06 – Die Literatur der Kaiserzeit

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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Römische Geschichte II: Die Kaiserzeit

06 – Die Literatur der Kaiserzeit

In der Kaiserzeit gelangen alle literarischen Gattungen außer dem Drama zu einer Blüte, und dies sowohl im lateinischen als auch im griechischen Bereich. Es ist hier ganz unmöglich, alle Autoren und Werke auch nur zu nennen, aber es soll zumindest ein erster Einblick in das reiche Schaffen der Literaten in den ersten beiden Jahrhunderten gegeben werden. Ich möchte zuerst auf einige lateinische, dann auf griechische Autoren eingehen. Grundsätzlich gilt, dass sich die anspruchsvolle Literatur der Kaiserzeit auf welche Weise auch immer mit dem neuen Regierungssystem des Prinzipats auseinandersetzt, und die Intellektuellen ganz verschiedene Antworten auf die veränderte Rolle der politischen Eliten finden, denen sie selbst oft angehörten.
Im Bereich des Epos schafft Vergil mit seiner Aeneis zu Beginn des Prinzipats ein Nationalepos, das in seiner Wirkmächtigkeit gar nicht überschätzt werden kann. Er gibt den Römern eine bedeutende mythologische Herkunft (von den Trojanern) und stellt sie damit auf eine Stufe mit den Griechen. Vergil avancierte im Mittelalter zum Dichterfürsten schlechthin. An seinen Texten lernten Generationen von Schülern im Mittelalter Latein.
Im Bereich der Lyrik lotet Horaz mit seinen Oden und Epoden die Grenzen dessen aus, was in der lateinischen Sprache ausgedrückt werden kann. Die Elegien des Properz und Tibull gehören zur Weltliteratur. Ovid hat mit seinen Metamorphosen einen bleibenden Beitrag zur Kanonisierung antiker Mythologie geliefert. Mit seiner schlüpfrigen Ars amatoria zog er jedoch den Groll des Augustus auf sich und musste ins Exil nach Tomi am Schwarzen Meer. Persius, der sich Horaz zum Vorbild nimmt, schreibt sechs glänzende Satiren und verstirbt jung unter Nero. Lucans Pharsalia, eigentlich de bello civili, ist ein grausiges, groß angelegtes Epos über den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius. Nicht etwa Actium wird gefeiert, sondern Pharsalos kommemoriert, nicht Caesar gehuldigt, sondern der unterlegene Cato. Kühn für ein Epos baut er keinen Götterapparat ein. Möglicherweise da er den Neid Neros auf sich zog bzw. in die Pisonische Verschwörung verwickelt war, wurde er zum Selbstmord gezwungen. Martial aus Hispanien ist der Meister des knappen Epigramms, der bissigen Pointe, der in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts bei allen Kaisern antichambrierte, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Juvenal schließlich ist der Meister der lateinischen Satire. Berühmt ist seine sogenannte Weibersatire, die sich wohl nicht auf alle Frauen, sondern lediglich auf die Angehörigen der Oberschichten bezieht.
Im Bereich der Historiographie schafft Livius, der in augusteischer Zeit schreibt, das, was Vergil in der Epik leistet. Er nimmt die älteren annalistischen Traditionen auf und schreibt die bis heute allgemeingültige Geschichte der römischen Republik als eine Art Nationalgeschichtsschreibung zur Erbauung seiner Leser. Livius‘ Werk überhöht und schönt die römische Frühgeschichte und die Republik, sie stellt die Tugenden der Vorfahren deutlich heraus und will somit für die Gegenwart Exempla liefern. Quintus Curtius Rufus schreibt mit seiner Geschichte Alexanders des Großen in lateinischer Sprache eher Unterhaltungsliteratur. Die Epitome des Florus, der aus Africa stammte, ist ein wichtiges Geschichtswerk hadrianischer Zeit und liefert eine Ereignis- und Kriegsgeschichte der Römer bis Augustus. Der ebenfalls aus Nordafrika stammende Sueton legte eine Biographiensammlung der iulisch-claudischen Kaiser und der Flavier vor, die immer nach dem gleichen Schema aufgebaut sind. Obwohl hier auch viel Klatsch enthalten ist (Sueton schrieb bewusst zur Unterhaltung), sind die Informationen doch eine wichtige Quelle für das erste Jahrhundert und unerlässlich für den Abgleich mit Tacitus und Cassius Dio.
