05 – Die athenische Demokratie

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in:
Werner Rieß
Lizenz:
CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte II: Die Klassik

05 – Die Athenische Demokratie

Wir wollen heute in aller Kürze die wichtigsten Verfassungsreinrichtungen der athenischen Demokratie besprechen, die Volksversammlung, die Volksgerichte, den Rat der Fünfhundert (die sogenannte Boule) und den Areopag. Die athenische Demokratie war keine repräsentative Demokratie. Alle Staatsgewalt ging direkt vom Volke aus, das sich regelmäßig zur Volksversammlung traf. Sie war der unumstrittene Souverän. Synonym zum Wort ekklesia, Volksversammlung, wird auch Demos, Volk, gebraucht. Die Teilnehmer an einer Sitzung der Volksversammlung verstehen sich also als Repräsentanten des gesamten Volkes. Es gibt ca. 40 Treffen pro Jahr, 6000 Bürger müssen anwesend sein, damit die Volksversammlung beschlussfähig ist. D.h. ca. alle zehn Tage trifft sich rund 1/5 der Bevölkerung, um Beschlüsse zu fassen, eine Partizipationsrate, die so in der Weltgeschichte nie mehr erreicht wurde. Zu Beginn der Demokratie traf man sich wohl auf der Agora, bald jedoch wird ein separater Versammlungsplatz, der Hügel Pnyx, ausgewiesen und im Laufe der Zeit umgebaut und erweitert. Es gibt drei Bauphasen. Bauphase I: 460-400, wo die Teilnehmer noch auf dem Boden sitzen, Pnyx II: 400-340 und schließlich Pnyx III ab 340. Entscheidend ist, dass aus für uns unbekannten Gründen die Blickrichtung von Pnyx I zu Pnyx II umgedreht wurde, was die Verschiebung von gewaltigen Erdmassen bedingte. Die Teilnehmer schauen jetzt von Norden nach Süden, hinaus aufs Meer.
In der dritten Bauphase, wahrscheinlich der lykurgischen Ära, wird die Fläche bedeutend vergrößert und auch monumentalisiert, so dass von einem Abflauen des Interesses an der Demokratie im 4. Jh. keine Rede sein kann. Zugelassen war jeder männlicher Bürger, der im Alter von 20 Jahren seinen Ephebendienst abgeschlossen hatte. Frauen, Metöken, Sklaven und atimoi, Ehrlose, waren ausgeschlossen, Ausländer durften jedoch als Gäste zuhören. Die Prytanen, also die Vertreter der diensthabenden Phyle, beriefen die Sitzungen ein und machten vorher die Tagesordnungspunkte schriftlich am Monument der Phylenheroen auf der Agora bekannt. Die Sitzungen begannen im Morgengrauen und konnten bis abends dauern. Doch oft war man schon um die Mittagszeit fertig, weil viele Routineangelegenheiten rasch erledigt werden konnten. Mogens Hansen konnte zeigen, dass es Ähnlichkeiten zwischen Sitzungen der athenischen Volksversammlung und denen mancher schweizerischer Landsgemeinden gibt. Ab dem 4. Jh. erlässt die Volksversammlung keine Gesetze mehr (nomoi), das ist nun Aufgabe der Nomotheten, sondern fällt nur noch Beschlüsse oder Dekrete, sogenannte psephismata. Diese Beschlüsse werden im Rat der 500 vorbereitet. Es gibt dabei offene und konkrete Vorbeschlüsse (probouleumata). Die offenen werden zur Diskussion gestellt, über die konkreten konnte in der Volksversammlung sofort abgestimmt werden.
Im 4. Jh. schränkt die Volksversammlung ihre Rechte selbst ein, um weniger Fehler durch tagesbedingte Emotionen zu machen. Allerdings behält die Volksversammlung immer das Heft in der Hand und kann als Souverän Dinge sofort wieder an sich ziehen, so dass auch die Einschränkungen der Kompetenzen der Volksversammlung ihrerseits wieder eingeschränkt sind. Im 5. Jh. leitete der Vorsitzende der Prytanen, also der Vorsitzende der diensthabenden Phyle, auch die Sitzungen der Volksversammlung. Diese Personalunion hat man im 4. Jh. unterbunden. Die neun nicht diensthabenden Phylen stellen neun Prohedroi; ihr Vorsitzender übernimmt nun den Vorsitz in der Volksversammlungssitzung. Die Leitung der Volksversammlung ist nun also von der Leitung der Prytanie getrennt. Ziel war es wohl, Bestechungen weiter unmöglich zu machen, was auf großes Misstrauen gegeneinander schließen lässt. Die Trennung von Dekreten und Gesetzen haben wir schon angesprochen. Aber die Volksversammlung entscheidet immer noch, wann die Nomotheten aktiv werden sollen. Die Initiative der Gesetzgebung liegt also nach wie vor bei der Volksversammlung. Die Dekrete müssen ferner den Gesetzen entsprechen. Die Gesetze, die nomoi, sind auch höherrangig als Dekrete, doch die Außenpolitik, das Hauptbetätigungsfeld der Volksversammlung, wird über Dekrete gesteuert. Die Verteilung staatlicher Gelder erfolgt über einen gesetzlich festgelegten Verteilungsschlüssel, den merismos, aber die Volksversammlung kann jederzeit zusätzliche Steuern beschließen und per Dekret den merismos ändern.
Um 355 verliert die Volksversammlung alle jurisdiktionellen Kompetenzen, d.h. die gesamte Rechtsprechung, auch die politische, findet nun in den Volksgerichten statt. Alles muss weiterhin vom Rat vorbereitet werden, aber die Volksversammlung kann den Rat jederzeit beauftragen, eine Angelegenheit auf die Tagesordnung zu setzten, also auch hier behält die Volksversammlung das Initiativrecht. Gegen jedes Dekret der Volksversammlung konnte per graphe paranomon vor dem Volksgericht vorgegangen werden, aber da die Volksversammlung mehr als 400 Dekrete pro Jahr verabschiedet, gingen die meisten Dekrete wohl glatt durch. Wir sehen also, dass die Abgabe von Kompetenzen selbst also wieder eingeschränkt war und somit die Volksversammlung der Souverän blieb.
