06 – Die Dunklen Jahre

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

06 – Die Dunklen Jahrhunderte

Wir gehen im Folgenden bei der Behandlung der Dunklen Jahrhunderte exemplarisch auf das Fürstengrab von Lefkandi ein, anschließend auf die Homerische Gesellschaft, also die Gesellschaft, die in den Epen entworfen wird und in etwa der Gesellschaft des achten und frühen siebenten Jahrhunderts entsprochen haben dürfte, also der Archaischen Gesellschaft.
In Euböa ist ein gewisser Aufschwung schon ab dem 11. Jh. zu greifen, der Handel mit dem Orient ist intensiv. In einer Notgrabung in Lefkandi kam 1981 ein prunkvolles Fürstengrab zum Vorschein, ein 45m langes Haus, 10m breit, offenbar aus dem 10. Jh. Das Haus war schon vor der Bestattung ca. 950 v. Chr. eingestürzt.
Ein Mann und eine Frau wurden hier mit einem Pferd in einem Tumulus bestattet, der im Haus aufgeschüttet wurde. Ganz klar handelt es sich um eine Bestattung innerhalb der Oberschicht. Eine Eisenklinge, eine Pfeilspitze und ein Schwert deuten auf eine Kriegeridentität hin. Die junge Frau war mit Goldschmuck bestattet worden. Eine weitere Grabkammer enthält vier Pferde. Diese Fürstenfamilie von Lefkandi war also reich, gesellschaftlich herausgehoben und pflegte intensive Kontakte zum Orient. Östlich vom Fürstengrab befindet sich ein Gräberfeld mit ebenfalls wohlhabenden Bestatteten. Dieses Gräberfeld ist auf das Heroengrab hin ausgerichtet. Beisetzungen fanden hier bis ins neunte Jahrhundert hinein statt. Wir greifen hier also eine differenzierte Sozialstruktur: Die Elite im Tumulus, die reicheren Gemeindemitglieder nahebei. Lefkandi ist reicher als jede andere Siedlung im Griechenland jener Zeit, was Euböa als Drehscheibe für den Orienthandel einmal mehr bestätigt. Wichtig ist, dass es also auch in den sogenannten Dunklen Jahrhunderten durchaus fürstliche Herrschaftsformen gab, die den bei Homer geschilderten ähneln. Für diese frühe Zeit ist keine mündliche Sagenkunst belegt, aber es ist möglich, dass an diesen Fürstenhöfen die ersten Heldenlieder mündlich vorgetragen wurden, die homerischen Gesänge also in diesem Kontext ihren Sitz im Leben haben.
Ich komme zur Gesellschaft des achten und siebenten Jahrhunderts und folge hier im Wesentlichen den Ausführungen Fritz Gschnitzers in seiner „Griechischen Sozialgeschichte“. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Gesellschaft um eine Aristokratie; alles basiert auf Nah- und Treuverhältnissen. Die Verhältnisse sind noch einfach, eine grundlegende Unterscheidung betrifft die Einteilung dieser Gesellschaft in Freie und Unfreie. Bei den Freien wird zwischen Einheimischen und Fremden unterschieden. Wir gehen nun von oben nach unten, also vom König über den Adel zum Volk. Schließlich gehen wir auch noch auf Abhängige und Sklaven ein.
Die Stellung des Königs ist relativ schwach, sie ist nur ein wenig aus dem Kreis der Adeligen herausgehoben. Der König überragt seine Standesgenossen an Reichtum und Macht, ist aber vom Adelsrat abhängig. Er ist als Geschäftsführer der Gemeinde auch für die Kriegführung zuständig. Daneben erfüllt er auch sakrale Funktionen und übt die Rechtsprechung aus. Seine Stellung ist erblich.
Der Kriegeradel ist einem strengen Ehrenkodex verpflichtet. Sich vor allen anderen auszuzeichnen, immer der Beste zu sein und die anderen zu überragen ist die Leitvorstellung, die die Ilias vorgibt (6.208; 11.783f.). Arete, also die Bestheit, gilt als Tugend. Status muss immer erkämpft und behauptet werden, einen Erbadel gibt es nicht vor dem Ausgang der Archaik, als der Adel sich nach unten abschließen will. Noch ist es entscheidend, dass man so herausragt, dass einem die Gemeinschaft Ehre erweist, das ist die time. Zu dieser Adelsethik gehört auch, dass die homerischen Helden die Handarbeit noch nicht scheuen. Sie arbeiten auf dem Feld mit und können auch zimmern.
Eine wichtige Institution ist die Gastfreundschaft nach außen, die Proxenie, die auf Gegenseitigkeit beruht und sich vererbt. Der griechische Adel ist also von Anfang an international. Die Adeligen holen sich ihre Frauen häufig aus dem Ausland und stärken so ihre internationalen Verbindungen. Nach innen sind die Verdienstfeste von entscheidender Bedeutung. Die Adeligen laden ihre Gefährten, ihre hetairoi, zu Gastmählern nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit ein. Nah- und Treuverhältnisse werden hier nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch begründet und ständig erneuert. Bei Raubzügen ist man auf die Kooperation seiner Standesgenossen angewiesen. Ein erfolgreicher und damit angesehener Adeliger musste also gut im Networking sein.