Mit Tacitus greifen wir den Höhepunkt der lateinischen Historiographie überhaupt. Er ist an eine Seite mit Thukydides im griechischen Bereich zu stellen, was stilistische Brillanz, gedankliche Durchdringung des Stoffes, methodische Ansprüche und Wahrheitsanspruch angeht. Quasi als Fingerübung beginnt er mit kleineren Werken, dem Agricola, eine Schrift, die seinem Schwiegervater und dessen militärischen Aktionen in Britannien huldigt, der Germania, einer kurzen ethnographischen Schrift, die ein idealisiertes Germanenbild entwirft, um den dekadenten Römern einen Spiegel vorzuhalten, und schließlich dem Dialogus de oratoribus, im ciceronischen Stil verfasst, der das Wesen der Redekunst unter dem Prinziapt analysiert. Tacitus‘ große Geschichtswerke sind die Historien, in denen der Bürgerkrieg des Vierkaiserjahres geschildert wird sowie die Annalen, welche die iulisch-claudisch Zeit zum Gegenstand haben. Die Annalen stellen unsere Hauptquelle für die römische Geschichte des ersten Jahrhunderts n. Chr. dar. In beiden Werken offenbart sich Tacitus‘ zutiefst pessimistisches Geschichts- und Menschenbild. Er sieht die Strukturschwächen des Prinzipats und bedauert den Verlust der Republik, weiß aber auch, dass das Rad der Geschichte nicht mehr zurückgedreht werden kann. Der nostalgische Blick in die Vergangenheit bringt nichts, denn eine Rückkehr zur Republik würde sofort wieder Bürgerkriege auslösen, nichts wäre gewonnen. Aus dem Dilemma, einer bedrückenden Gegenwart keine Alternative gegenüberstellen zu können, gibt es keinen Ausweg, die Annalen enden in der Aporie.
Kennzeichen der Zeit sind auch Sammelleidenschaft und enzyklopädische Interessen. Immer wieder versuchen Intellektuelle, das Wissen der Zeit zu bestimmten Themen aufzubereiten und somit einen Beitrag zum kulturellen Leben ihrer Zeit zu leisten. Quintilian sortiert und bietet das gesamte rhetorische Wissen der Antike in seiner groß angelegten Ars oratoria dar. Plinius der Ältere legt in seiner Naturkunde, naturalis historia, eine immense Stofffülle zur Natur vor. Aulus Gellius schließlich kleidet als Enzyklopäde das Wissen der Zeit nicht in eine Abhandlung ein, sondern in Gelehrtengespräche, die anlässlich eines fiktiven Gastmahls stattfinden, den sogenannten Noctes Atticae.
Die Epistolographie erreicht in der Kaiserzeit mit Plinius dem Jüngeren ihren Höhepunkt, der uns zehn Bücher Briefe in rhetorisch brillantem Latein hinterlassen hat. Neun Bücher davon sind Privatkorrespondenz, die aber sehr wohl auch zur Publikation gedacht waren und einige Schätze enthalten, so etwa Briefe an Sueton, Tacitus, die Schilderungen seiner Landvillen und, Weltliteratur, die Beschreibung des Vesuvausbruchs und des Todes seines Onkels Plinius des Älteren. Bedeutsam für die Verwaltungs- und Provinzialgeschichte des römischen Reiches ist das zehnte Buch, der Briefwechsel, den Plinius als Statthalter und Sondergesandter des Kaisers in Bithynien und Pontos mit Kaiser Trajan geführt hat. Wir erleben hautnah die Sorgen eines Statthalters, die Themen, mit denen er sich beschäftigen muss und seine Unsicherheiten, deretwegen er sich an den Kaiser wendet. Und spektakulärerweise sind uns hier auch viele Antworten Trajans erhalten, die einzigen direkten Stellungnahmen eines römischen Kaisers zur Provinzialverwaltung, die wir haben. Höhepunkt des zehnten Buches ist der Briefwechsel, den Plinius mit Trajan über die Christenfrage in Bithyinien und Pontos führt.