Das Volksgericht, das wichtigste Organ neben der Volksversammlung, besteht aus mehreren Geschworenenhöfen, dikasteria genannt. Obwohl es weder Berufsjuristen noch professionelle Ankläger, Verteidiger und Richter gab, standen die Gerichte in größtem Ansehen, weil die Geschworenenrichter über dreißig Jahre alt und vereidigt waren. Die Abstimmung erfolgte über Stimmsteine, war also verlässlicher als die Schätzung der Handzeichen in der Volksversammlung; außerdem stand mehr Zeit zur Verfügung als in der Volksversammlung. Neben der Anhörung von Streitfällen, Tötung kam vor den Areopag bzw. die Epheten, bestand die Hauptaufgabe der Volksgerichte in der Kontrolle der Volksversammlung, der Kontrolle der Magistrate und in der Urteilsfällung in politischen Prozessen.
Alle Geschworenengerichte umfassten mehrere hundert Personen, die Leitung lag bei den Thesmotheten, es gab keinen staatlichen Ankläger, jeder musste persönlich auftreten. Voraussetzung um Richter zu werden, war, dass man über dreißig Jahre alt, aus 6000 Bürgern vorgelost war und dass man den Heliasteneid abgelegt hatte. Dann wurden, zumindest im 4. Jh., in einem komplizierten Verfahren mit Hilfe einer Losmaschine (kleroterion) die Richter den einzelnen Gerichtshöfen zugewiesen, somit war Bestechung quasi unmöglich. Die Gerichte tagten öfter als die Volksversammlung und dann den ganzen Tag. Man unterschied Privatprozesse (dikai idiai) von öffentlichen Verfolgungen (dikai demosiai oder auch graphai genannt), also von Übergriffen, die, auch wenn sie sich auf eine Privatperson bezogen, als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden konnten. Bei dikai konnte nur die verletzte Person klagen, bei graphai jedermann. Eine graphe bedingte auch mehr Richter, ein ganzer Tag stand zur Verfügung, während pro Tag immer mehrere dikai behandelt und abgeschlossen wurden. Die Abstimmung erfolgte immer mit Stimmsteinen, es gab keine Diskussion vor der Urteilsfindung unter den Geschworenenrichtern.
Am athenischen Recht fällt v.a. seine prozedurale Vielfalt auf. Beispielsweise konnte ein bestochener Magistrat auf sieben verschiedene Arten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Wahl des Verfahrens vermittelte bereits wichtige symbolische Botschaften an die versammelten Richter und die Öffentlichkeit.
Die Volksgerichte spielen auch eine wichtige politische Rolle. In der graphe paranomon konnte jedermann gegen den Antragsteller eines Dekretes klagen. Die eisangelia ging gegen Verrat und Bestechung vor, meist gegen Strategen. Vor Beginn ihrer Amtszeit mussten sich Magistrate einer kleinen, zur reinen Formsache erstarrten Eignungsprüfung unterziehen, der dokimasia. Am Ende ihrer Amtszeit mussten alle Magistrate vor dem Volksgericht einen Rechenschaftsbericht vorlegen, die euthynai. Mit diesen Kompetenzen fungiert das Volksgericht also auch gewissermaßen als Verfassungsgericht.
Der Rat der Fünfhundert, die sogenannte Boule, basiert auf den 10 Phylen. Jeder der 139 Demen, Dörfer, entsendet Mitglieder in diesen Rat. Er repräsentiert Athen nach außen, empfängt ausländische Gesandte und hat die Finanzaufsicht. Er kontrolliert auch, ähnlich wie das Volksgericht, die anderen Magistrate. Die Boule bereitet die Sitzungen der Volksversammlung mit offenen und konkreten probouleumata vor und führt ihre Beschlüsse aus. Die Boule kontrolliert desweiteren die Heiligtümer, richtet religiöse Feiern aus, inspiziert die öffentlichen Gebäude, die Mauern und den Piräus, ist verantwortlich für die Marine, die Werften, den Bau neuer Schiffe sowie die Ausrüstung von Flotten. Sie hat die Oberaufsicht über die Reiterei, verwaltet die öffentlichen Gelder und gestaltet die Außenpolitik. Um diese Aufgabenfülle zu bewältigen, setzt der Rat auch Ausschüsse ein. In begrenztem Umfang beteiligt sich der Rat auch an der Rechtsprechung.
Der Areopag ist schließlich das älteste und angesehenste Organ der athenischen Verfassung. Im 6. Jh. war er wohl die wichtigste politische Institution, bis seine Kompetenz durch die Reform des Ephialtes 462 auf Tötungsdelikte beschränkt wurde, sofern die getöteten Opfer athenische Bürger waren. Der Name leitet sich vom Areopagos her, einem kleinen Hügel ganz in der Nähe der Agora. Erstaunlicherweise wurden die Rechte des Areopag im 4. Jh. dann wieder erweitert. Er galt als Garant einer gemäßigten Demokratie, die wieder nach der imaginären patrios politeia Solons streben solle. Die Mitglieder des vornehmen Rates waren ehemalige Archonten, die auf Lebenszeit im Areopag dienten, meist ca. 150 Personen aus wohlhabenden Kreisen. Sie durften parallel auch andere Ämter innehaben. Da sie über dreißig Jahre alt sein mussten und durch die Bekleidung des Archontats erhebliche politische Erfahrung aufwiesen, galten sie als weise, und der Areopag daher als bester und oberster Gerichtshof. Ab 403 war der Areopag nun auch für die Aufsicht über die Gesetze, die Magistrate und das Verhalten der Bürger zuständig. Ab 352 war er gemeinsam mit der Boule für die Überwachung der Heiligtümer verantwortlich.
Um 340 oder 348 brachte Demosthenes ein Dekret durch, das es dem Areopag ermöglichte, jeden Bürger für jedes Fehlverhalten abzuurteilen, also ein umfassendes Aburteilungsrecht, was sicher auch Ausdruck der großen Krise vor der Schlacht von Chaironeia war.

