In diesem Artikel werden drei Methoden der Geschichtswissenschaft definiert und erklärt: die Alltagsgeschichte, die Mikro-Historie und die historische Anthropologie. Unter ‚Methode‘ ist ein bestimmter Erkenntnisweg desjenigen gemeint, der Geschichtswissenschaft betreibt. Weniger kann man sich darunter eine konkrete Anleitung vorstellen, wie man historische Texte zu schreiben hat. Vielmehr rücken Forscherinnen und Forscher, die eine Methode vertreten, einen Blick auf bestimmte Bereiche der Vergangenheit, oftmals in Abgrenzung zu älteren Methoden; salopp gesprochen könnte man davon sprechen, dass sie eine ‚Brille‘ aufsetzen. Man kann das folgendermaßen verdeutlichen: Das Interesse der marxistischen Geschichtsschreibung ist es, die Geschichte des Proletariats als gesellschaftlicher Klasse sowie ihre Beherrschung durch die anderen Klassen zu erforschen. Dieser geschichtswissenschaftlichen Methode ist damit eine konkrete politische Ansicht inhärent, also eine bestimmbare ‚Brille‘. Heute herrscht allerdings ein Methodenpluralismus in der Geschichtswissenschaft vor. Das heißt nicht nur, dass Historikerinnen und Historiker ihre Methoden frei wählen, sondern auch, dass Methoden oftmals unweigerlich miteinander vermengt werden: Derjenige, der sich für marxistische Geschichtsschreibung interessiert, wird sich zwangsweise mit Sozialgeschichte beschäftigen, d.h. mit den Organisationsstrukturen, dem Zusammenleben, der sozialen Zusammensetzung und anderen sozialgeschichtlichen Aspekten des Proletariats.
Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Jan Seehusen
Lizenz: CC-BY-NC-SA
1) Lüdtke meint, es sei „eine der Absichten“ der ‚Alltagsgeschichte‘ gewesen, „die verächtliche Ignoranz von Fachhistorikern gegenüber der Laiensicht zu überwinden“ (Textseite 628). Definieren Sie vor dem Hintergrund dieses Zitats den unter Kapitel 1 geschilderten Begriff der ‚Alltagsgeschichte‘ und erklären Sie ihn anhand der von Lüdtke beispielhaft genannten Aufarbeitung der NS-Geschichte.
2) Auf den Textseiten 632-634 schildert Lüdtke die Auseinandersetzung der Alltagsgeschichte mit dem Marxismus. Beschreiben Sie diese Auseinandersetzung anhand des von Lüdtke genannten Beispiels des Proletariats.
3) ‚Mikrohistorie‘ ist neben der Alltagsgeschichte eine zweite Methode, deren verschiedene Definitionen Lüdtke in seinem Artikel beschreibt. Definieren Sie ‚Mikrohistorie‘ anhand der vorgestellten Theorie des Jacques Revel (Textseite 638) und geben Sie das danach geschilderte Beispiel der Angiolina Arru in eigenen Worten wieder.
4) Die letztgenannte Methode dieses Aufsatzes ist die ‚Historische Anthropologie‘. Beschreiben Sie die verschiedenen Herangehensweisen, die mit diesem Begriff verbunden sind (Textseite 640).
5) Für die Methode der Historischen Anthropologie ist die Definition wie Beschäftigung mit dem Begriff des ‚Symbols‘ (Textseite 642) zentral. Erläutern Sie die von Lüdtke genannte Definition des in den Geisteswissenschaften im Allgemeinen einflussreichen Forschers Clifford Geertz (Textseiten 642-643) und geben Sie ein Beispiel für solch ein Symbol an (Textseite 643).
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Autor_in: Jan Seehusen
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Forschungstradition des Autors
Prof. Dr. Alf Lüdtke ist Honorarprofessor für Historische Anthropologie an der Universität Erfurt. Lüdtke hat sich im Fachgebiet Neuere Geschichte und Zeitgeschichte habilitiert und definiert als eigene Forschungsschwerpunkte „Formen des Mitmachens und Hinnehmens in europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts“, „Arbeit als soziale Praxis: zur Verknüpfung von Produktion und Destruktion durch ‚Arbeit‘“ und „Erinnern und Mahnen – Vergessen und Verdrängen. Die Formen der Auseinandersetzung mit Krieg und Genozid in der Neuesten Zeit“. Herauszustellen ist, dass Lüdtke eine große Expertise in den Methoden der Geschichtswissenschaft besitzt; das wird bereits aus seiner Stellenbezeichnung deutlich. Darüber hinaus gilt er als führender Vertreter der Alltagsgeschichte.
