hepetas oder auch e-qe-ta ist als Reiter oder Ritter ein hoher Gefolgsmann des Königs. Die genauen Funktionen sind unklar, doch scheinen die hequetai die Zentraladministration repräsentiert zu haben. Sie kommen im Zusammenhang mit Streitwägen vor, sie bekommen auch Sklavinnen.
Ein moroqa ist ebenfalls ein hochrangiger Funktionär, dessen Bedeutung unklar ist.
Ein koreter oder korete ist eine Art Provinzstatthalter.
Der qasireu schließlich scheint den wanax auf lokaler Ebene vertreten zu haben. Er scheint auch eine Aufsichtsfunktion in den Schmiedewerkstätten innegehabt zu haben. Etymologisch entsteht aus dem qasireu der basileus, der König in klassischer Zeit. Wie ist diese semantische Aufwertung zu erklären? Als die Suprastrukturen, die Zentralgewalt wegbrechen, bleiben die lokalen Funktionsträger übrig und steigen wohl gesellschaftlich auf.
Die telestai sind die freien Grundbesitzer.
Der damo ist ein genau abgegrenzter Personenkreis von fixierter Rechtsstellung, also gerade nicht das ganze Volk. Der damo hat Land und kann es auch vergeben an die Funktionäre, wie den wanax und den lawagetas. Die Abgrenzung von den telestai ist schwierig.
Auf der untersten Stufe steht der doero, weiblich die doera, eine Art Sklave. Der klassische Begriff ist ja der des doulos, Sklave. Diese Diener werden auch im Zusammenhang mit den Göttern genannt, es handelt sich also um eine Art der Tempelsklaverei oder, sagen wir vielleicht besser, eine Art des Tempeldienstes. Im Kontext eines Tempels werden diese Bediensteten bei ihrem Namen genannt, was sie von herkömmlichen Sklaven unterscheidet.
Daneben gibt es viele weitere Ämter, Ränge und Berufe. Es scheint hohe Spezialisierung und Arbeitsteilung vorgeherrscht zu haben. Ganz klar ist diese Gesellschaft also komplizierter und hierarchischer als die der klassischen Zeit.

In einem Fall kennen wir die agrarischen Strukturen inklusive der Grundstückstypen besonders gut, wir sprechen von der Agrarverfassung von Pylos. Das Reich von Pylos umfasste zwei große Provinzen, die wiederum in neun bzw. sieben Bezirke eingeteilt waren. Jeder Bezirk unterstand einem korete und dessen Stellvertreter. Zwei dumartes haben Aufgaben in beiden Provinzen. Der Provinzstatthalter ist wohl der damokoros. Auf alle Fälle sind diese Reiche größer als die späteren Polis-Gebiete mit ihrem Umland.
Die Agrarverfassung im Reich von Pylos ist bekannt, weil wir Verzeichnisse von Grundstücken haben. Es gibt zwei Arten von Eigentum, die sog. ktoinai ktimenai und die kekemenai ktoinai.
Die ktoinai ktimenai bezeichnen bebautes Privatland, Acker- und Gartenland im Gegensatz zum nicht bebauten Land, oder auch neu kultiviertes Land im Gegensatz zum alten Acker- und Gartenland. Die Inhaber sind frei, das sind die telestai, ihre Zahl ist gering. Die kekemenai kotonai bezeichnen das brach liegende Gemeindeland, die Allmende, also das Gemeindeland, das offenbar genossenschaftlich bewirtschaftet und oft Hirten überlassen wurde. Sehr viel mehr Leute nutzen dieses Gemeindeland. Schon am Ende der mykenischen Zeit ist diese Zweiteilung überholt, die Bewirtschaftung ist bei beiden Arten von Land gleich, beide Typen von Land werden bebaut, was wohl notwendig ist aufgrund des Bevölkerungswachstums.
Eigentum können nur Freie erwerben, Pachten aber alle, d.h. neben Freien auch Sklaven und Frauen. Beide Grundstückstypen können verpachtet werden, d.h. Freie können auch Gemeindeland pachten, Sklaven können beide Typen von Land pachten, die alte Einteilung ist also nur noch rechtlich bedeutsam, nicht mehr wirtschaftlich. Da nun auch Sklaven als Pächter relativ selbständig wirtschaften konnten, nivellierten sich die Standesunterschiede. Was wir also in Pylos in spätmykenischer Zeit greifen, ist ein gewaltiger Landesausbau.

Handelsbeziehungen

Unsere wichtigste Quelle für Handelsbeziehungen ist das Schiffswrack von Uluburun. Ein mykenisches Segelschiff, wohl auf der Fahrt vom heutigen Libanon in die Ägäis sank vor der türkischen Südküste, nahe Kap Uluburun, reich beladen mit Handelswaren und Schätzen, die uns einen wunderbaren Einblick in die internationalen Handelsbeziehungen der Bronzezeit vermitteln. Das Wrack wurde von 1984-1994 von amerikanischen und türkischen Wissenschaftlern erschlossen; ich möchte hier nur auf die wichtigsten Funde eingehen: 348 Ochsenhautbarren, Rohkupferplatten zu je 24kg und 121 Barren in Brotlaibform, zusammen 10t. Dazu 1t Zinnbarren. Kupfer und Zinn stehen hier also im Verhältnis 10:1, genau dem Verhältnis, das man zur Herstellung von Bronze braucht. Daneben fand man Rohglas in verschiedenen Farben, Ebenholz aus Afrika, einen großen Elfenbeinzahn, Bernstein von der Ostsee, Lebensmittel, Keramik aus Kanaan und Zypern, Schmuck aus Gold und Silber, Werkzeuge aus Bronze, Bronzewaffen, eine vorderasiatische Schuppenpanzerrüstung, ein Rollsiegel aus Assur, Gewichte zum Abwiegen von Waren, 24 schwere Steinanker, eine aufklappbare Holztafel zum Schreiben, wie sie später auch von Homer beschrieben wird und, eine Sensation, einen goldenen Skarabäus der Nofretete.
Die Waren kamen aus verschiedenen Gegenden, das Schiff war wohl auf einer Rundreise, viele Fragen bleiben jedoch offen: Wie typisch war so ein Schiff? Fuhr es im Auftrag von Palästen oder war es privat initiiert? Die genaue Route ist unbekannt, ebenso die Ursache des Untergangs. Eine spannende Frage ist auch die nach der Besatzung: Die Archäologen vermuten aufgrund der persönlichen Gegenstände vier kanaanitische Händler und Seeleute, einer davon war wohl der Kapitän, zwei Mykener aus der Oberschicht, die vielleicht als Emissäre, als eine Art Botschafter fungierten und vielleicht den Empfänger repräsentierten. Ein weiterer Passagier stammte wohl aus Nordgriechenland.
Daraus kann man vielleicht folgern, dass das Schiff auf dem Weg nach Griechenland war. Auf alle Fälle sehen wir, dass zwischen den Küsten des östlichen Mittelmeeres ein lebhafter Handel stattfand, der insbesondere auch Luxusgüter umfasste.

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