05 – Homer

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

05 – Homer

Es ist leider völlig unmöglich, Homer und die vielen mit ihm verbundenen Fragen in wenigen Minuten zu behandeln. Ich möchte daher nur kurz und ganz überblicksartig auf zwei Themenkomplexe eingehen, welche die jüngsten Debatten bestimmen und in direkter Relevanz zu Troja stehen. Einmal die komplexe Frage, inwieweit die homerischen Texte die mykenische Vergangenheit widerspiegeln können, zum anderen, was es mit den provokanten Thesen Raoul Schrotts auf sich hat, die jüngst in den Medien breit und sehr kontrovers diskutiert wurden.
Niemand bestreitet, dass die homerischen Epen, die Ilias und die Odyssee, auf eine lange vorausgehende mündliche Sängertradition zurückgehen. Wie die Sänger und Rhapsoden genau arbeiteten und in welchem Verhältnis ihr Schaffen zu den Texten steht, die wir haben, kann hier leider nicht erörtert werden. Der Basler Gräzist Joachim Latacz geht davon aus, dass die stark formelhafte Hexameterdichtung durchaus in der Lage war, Sagengut auch in mündlicher Form über Jahrhunderte hinweg recht detailgenau zu tradieren. Er geht daher davon aus, dass der Troja-Stoff in mykenische Zeit zurückreicht und ist recht optimistisch, dass die Sage hier die Kunde von einem tatsächlichen Trojanischen Krieg bewahren konnte.
Dass die Sänger tatsächlich alte Erzählungen in großen Mengen erlernen und, leicht variierend, frei vortragen konnten, hat v.a. die oral poetry-Forschung gezeigt, die Milman Parry in den 30ern des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Als er die mündliche Heldendichtung der Guslare, der serbokroatischen Sänger untersuchte, stieß er auf eine noch lebendige mündliche Vortragskultur. Diese Sänger konnten aufgrund der immer wiederkehrenden Formeln riesige Textbestände ohne schriftliche Fixierung vortragen und waren stolz darauf, nicht zu reproduzieren, sondern die altbekannten Stoffe immer wieder neu und adressatengerecht zusammenzusetzen.
Es geht immer um Ehre, Rivalitäten unter Männern, die mit Macho-Gehabe ausgetragen werden, es geht um den Kampf um Frauen, Liebe, verletzte Frauen- und Männerehre usw., also durchaus um Themen, die in den homerischen Epen auch eine große Rolle spielen. Gerade die oral poetry-Forschung hat aber auch gezeigt, dass sich die Gesänge, so konservativ und starr sie auch sein mögen, sich doch im Laufe der Zeit verändern, weil sie sich immer dem Erwartungshorizont des jeweiligen zeitgenössischen Publikums anpassen müssen. Hier sind wir nun im Bereich der Rezeptionsästhetik. Die Sänger tragen vor, was das Publikum versteht und erwartet. Die Zuhörer müssen das Geschehen in ihre Welt einordnen können.
Langsam, beinahe unmerklich, verändern sich also die Gesänge und orientieren sich immer an der jeweiligen zeitgenössischen Realität oder der ihr unmittelbar vorausliegenden Vergangenheit. Die homerischen Epen können also nur ganz auszugsweise mykenische Realität bewahrt haben und beziehen sich überwiegend auf die Realität der beginnenden Archaik bzw. der ausgehenden Dunklen Jahrhunderte.
Anhand zweier berühmter Beispiele möchte ich in aller Kürze zeigen, dass Homer ein Amalgam kreiert, er also bewusst archaisiert, um seinem Text eine altertümliche Patina zu geben, er aber im wesentlichen seine Zeit beschreibt, wie ja schon oftmals von der Forschung beobachtet wurde.
Im zweiten Buch der Ilias listet Homer im sogenannten Schiffskatalog alle am Troja-Zug teilnehmenden Griechen auf. Könnte diese Liste auf die mykenische Zeit zurückgehen? Ja, würde Latacz sagen, denn die Liste ist Boeotien-zentriert, Mykene und Pylos spielen eine wichtige Rolle, zur Zeit des Dichters aber nicht mehr, also muss die Liste sehr alt sein. Zudem kommen Orte vor, die man später überhaupt nicht mehr identifizieren konnte. Dem ist entgegenzuhalten, dass wichtige mykenische Orte fehlen, wie etwa Midea oder Orchomenos, bei Korinth und Athen ist nicht zu entscheiden, ob der Dichter die mykenischen Orte meint oder die zeitgenössischen, denn hier bestand ja Siedlungskontinuität. Warum werden die wichtigen mykenischen Orte in Kleinasien nicht genannt? Zudem weisen die Orte einiger Protagonisten überhaupt keine Funde aus der Bronzezeit auf, wie man erwarten würde. Fazit: Diese Liste hat mit der Topographie der mykenischen Welt nur wenig zu tun, sondern spiegelt, archaisierend, die Verhältnisse im achten Jahrhundert wider. Der Zweck ist nicht historische Akkuratesse, sondern ein literarischer, die Vorstellung der griechischen Helden. Die Liste besteht wahrscheinlich aus verschiedenen Listen und wurde von verschiedenen Redaktoren verfasst, die Vorlagen sind unbekannt.