Erläuterung missverständlicher, schwieriger und wichtiger Stellen für das Textverständnis
Lüdtkes Artikel ist gemäß der Überschrift in die drei Methoden eingeteilt, die behandelt werden: Kapitel 1-4 erläutern die Alltagsgeschichte, Kapitel 5 die Mikrohistorie und Kapitel 6-7 die Historische Anthropologie. Kapitel 8 stellt den Schluss des Artikels dar.
Zentral für das Verständnis des Artikels ist, dass zumeist nicht eine Definition dieser Methoden geliefert wird, sondern auch die Kontroversität der drei Methoden in der Geschichtswissenschaft dargestellt wird. So soll das Schlagwort ‚Politik der Geschichte‘ (Kapitel 1) „das Durchsetzen bestimmter Sichtweisen und Fragestellungen“ (Textseite 628) verdeutlichen, die Alltagsgeschichte gerade nicht aus dem Blickwinkel der historischen Fachwissenschaft, sondern aus Laiensicht betreiben. Anhand der Aufarbeitung der NS-Geschichte werde so deutlich, dass nicht mehr nur etwa die „Macht- und Herrschaftsapparate“ (Textseite 629) der Nationalsozialisten betrachtet würden, sondern auch die Frage nach der Mittäterschaft der Vielen im Vordergrund stände (Textseite 629). Zugleich hieße Alltagsgeschichte nach Lüdtke aber etwa auch, Kritik an der Hermeneutik als zentraler und konventioneller geistes- und geschichtswissenschaftlicher Textdeutungsmethodik zu üben (Textseite 630-631).
Diese Vorgehensweise des Autors setzt sich in der Beschreibung der anderen Methoden fort. ‚Mikro-Historie‘ nach Carlo Ginzburg habe z.T. die Rekonstruktion der „Einzelstimme eines frühneuzeitlichen Müllers“ (Textseite 636) geheißen, andere Forscher wie Poni, Levi und Grendi fokussierten sich im Gegensatz dazu auf ‚Wiederholungen‘ im Lebensablauf von Personen, also die Frage, ob es eine „(unterbewusst-)untergründige Struktur einzelner Lebensäußerungen“ (Textseite 637) gibt, die letztlich zu ähnlichem Handeln von Menschen in bestimmten historischen Situationen führt. Andere umfassendere mikrohistorische Untersuchungen konzentrierten sich laut Lüdtke daran anschließend auf sogenannte „Ensembles von Verhaltensweisen – von Heiratsstrategien und Gebürtlichkeit über Arbeitsorientierungen bis zu Bücherbesitz und Lektüreverhalten“ (Textseite 637). Als weitere Variante von Mikro-Historie nennt Lüdtke zuletzt die Definition von Jacques Revel (Textseite 638), die diese Methode als „Zoom“ (Textseite 638) beschreibt, also die Vergrößerung und Heraushebung eines bestimmten historischen Sachverhalts oder einer Persönlichkeit.
Die Historische Anthropologie ist eine in den Geschichtswissenschaften vielbeachtete Methode, die Lüdtke in den letzten Kapiteln des Artikels beschreibt. Gemein haben die auf Textseite 640 vorgestellten Ansätze, dass die conditio humana, also die Frage nach dem Urgrund des Menschseins, in verschiedenen Facetten menschlichen Handelns untersucht wird. Dies kann zum Beispiel die „Rekonstruktion von Körperlichkeit“ (Textseite 640) oder die Beschäftigung mit „instinktive[n] (Re-)Aktionsweisen“ (Textseite 640) heißen. Die Notwendigkeit der Methode der Historischen Anthropologie zeigt sich nach Lüdtkes Meinung auch in der Frage, welches menschliche Motiv hinter „Ausrottungs- und Raubkriegen“ (Textseite 641) steht und welcher Antrieb die Menschen zu der Zeit des Nationalsozialismus dazu gebracht haben mag, in den Konzentrationslagern mitzuarbeiten.