Die Hauptbeschäftigungen dieser Aristokraten waren Krieg, Raub und Jagd, aber auch Spiel, Gesang und Tanz. Feine höfische Sitte gehörte auch dazu. Wenn die Adeligen nicht im Krieg oder auf Beutezügen waren, dann maßen sie sich in sportlichen Disziplinen, wie etwa Wagenrennen, Faustkampf, Ringkampf, Wettlauf, Diskus- und Speerwerfen. Schon hier sieht man die Wettbewerbsethik der Griechen, ihre agonale Kultur und es verwundert nicht, dass die Olympischen Spiele angeblich 776 v. Chr. einsetzen, also schon zu Beginn der Archaischen Zeit.
Wir kommen nun zum Volk, also zu den nichtadeligen Freien. Sie untergliedern sich in Grundbesitzer und Grundbesitzlose. Politische Rechte sind faktisch auf die Grundbesitzer beschränkt. Eine Volksversammlung wird nur gelegentlich einberufen. Manchmal berät der Adelsrat auch vor dem Volk. Doch nur die Vornehmen ergreifen das Wort. Das Volk ist im Wesentlichen auf eine Zuschauerrolle beschränkt und äußert seine Meinung durch Schweigen, Murren oder Beifall. Die Volksversammlung erfüllt also eine Akklamationsfunktion.
Der Begegnungsraum zwischen Adel und Volk ist die Polis, die bei Homer schon deutlich zu greifen ist, v.a. in der Odyssee. Das Volk kämpft schwerbewaffnet im Krieg mit, allerdings zu Fuß. Die Frühform der Phalanx kommt bei Homer, realistischerweise, neben dem adeligen Einzelkampf vor.
Eine eigene Gruppe sind die Handwerker, die Demiurgen, die, obgleich grundbesitzlos, wichtige Aufgaben für die Allgemeinheit erfüllten, wie etwa Schmiede und Töpfer. Neben den sesshaften Handwerkern gab es auch fahrende Leute, die Spezialwissen anboten: Sänger, Seher, Ärzte, Herolde, Zimmerleute, Kunst- und Lederarbeiter und auch Kaufleute. Diese wandernden Menschen hatten eine ambivalente Stellung in der Gesellschaft, ihre Berufe waren erblich.
Unter den Grundbesitzern und den Handwerkern stehen die Grundbesitzlosen, die sich oftmals als freie Lohnarbeiter, Theten, verdingen müssen. Sie sind fast so verachtet wie Bettler. Eine Sonderstellung kommt den Fremden zu. Sie sind nicht rechtlos, stehen unter dem besonderen Schutz des Zeus, haben es aber schwerer, ihr Recht in der Fremde durchzusetzen.
Rechtlos waren die Sklaven. Der Ursprung der Sklaverei lag in der ganzen griechischen Geschichte immer in der Kriegsgefangenschaft.
Wurde eine Stadt erobert, wurden die Männer meist getötet, Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt, wurden also wie Beute behandelt. D.h. es gab viel mehr Sklavinnen als Sklaven. Männliche Sklaven, die in den Haushalten heranwuchsen, dienten oft als Hirten, Handwerker, manche wurden auch als Gutsverwalter eingesetzt. Neben diesen erworbenen Sklaven entstand in den Gebieten, in denen sich die neuen Eroberer (Dorer) die einheimische Bevölkerung abhängig gemacht hatten, eine Schicht von landsässigen Unfreien, die von der herrschenden Schicht streng geschieden waren: Das waren in Sparta die Heloten, in Kreta die Periöken, in Thessalien die Penesten. Homer erwähnt diese Großgruppen mit keinem Wort, da er ja die ruhmvolle Vorzeit der Helden schildern will.
Die archaische Gesellschaft gliedert sich in verschiedene soziale Gruppen. Kern sind die oikoi, die individuellen Haushalte. Die nächstgrößere Einheit ist der genos, also die Verwandtschaft, die mehrere Generationen zurückverfolgt werden kann. Ein genos umfasst mehrere oikoi.
Unterabteilungen des Stammes sind die Phylen. Es gibt drei dorische und vier ionische Phylen. Doch weisen sie keine überlokale Organisation auf und auch keine gentilizischen Unterabteilungen.
Die Phratrien, wörtlich Bruderschaften, sind Sozialverbände, die nicht auf Verwandtschaft beruhen. Vielleicht sind das die Gemeinschaften der hetairoi unter Führung einer oder zweier aristokratischer Familien, also eine Untergliederung der Phyle, aber eben nicht gentilizisch.
Deutlich erkennen wir Elemente der Kontinuität von der Archaischen zur Klassischen Zeit. An erster Stelle natürlich das Wertesystem. Hier ist Homer besonders wirkmächtig, dann die Kultur des Symposion, des vornehmen Gelages als Oberschichtenritual, das sich im Lauf der Zeit zusehends demokratisiert, und die Vorstellung von einer Gesellschaft als gift-giving society, also einer Gesellschaft, die sich wesentlich über den Austausch von Geschenken identifiziert, was den späteren Euergetismus und die Liturgien mitbegründen wird.

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