04 – Der Peloponnesische Krieg

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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Griechische Geschichte II: Die Klassik

04 – Der Peloponnesische Krieg

Am athenisch-spartanischen Dualismus entzündete sich schließlich ein Flächenbrand, der fast die ganze griechische Welt, ja sogar das persische Kleinasien erfassen sollte und der als Peloponnesischer Krieg in die Geschichte eingegangen ist. Wir lassen ihn traditionell 431 v. Chr. beginnen und 404 enden. Den Zeitgenossen waren diese Zäsuren nicht bewusst, denn es gab sowohl vorher als auch nachher kriegerische Auseinandersetzungen mit Sparta. Die Bezeichnung geht wohl auf athenische Autoren des 4. Jahrhunderts zurück; der Begriff rührt von athenischer Perspektive her. Der Krieg gliedert sich in drei sehr distinkte Phasen:
Die erste Phase ist der Archidamische Krieg, der 421 mit dem Nikias Frieden abgeschlossen wurde. Benannt ist er nach dem spartanischen General Archidamos, der fast jedes Jahr in Attika einfiel.
Die zweite Phase umschreibt die Sizilische Expedition, die als verheerende Niederlage für die Athener gewissermaßen den Wendepunkt im Krieg markiert.
Die dritte und letzte Phase ist dann der sogenannte Dekeleische Krieg von 413-404. Diese Schlussphase ist geprägt von der Intervention Persiens und dem Aufstieg Spartas zur Seemacht. Dekeleia ist eine Festung im Norden Attikas, die die Spartaner besetzt hielten und von der aus sie immer wieder Einfälle nach Attika machten. Unser Gewährsmann für den Peloponnesischen Krieg ist Thukydides, mit dem gemeinhin die kritische Geschichtsschreibung beginnt. Thukydides schreibt aus persönlicher Betroffenheit heraus und mit größtem Ernst. Seine Darstellung gehört zu den pessimistischsten Werken der Weltliteratur. Thukydides analysiert alle Parameter des Krieges in paradigmatischer Weise, wie etwa Bürgerkrieg, Massenpsychosen, den Verlust aller Hemmschwellen, so dass seine Darstellung zu einem Besitz für immer werden soll, wie er selbst schreibt. Der Peloponnesische Krieg ist nicht nur wichtig, weil dies der antike Krieg ist, den wir durch Thukydides am besten kennen, sondern auch weil er eine tiefe Zäsur in der griechischen Geschichte darstellt. Die Kriegsparteien waren in Folge dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzungen so erschöpft, dass das stets labile Kräftegefüge der griechischen Poleis im 4. Jahrhundert noch instabiler wurde, was letztlich Makedonien begünstigte. Ohne den Peloponnesischen Krieg hätte es also wahrscheinlich auch keinen Alexander und keinen Hellenismus gegeben. Herausragende Passagen im Werk des Thukydides, die zur Weltliteratur gehören, sind z. B. die Beschreibung der Pest in Athen 430 (2,47ff.) und der Bürgerkrieg auf Korkyra 427 (3,70-83). Thukydides unterscheidet ganz klar die äußerlichen Anlässe und die vorgeschobenen Beweggründe von den tieferliegenden, eigentlichen Ursachen, nämlich das zunehmende Misstrauen Spartas gegenüber der Hegemonialmacht Athen.
Zur unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges gehört der Konflikt zwischen Korinth und Korkyra sowie zwischen Athen und Poteidaia. In diesem Rahmen kann hier nicht genauer auf diese Konflikte eingegangen werden, wichtig ist jedoch, dass Korinth hier zweimal von den Athenern ausgestochen wurde. Viel diskutiert wurde in der Forschung auch das megarische Psephisma, also die Handelsblockade Athens gegen die Nachbarstadt Megara und die Rolle, die Perikles dabei spielte. Das Handelsembargo schließt Megara vom Piräus, von der Agora und von den Häfen des Seebunds aus. Das war zwar keine Hungerblockade, aber doch eine empfindliche Schädigung des Handels, auf den Megara angewiesen war. Letzten Endes ist die Frage unlösbar, inwieweit Perikles mit dem megarischen Psephisma den Kriegsausbruch provozierte, indem es Sparta direkt auf den Plan rief. Bis zuletzt gab es noch Verhandlungen, doch es ging nur noch darum, dem Gegner, propagandistisch wirksam, die Schuld am Kriegsausbruch zuzuweisen.
