Homer bei Kallinos

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Kallinos; Homer
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Fr. 1 West – Original

μέχρις τεῦ κατάκεισθε; κότ᾽ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν,
ὦ νέοι; οὐδ᾽ αἰδεῖσθ᾽ ἀμφιπερικτίονας
ὧδε λίην μεθιέντες; ἐν εἰρήνῃ δὲ δοκεῖτε
ἧσθαι, ἀτὰρ πόλεμος γαῖαν ἅπασαν ἔχει;
… καί τις ἀποθνῄσκων ὕστατ᾽ ἀκοντισάτω.
τιμῆέν τε γάρ ἐστι καὶ ἀγλαὸν ἀνδρὶ μάχεσθαι
γῆς πέρι καὶ παίδων κουριδίης τ᾽ ἀλόχου
δυσμενέσιν: θάνατος δὲ τότ᾽ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ
Μοῖραι ἐπικλώσωσ᾽: ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω
ἔγχος ἀνασχόμενος καὶ ὑπ᾽ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ
ἔλσας τὸ πρῶτον μειγνυμένου πολέμου:
οὐ γάρ κως θάνατόν γε φυγεῖν εἱμαρμένον ἐστὶν
ἄνδρ᾽, οὐδ᾽ εἰ προγόνων ᾖ γένος ἀθανάτων.
πολλάκι δηϊοτῆτα φυγὼν καὶ δοῦπον ἀκόντων
ἔρχεται, ἐν δ᾽ οἴκῳ μοῖρα κίχεν θανάτου:
ἀλλ᾽ ὁ μὲν οὐκ ἔμπης δήμῳ φίλος οὐδὲ ποθεινός,
τὸν δ᾽ ὀλίγος στενάχει καὶ μέγας, ἤν τι πάθῃ:
λαῷ γὰρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος ἀνδρὸς
θνῄσκοντος, ζώων δ᾽ ἄξιος ἡμιθέων:
ὥσπερ γὰρ πύργον μιν ἐν ὀφθαλμοῖσιν ὁρῶσιν:
ἕρδει γὰρ πολλῶν ἄξια μοῦνος ἐών

Hom. Il., 15. Gesang, V. 494-499

ἀλλὰ μάχεσθ᾽ ἐπὶ νηυσὶν ἀολλέες: ὃς δέ κεν ὑμέων
βλήμενος ἠὲ τυπεὶς θάνατον καὶ πότμον ἐπίσπῃ
τεθνάτω: οὔ οἱ ἀεικὲς ἀμυνομένῳ περὶ πάτρης
τεθνάμεν: ἀλλ᾽ ἄλοχός τε σόη καὶ παῖδες ὀπίσσω,
καὶ οἶκος καὶ κλῆρος ἀκήρατος, εἴ κεν Ἀχαιοὶ

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung: J.M. Edmonds; A.T. Murray
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Übersetzung

How long will ye lie idle? When, young men, will ye show a stout heart? Have ye no shame of your sloth before them that dwell round about you? Purpose ye to sit in peace though the land is full of war?
… and let every man cast his javelin once more as he dies. For ‚tis an honourable thing and a glorious to a man to fight the foe for land and children and wedded wife; and death shall befall only when the Fates ordain it. Nay, so soon as war is mingled let each go forward spear in poise and shield before stout heart; for by no means may a man escape death, nay not if he come of immortal lineage. Oftentime, it may be, he returneth safe from the conflict of battle and the thud of spears, and the doom of death cometh upon him at home; yet such is not dear to the people nor regretted, whereas if aught happen to the other sort he is bewailed of small and great. When a brave man dieth the whole people regretteth him, and while he lives he is as good as a demigod; for in their eyes he is a tower, seeing that he doeth single-handed as good work as many together.

Hom. Il., 15. Gesang, V. 494-499

Nay, fight ye at the ships in close throngs, and if so be any of you, smitten by dart or thrust, shall meet death and fate, let him lie in death. No unseemly thing is it for him to die while fighting for his country. Nay, but his wife is safe and his children after him, and his house and his portion of land are unharmed, if but the Achaeans be gone with their ships to their dear native land.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Leitfragen:

1) Wer war Kallinos und wovon handelt der Quellentext?

2) Welche homerischen Motive lassen sich bei Kallinos finden?

3) Welche Schlussfolgerungen lässt die Verwendung homerischer Motive bei Kallinos zu?