Mit dem aus Spanien stammenden Seneca greifen wir den bedeutendsten lateinisch schreibenden stoischen Philosophen der Kaiserzeit. Er wirkte als Prinzenerzieher Neros, bis dieser sich von ihm emanzipierte. In seinen Dialogen und Epistulae morales ad Lucilium vertritt er ein humanes und kosmopolitisches Menschenbild. Er sieht z. B. die Sklaven als Menschen an. Aufgrund seiner angeblichen Teilnahme an der Pisonischen Verschwörung wurde er von Nero gezwungen, sich das Leben zu nehmen.
Zeitgenosse Senecas war auch Petron, der als arbiter elegantiae, also als Kenner in Stilfragen, als Party-Organisator am neronischen Hof tätig war. Seine literarhistorische Leistung liegt in der Schaffung des, soweit wir wissen, ersten lateinischen Romans, eines pikaresken Romans, der uns leider nur in Fragmenten erhalten ist. In diesem Satyricon ist der steinreiche Freigelassene Trimalchio innerhalb der Cena Trimalchionis, des Gastmahls des Trimalchio, eine Satire auf ungebildete Neureiche und arrogante Parvenüs, die offenbar typisch für die Zeit waren. In einigen Zügen Trimalchios lassen sich Charaktereigenschaften Neros erkennen, auch die Architektur seiner Villa mit einer drehbaren Rotunde spielt wohl auf Neros Goldenes Haus an. Es ist unklar, ob Nero Teile des umfangreichen Textes kannte und wenn ja, ob er die Anspielungen verstand. Fakt ist, dass auch Petron, wie sein stoischer Gegenpart Seneca, Selbstmord begehen musste. Der zweite lateinische Romancier, dem wir den einzigen vollständig erhaltenen lateinischen Roman, die Metamorphosen oder den Goldenen Esel, zu verdanken haben, ist Apuleius. Aus dem nordafrikanischen Madauros stammend wirkte er später als Anwalt in Rom. Sein Schelmenroman handelt vom jungen und neugierigen Lucius, der aufgrund eines Fehlers bei der Magieausübung in einen Esel verwandelt wird. Als solcher erlebt er mannigfache Abenteuer und schildert uns ein Kaleidoskop von provinzialem Leben in der römischen Kaiserzeit. Im berühmten 11. Buch wird Lucius aufgrund seiner Hinwendung zur Göttin Isis in menschliche Gestalt zurückverwandelt. Der Roman kann auf unterschiedlichste Art und Weise interpretiert werden, v.a. das 11. Buch, das sich mit dem Isis-Kult beschäftigt, gibt nach wie vor große interpretatorische Rätsel auf.
Apuleius gilt als Exponent der sogenannten Zweiten Sophistik im lateinischen Westen. Im griechischen Osten gab es jedoch viel mehr Sophisten, also Intellektuelle, die bewusst die Sprache des klassischen Attisch des 5. und 4. Jhs. v. Chr. nicht nur literarisch, sondern auch mündlich nachahmten. Starredner zogen von Stadt zu Stadt und deklamierten in attischem Griechisch zu klassischen Themen, etwa zu den Perserkriegen, was die Zeitgenossen aber kaum mehr verstanden. Es geht hier beileibe nicht nur um Bildungsdünkel, um die Zurschaustellung der eigenen kulturellen Überlegenheit über die Zuhörer, sondern auch um die Performanz und damit die Affirmation des hohen sozialen Status, den diese Redner genossen. Indem die Zuhörer diese Redner bewunderten, festigten sie deren gesellschaftlich und kulturell überlegene Position. Bedeutende Redner aus Kleinasien, die uns viel hinterlassen haben, sind Dio Chrysostomos und Aelius Aristeides, der einen Lobpreis auf Rom verfasst hat. Philostrat verfasste unter den Severern sogar eine Sammlung von Biographien über die Sophisten und ihre Errungenschaften.