Als erste Kampfhandlung überfällt Theben Plataiai, ein offener Bruch des alten Friedensvertrages und eine Aktion, die so wohl gar nicht mit Sparta abgesprochen war. Eine Schuldzuweisung ist unmöglich; alle Akteure hatten mehrmals die Chance, deeskalierend zu wirken, agierten aber stattdessen aggressiv. Auf beiden Seiten gab es Kriegsbefürworter und Kriegsgegner, aber die Kriegstreiber setzten sich auf beiden Seiten durch mit ihren dauernden Hinweisen auf, modern gesprochen, die Symbolik der Macht und den Gesichtsverlust, den Nachgiebigkeit bedeutet hätte. Das symbolische Kapital, das man bei Entspannungspolitik zu verlieren glaubte, wog schwer und zog schließlich beide Parteien in den großen Krieg hinein.
Beide Kriegsparteien versuchten, ihre jeweiligen Stärken auszuspielen. Archidamos verwüstete Jahr für Jahr Attika, Perikles vermied die offene Feldschlacht gegen die Spartaner ganz bewusst, weil hier die athenischen Hopliten unterlegen gewesen wären. Stattdessen zog sich die Landbevölkerung hinter die Langen Mauern Athens zurück und musste von dort aus mitansehen, wie ihre Höfe in Flammen aufgingen. Die Athener kreuzen mit ihrer Flotte vor der Peloponnes und verwüsten Küstenstriche. Diese Strategie des Perikles verschonte die Athener vor größeren Verlusten, brachte aber für Athen keinen Durchbruch. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse hinter den Langen Mauern brach sehr bald die Pest aus, der auch Perikles selbst 429 zum Opfer fiel. Die medizinisch exakte Pestbeschreibung des Thukydides gehört zur Weltliteratur. Die medizinhistorische Forschung konnte bis heute nicht ergründen, um welche Krankheit es sich genau handelte. Offenbar sind die Erreger ausgestorben. Viel wichtiger ist jedoch, was Thukydides mit dieser Schilderung bezwecken will: Die Pest ist letzten Endes eine Metapher für den Verfall jeglicher sozialer und moralischer Ordnung und damit zugleich auch eine Metapher für die Vorgänge in einem Krieg generell. Die um sich greifende, ja ansteckende Brutalität und Verrohung in menschlichen Ausnahme- und Extremsituationen, wie sie vielleicht nur im Krieg vorkommen, konnte im Bild der Pest auf eine höhere, allgemeingültigere Ebene gehoben werden. Der Krieg war eine schwere Krankheit, die eines Arztes bedurfte, der aber nicht da war. Bedeutsam ist, dass Thukydides die Pestbeschreibung unmittelbar auf den Epitaphios Logos folgen lässt, Perikles‘ Gefallenenrede auf die Kriegstoten des ersten Kriegsjahres, auch dies ein Gipfelpunkt der Weltliteratur. Die Gefallenenrede ist eine Idealisierung, man könnte auch sagen, ein glänzendes Propagandastück für das perikleische Athen des 5. Jahrhunderts, das Thukydides untergehen sah. Geschrieben wohl 404, beschwört Thukydides noch einmal den Glanz Athens aus der Retrospektive. Gleich danach lässt er die Pestbeschreibung folgen, als wolle er ausdrücken, dass idealisierende Propaganda von der grausamen Realität immer eingeholt werde.
424 gelang den Athenern ein großer Coup, die Gefangensetzung vieler spartanischer Hopliten auf Sphakteria bei Pylos, die von nun an Athens Geiseln waren. Bald kam es auch zu Stellvertreterkriegen in vielen griechischen Poleis, also zu Bürgerkriegen zwischen demokratisch Gesinnten, die bei Athen bleiben bzw. in den athenischen Machtblock hinein wollen, und oligarchisch Gesinnten, die im Peloponnesischen Bund bleiben bzw. aus dem Delisch-Attischen Seebund austreten wollen. Selbstverständlich überlagern sich hier politische und soziale Konflikte in den jeweiligen Poleis. Die schlimmste Auseinandersetzung dieser Art fand auf Korkyra statt (427-425), wo sich die Bevölkerung im Richtungsstreit gegenseitig geradezu zerfleischte. Mehrmals gewann eine Seite die Oberhand. Die schlimmsten Greueltaten wurden immer dann verübt, wenn eine der beiden Großmächte mit einer Flotte vor Ort war, so dass eine Seite massiv unterstützt werden konnte. Schließlich setzten sich die Demokraten durch, die Oligarchen wurden alle niedergemetzelt. Thukydides schreibt hier seine sogenannte Pathologie des Krieges (3,69-84); Korkyra steht so exemplarisch für die Geschehnisse in Bürgerkriegen, quer durch alle Epochen und Kulturen. Bei den staseis und den Kampfhandlungen zwischen den Kontrahenten wurden zunehmend auch religiöse Tabus gebrochen. In noch nie dagewesener Häufigkeit kam es zu Massenabschlachtungen gegen alle Gesetze und Normen. Eine allgemeine Verrohung griff um sich.