Kommentar:

Der archaische Dichter Kallinos gilt als der erste Dichter von Elegien, einer Gedichtform in elegischem Versmaß. Seine Lebenszeit wird von den antiken Quellen in die Mitte des 7. Jh. v. Chr. datiert. Aus den Quellen geht zudem hervor, dass seine Herkunft die Stadt Ephesos an der kleinasiatischen Küste der Ägäis war. Kallinos bewegte sich wohl im Kreise der Oberschicht, wo er bei sogenannten Symposien, Gastmählern unter Standesgenossen, seine Gedichte vortrug. Von seiner Dichtung ist wenig erhalten. Neben drei kürzeren Fragmenten von ein bis drei Versen, existiert aber ein längeres Fragment von 21 Versen, das hier kommentiert werden soll. In diesem Fragment ruft Kallinos seine Zuhörer dazu auf, in den Krieg gegen die Kimmerier, einem kriegerischen Reitervolk aus Südrussland, zu ziehen. Ein Angriff der Kimmerier stand vermutlich kurz bevor.

Das kallinische Fr. 1 kann als klassische Paränese, d.h. als Mahnrede, bezeichnet werden. Hier bezieht sich die Paränese auf das Kämpfen. Kampfparänesen hatten zum Ziel, die mangelnde Kampfbereitschaft der Zuhörer aufzuheben oder bestehende Kampfbereitschaft zu verstärken. Dies beabsichtigt Kallinos mit seinem Gedicht, denn seine Zuhörer scheinen noch nicht davon überzeugt zu sein, tatsächlich in den Krieg gegen die Kimmerier zu ziehen. So mahnt er seine jungen Zuhörer davor, nicht träge dazusitzen, als wäre Frieden, sondern fordert sie dazu auf, in den Kampf zu ziehen und bereit zu sein, für die Vaterstadt zu sterben. Dieses Opfer zu bringen und damit Frau und Kinder zu schützen, so prophezeit Kallinos, bringe Ruhm und Ehre. Interessant ist, dass Kallinos‘ Rhetorik dabei stark an Homer erinnert. Bei einem Vergleich mit dem Auszug aus der sogenannten Feldherrenrede des Hektor im 15. Gesang der Ilias wird dies besonders deutlich (vgl. obigen Quellenausschnitt): Auch Hektor prophezeit seinen trojanischen Kämpfern Ehre, wenn sie Heimat, Gattin und Kinder bis zum Tode verteidigen. Es wird erkennbar, dass Kallinos homerische Motive aufgreift und sie in charakteristischer Weise abwandelt. Für das eigene Land einzutreten und damit gleichzeitig die Familie vor dem Feind zu schützen, ist homerisch. Kallinos geht hier sogar noch über Homer hinaus, wenn er das Verteidigen der Heimat durch das Kämpfen für die Heimat ersetzt. Gleiches gilt für das Sterben im Kampf: Sowohl Kallinos als auch Hektor verdeutlichen ihren Zuhörern, dass das Sterben für die Heimat ehrenhaft sei. Kallinos nennt es sogar eine „herrliche Tat“ (V. 6). Insgesamt sind die Verse des Kallinos in ihrem Inhalt und Ablauf härter und kantiger als die homerischen. Dennoch ist die Übernahme homerischer Motive hier eindeutig erkennbar.

Wie deutlich geworden ist, greift Kallinos die homerischen Motive in seinem Gedicht auf und bettet sie an geeigneten Stellen in sein Gedicht ein. Er gebraucht also die homerische Sprache, um auf Ereignisse, die gegenwärtig in seiner Heimatstadt passierten, einzugehen. Mit der Anspielung an die Tugenden der homerischen Helden, wie der Schutz der Familie und das Sterben für die Heimat, möchte Kallinos seine Zuhörer dazu bewegen, in den Krieg zu ziehen. Er benutzt also homerisches Vokabular, um sein Ziel zu erreichen. Dazu passte er die homerischen Motive ganz konkret an den Erwartungshorizont seines Publikums, Symposiasten des 7. Jh. v. Chr., an. Auch die Epheser blicken der drohenden Gefahr des Feindes entgegen und müssen sich nun wappnen. Die Ankunft der Kimmerier steht kurz bevor, und die Heimatstadt Ephesos ist in Gefahr. Die Situation, die Homer in der Ilias zeichnet, ähnelt der derzeitigen Lage in Ephesos. Kallinos verwendet hier homerische Motive, weil seine Zuhörer das Gesagte nun mit ihrer Welt in Verbindung bringen und auf die aktuelle Situation, also den bevorstehenden Angriff der Kimmerer, beziehen können. Dies lässt wiederum grundsätzlich darauf schließen, dass sowohl Kallinos selbst als auch seinem Publikum die homerischen Epen vertraut waren und die homerischen Helden als Vorbilder galten. Nur so konnte Kallinos sicher sein, eine gewisse Wirkung mit seiner Wortwahl erzielen zu können. Vielleicht zirkulierten sogar schon erste Skripte der homerischen Epen. Auch wenn der Bekanntheitsgrad der homerischen Texte nicht abschließend eruiert werden kann, zeigt Kallinos‘ Verwendung der homerischen Motive doch, dass die Epen im Ephesos des 7. Jahrhunderts v. Chr. bekannt gewesen sind.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Homer“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
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