In der Philosophie galt Epiktet als wichtiger Lehrer der Stoa. Sein Handbüchlein der Moral war wichtige Erbauungsliteratur in Spätantike und Früher Neuzeit. Fragmente wurden von Arrian überliefert. Ebenso zur Stoa zählen die Selbstbetrachtungen Marc Aurels, des einzigen Kaisers, von dem wir philosophische Gedankengänge überliefert haben. Marc Aurel rang sich diese unzusammenhängenden und zum Teil auch widersprüchlichen Aphorismen im Feldlager ab, denn die meiste Zeit musste er als Kaiser an der Nordgrenze gegen die Markomannen kämpfen. Eben weil diese Sentenzen private Aufzeichnungen und nicht zur Publikation bestimmt waren, ermöglichen sie uns einen unverstellten Einblick in das Denken Marc Aurels. Führungskräfte von Friedrich dem Großen bis Helmut Schmidt haben die Selbstbetrachtungen immer mit Gewinn gelesen.
Im Osten blühte aber auch die historische Prosa. Arrian beschrieb in seiner groß angelegten Anabasis den Zug Alexanders des Großen. Schon im Titel spielt Arrian auf Xenophons Anabasis an und suchte diese zu übertreffen. Appian schreibt im 2. Jh. 24 Bücher Rhomaika, eine Geschichte der Mittelmeerregionen bis zur römischen Eroberung. Hauptsächlich ist das eine Geschichte Italiens von den Gracchen bis 36 v. Chr. und damit eine wichtige Quelle für die Bürgerkriegszeit. Große Historiker sind weiter Flavius Josephus, der im Jüdischen Krieg die äußerst brutale und folgenreiche Auseinandersetzung Roms mit dem Judentum 66-70 n. Chr. beschreibt inklusive der Zerstörung Jerusalems und des Tempels sowie der Senator Cassius Dio, der unter den Severern eine groß angelegte römische Geschichte schrieb, die neben Tacitus und Sueton unsere Hauptquelle für das römische Kaisertum darstellt.
Besondere Erwähnung verdienen noch Plutarch, Pausanias und Lukian von Samosata. Plutarch war ein Polyhistor, einer der ganz großen Gelehrten des Altertums, der ein beinahe unüberschaubares Werk hinterlassen hat. Historisch wichtig sind v.a. seine Parallelbiographien, in denen er einem großen Griechen jeweils einen großen Römer gegenüberstellt. Auch ihm kommt es auf moralische Geschichtsschreibung an, auf die Zurschaustellung von exempla, anhand derer sich die Leser schulen können. Gerade das Aufeinanderbeziehen von griechischen und römischen Politikern zeigt, wie weit das Reich im zweiten Jahrhundert zusammengewachsen war und zumindest auf kultureller Ebene doch eine gewisse Koine, eine Einheit darstellte.
Pausanias schließlich hinterließ uns in seiner Periegesis kunsthistorische Schilderungen der wichtigsten Denkmäler Griechenlands, die er auf seinen Reisen besichtigte. Er gilt als Baedeker der Antike. Viele Denkmäler, die nicht mehr existent sind, wie etwa die Zeusstatue von Olympia, kennen wir oft nur durch ihn.
Lukian von Samosata am Euphrat ist einer der größten Spötter griechischer Zunge. Im zweiten Jahrhundert reiste er bis Gallien. Er verfasste Satiren, v.a. satirische Dialoge der Götter- und Hetärengespräche sowie Parodien. Weil seine Texte voller Ironie sind, die wir gar nicht immer erkennen, ist die Interpretation seiner Werke bis heute schwierig und oft umstritten.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Literatur der Kaiserzeit in Ost wie West von folgenden vier Zügen gekennzeichnet ist:
1. Einer Auseinandersetzung, oftmals indirekt, mit dem neuen Regierungssystem.
2. Einer akribischen Sammlertätigkeit, die oftmals in Werken von enzyklopädischer Breite dargeboten wird, offenbar um sich des Wissensstandes der Zeit zu vergewissern.
3. Einer eindringlichen Reflexion über die Vergangenheit.
4. Einer oftmaligen Hinwendung zu archaisierenden Themen und Motiven. Das Archaisieren geht oft bis in die Sprache hinein, so dass wir im zweiten Jahrhundert immer noch im Wesentlichen Attisch lesen, obwohl die Menschen bereits ganz anders sprachen. Auch diese thematische und sprachliche Rückschau, bzw. der Konservativismus, der sich hierin ausdrückt, dient wohl der Orientierungsfindung in einer immer unübersichtlicher werdenden „globalisierten“ Welt.

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