Als auf athenischer Seite Kleon und auf spartanischer Seite Brasidas vor Amphipolis fielen, kam es 421 zum Nikias-Frieden, der den Archidamischen Krieg abschloss. Darin wurde der territoriale Besitzstand vor dem Krieg festgeschrieben. Nun betrat aber der ehrgeizige Alkibiades die politische Bühne Athens und tat alles, um den ohnehin brüchigen Frieden zwischen Athen und Sparta zu hintertreiben. Schon bald kam es auf der Peloponnes wieder zu Kampfhandlungen, der Friede war nach kurzer Zeit nur noch Makulatur. Vielleicht ist Alkibiades auch verantwortlich für das brutale Vorgehen Athens gegen die kleine und neutral gebliebene Kykladeninsel Melos (416/15). Hier schiebt Thukydides den berühmten Melier-Dialog ein, in dem arrogante Macht höhnisch und zynisch gegen Recht und Moral argumentiert. Die Melier, so die Athener, hätten gar keine andere Wahl als zu kapitulieren. Als sie dies nicht tun, töten die Athener alle Männer und versklaven die Frauen und Kinder einer vormals freien und neutralen griechischen Insel.
Um diese Zeit definierte Alkibiades Sizilien als athenische Einflusssphäre. Sizilien war die ganze Antike hindurch eine Getreidekammer. Wenn man es beherrschte, konnte man die Peloponnesier von der Getreidezufuhr abschneiden und zudem Korinth schädigen. Alkibiades stellte den Athenern auch große Reichtümer vor Augen und mag vielleicht Sizilien als Sprungbrett nach Karthago verstanden haben. Auf alle Fälle versprach er sich selbst bei einem Sieg über Sizilien eine herausragende Stellung in Athen. Warnende Stimmen wurden in Athen nicht gehört, die Unterstützung von Verbündeten auf der Insel überschätzt. Insgesamt geriet das gesamte Unternehmen zum Fiasko, zumal Alkibiades, in Athen wegen des Mysterienfrevels angeklagt, zum Feind übergelaufen war und in Sparta massiv gegen Athen Stimmung machte, indem er die athenischen Kriegsziele maßlos übertrieb. Das Scheitern der Sizilischen Expedition markierte die Peripatie in diesem Krieg. Mehr als 45.000 Athener und Bundesgenossen fielen, 160 Trieren waren verloren. Von diesem demographischen Aderlass sollte sich Athen auch im 4. Jh. nicht mehr erholen.
Dennoch ging der Krieg noch Jahre weiter, konnten die Athener durch ihre Energie, die dynamis, die Thukydides immer wieder hervorhebt, noch so manche Erfolge verbuchen. 406 gelingt den Athenern noch ein Sieg bei den Arginusen unter schweren eigenen Verlusten, doch aufgrund eines aufziehenden Sturmes können viele Athener, die noch im Wasser treiben, nicht mehr gerettet werden, was den Generälen zur Last gelegt wurde. Im berühmten Arginusenprozess verurteilten die Athener nach bewegten Debatten sechs Strategen zum Tode, ein kapitaler Justizirrtum, denn nun hatten sich die Athener selbst ihrer militärischen Führung beraubt. Ein Jahr später kam es schließlich zur Katastrophe. Weil die Athener beim Nahrungsholen unvorsichtig waren und ihre Schiffe nicht genügend bewachten, konnte sich Lysander bei Aigospotamoi der ganzen athenischen Flotte bemächtigen, ohne dass es überhaupt zu einer Seeschlacht gekommen wäre. Athen konnte nun eingeschlossen werden und musste schließlich im Mai 404, am Ende seiner Kräfte, kapitulieren. Die Friedensbedingungen sind hart und für Athen demütigend. Unter anderem kommt es jetzt mit spartanischer Unterstützung zu einem oligarchischen Staatsstreich: Die sogenannten Dreißig Tyrannen beseitigen die Demokratie und errichten eine Schreckensherrschaft in Athen, die allerdings nicht lange dauert. Mit thebanischer Hilfe gelingt es den Athenern, die Demokratie wieder herzustellen. Aufgrund von Feinjustierungen in der Verfassung, die in Zukunft das Volk vor Massenpsychosen und massiven Fehlurteilen schützen sollten, erfuhr die athenische Demokratie als Verfassung ihre volle Ausprägung. Mit dem Funktionieren der Organe dieser Verfassung werden wir uns im nächsten Podcast beschäftigen.

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