Mein zweites Beispiel sind die sog. Mykenaika, also mykenische Gegenstände, wie etwa der berühmte Eberzahnhelm des Meriones, Bronzewaffen und Streitwägen, der Taubenpokal des Nestor, der turmähnliche Schild des Aias, das Vergolden der Hörner von Opferrindern. All diese Funde lassen sich aber auch ins erste Jahrtausend datieren. Oder man machte Funde bei der Grabräuberei, oder aber diese wertvollen Gegenstände waren im Familienbesitz und wurden von Generation zu Generation vererbt. Manche mögen im achten Jahrhundert auch noch in Gebrauch gewesen sein. Aufgrund der archaisierenden Tendenz blendet der Dichter bewusst auch viel Zeitgenössisches aus, wie das Reiten, die Schrift oder das Söldnerwesen, aber er beschreibt definitiv nicht die mykenischen Paläste und deren komplexe und hoch spezialisierte Wirtschafts- und Arbeitsweise. Viele Realia gehören eindeutig ins achte Jahrhundert: Die Massenkämpfe in Phalangen, die Polis, zum Teil auch mit ihren Institutionen, wie etwa die Volksgerichtsbarkeit, und die Eisenwerkzeuge. Die Dichtung ist also ein Amalgam aus verschiedenen Epochen, wobei die Betonung nicht einmal auf Mykene liegt.
Ich möchte im Folgenden auf die umstrittenen Thesen des österreichischen Literaturwissenschaftlers und Autors Raoul Schrott eingehen, die er in seinem 2008 erschienenen Buch „Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe“ vorgelegt hat. Homer sei demnach ein griechischer Schreiber in assyrischen Diensten gewesen und habe in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts in Kilikien gelebt und gearbeitet. Er sei also ein griechisches Migrantenkind gewesen und in der griechischen Diaspora im assyrischen Herrschaftsbereich aufgewachsen. Troja sei denn auch nicht in der Troas zu suchen, sondern sei vielmehr in der Südosttürkei zu lokalisieren, genauer in Karatepe. Ich möchte ganz kondensiert die Hauptthesen Schrotts referieren und dann kurz aus meiner Sicht auf sie eingehen:
Vieles bei Homer sei orientalisch geprägt, die Kulturkontaktzone zwischen Ost und West sei Kilikien gewesen. Die Fachwissenschaften dächten in Schubladen und würden die anatolischen bzw. orientalischen Hintergründe ausblenden. Die Beschreibung Trojas bei Homer passe besser zu Karatepe in Kilikien als zu Hissarlik. Etymologisch sei vieles bei Homer aus dem Assyrischen abzuleiten. Die Ilias wird bei Schrott zum Schlüsselroman: Die Assyrer seien die Vorlage für die angreifenden Griechen gewesen, die Trojaner demnach die einheimischen Kilikier. Homer beschreibe also letztendlich Kämpfe zwischen Assyrern und Kilikiern.
Diese Thesen wurden, soweit ich sehe, fast einhellig von der Forschung abgelehnt, übrigens auch von beiden Seiten des Troja-Streites, nur mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Vorsichtigen Zuspruch hat Schrott bislang nur von den Althistorikern Christoph Ulf und Robert Rollinger erfahren, die Schrotts Thesen als Anregung verstehen, sich wieder verstärkt mit den orientalischen Vorgaben auseinanderzusetzen und von Walter Burkert, einem der besten Kenner der orientalisierenden Epoche, der seine Reaktion in der rhetorischen Frage: Warum nicht Karatepe, bündelte.
Ich versuche nun, die Gegenargumente der Forschung zu bündeln und mit einigen eigenen Überlegungen zu versehen: Der große Medienhype war meines Erachtens übertrieben. Man schmälert Homers Leistung nicht, wenn man ihn von West- nach Ostanatolien verlegt. Bislang hat man ja Ionien, vielleicht sogar Smyrna als seine Heimat angenommen. Auch nach Schrott bleibt Homer ja muttersprachlich ein Grieche.
Schrotts Thesen lösen immer noch nicht die Frage nach der Historizität des Trojanischen Krieges. Schrott löst also nicht so viel wie er vorgibt. Mein größter Einwand ist die Frage nach dem geistigen Umfeld, das ein Dichter braucht, so genial er sein mag, um die alten Sängertraditionen zur Großleistung der Ilias zusammenzufassen und grundlegend zu redigieren. Ist es vorstellbar, dass so ein Werk in der Diaspora, in Kilikien entsteht? Rezeptionstheoretisch gesprochen: Ist überhaupt ein Publikum für so ein Monumentalwerk in der griechischen Diaspora vorhanden? Warum schreibt Homer, wenn er schon bilingual war, nicht gleich Assyrisch, für den assyrischen Königshof? Hätte er damit als Migrantenkind nicht besser vorankommen können? Schrotts Kritik, dass die Fachwissenschaften Scheuklappen hätten und sich nicht mit den orientalischen Vorlagen beschäftigen, ist schlichtweg falsch. Forscher wie Walter Burkert, Christoph Ulf, Martin West und v.a.m. haben immer wieder auf die östlichen Traditionen hingewiesen. Es gibt viel Forschungsliteratur dazu, auch interdisziplinäre Tagungen haben immer wieder stattgefunden. Meines Erachtens spricht nach wie vor sehr viel für Ionien als die Heimat Homers. Dort fanden die Kulturkontakte zwischen Ost und West, die Homer brauchte, genauso statt wie in Kilikien. Homer konnte sich dort genauso von der Dichtung des Zweistromlandes inspirieren lassen wie in Kilikien. Und vergessen wir nicht: Die Griechen erwachen geistig in Ionien. Kurz nach den homerischen Epen entsteht dort die vorsokratische Philosophie, später dann auch die Geschichtsschreibung. Thales kommt aus Milet, eben nicht aus Karatepe. Ionien war der Nährboden für den griechischen Geist. Große Werke können immer nur in einem fruchtbaren geistigen Umfeld geschaffen werden. Viele Dinge mussten zusammen kommen, um einen Kultursprung wie die Verschriftlichung der homerischen Epen zu ermöglichen. Ob die Diaspora im Osten, am Rand der griechischen Welt, der geeignete Ort dafür war?
Nun zur Beschreibung Trojas, die besser auf Karatepe passen würde: Die Hissarlik-Befürworter finden genau so viele, wenn nicht mehr Hinweise bei Homer, die genau auf die Troas passen und auf Hissarlik. Das Problem ist, dass Homer eine literarische Landschaft entwirft, keine historische. Viele kleinasiatische Städte könnten Troja sein, sie haben Stadtmauern, Quellen, Flüsse im Umland usw.. Die Etymologien bei Schrott sind oft gewagt und sprachwissenschaftlich keinesfalls abgesichert. Der Stoff wird nach Schrott in Kilikien orientalisiert und wandert dann nach Griechenland, wo er begeistert rezipiert wird. Wenn aber alles so kilikisch und assyrisch ist, warum benutzen die Griechen dann diesen Text zur Identitätsstiftung? Für sie waren die homerischen Helden der Inbegriff des Griechentums.
Das nächste Problem ist, das Epos als Schlüsselroman zu lesen, also die Griechen als Assyrer zu verstehen, die Trojaner als Kilikier. Das kann so nicht richtig sein. Die gesamte Welt, die Homer beschreibt, ist griechisch. Selbst die Trojaner denken und handeln wie Griechen. Griechen und Trojaner teilen eine gemeinsame Wertewelt. Man hat versucht, Priamos und den Trojanerhof luwisch bzw. hethitisch zu verstehen, das ist aber gescheitert. Der trojanische Königshof funktioniert wie ein griechischer Palast.
Schrott widerspricht sich zudem selbst. Einmal seien die Informationen, die Homer liefert, exakt. Er sei ein Protohistoriker, ein Protogeograph. Dann aber, wenn einige Informationen, die bei Homer zu finden sind, nicht ins Schrottsche System passen, befleißige sich Homer der poetischen Fiktion, er sei ein Dichter, man dürfe nicht alles auf die Waagschale legen. Schrott geht also weitgehend intuitiv und spekulativ vor. Schrotts Argument, dass er bislang nicht widerlegt werden konnte, überzeugt nicht. Wie auch? Er kann ja auch die Gegenseite, den mainstream der Forschung, nicht widerlegen.
Die Beweislast liegt doch bei demjenigen, der eine rund zweihundertjährige Troja- und Homerforschung verschiedener Disziplinen als grundlegend falsch erweisen will. Man wird also dabei bleiben müssen: Homer stammt wohl aus Ionien, schreibt in einer hoch kultivierten griechischen Umgebung, aus einem griechischen Blickwinkel heraus, hat aber starke Kulturkontakte in den Orient, die er fruchtbar in sein Werk einbaut und die wir tatsächlich verstärkt interdisziplinär untersuchen müssen. Es ist bezeichnend, dass dieser neuerliche Streit um Troja und Homer bislang im Ausland fast nicht rezipiert wurde.

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