Wie lässt sich die athenische Demokratie insgesamt in wenigen Stichworten charakterisieren? Es war eine direkte, keine repräsentative Demokratie. Aufgrund der Volksversammlung als Souverän kann man auch von Versammlungsdemokratie sprechen. Die Athener kennen keine politischen Parteien. Mittel der Politik ist die Überredung, peitho, die mit rhetorischen Mitteln erreicht wird.
Man vertraut dem mündigen Bürger, der sich freiwillig beteiligt. Durch ein hoch kompliziertes Geflecht von checks and balances prozeduraler Art versucht man, Demagogie, Massenhysterie, zu große Emotionalität und Spontaneität einzuschränken, was im 4. Jahrhundert aufgrund der schlimmen Erfahrungen des 5. Jahrunderts im Wesentlichen recht gut gelang. Politik übte man immer nebenberuflich aus, die Athener lehnten Professionalisierung grundsätzlich ab. Politiker unterlagen permanenten Kontrollen ihrer Amtsführung. Der Grad an Öffentlichkeit und Partizipation war so hoch, dass er nie mehr in der Weltgeschichte erreicht wurde. Das Rotationsprinzip bei der Bekleidung politischer Ämter bedingte, dass jeder vierte Erwachsene einmal in seinem Leben „Präsident“ von Athen war, wenn auch nur für einen Tag. Die Bürger wurden zur Partizipation motiviert durch Diätenzahlungen, aber auch durch Ehrungen.
Diese Grobeinschätzung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass große Gruppen der Bevölkerung von dieser politische Teilhabe ausgeschlossen waren, nämlich Frauen, Metöken und Sklaven. Ihre Teilhabe lag jenseits des Denkhorizonts der Zeit. Manche Forscher vermuten, dass nur die Sklaven es den athenischen Bürgern ermöglichten, so viel Zeit für die Politik aufzubringen.
Trotz dieser gravierenden Defizite müssen wir uns heute, gerade auch in unseren Debatten über Demokratie und über den Grad der Bürgerbeteiligung, mit der ersten Demokratie der Weltgeschichte intensiv auseinandersetzen.

Text zum downloaden

 

Quellen-Hinweise
Sehen Sie zu diesem Podcast auch die Quellen zur athenischen Demokratie. Alle Quellen enthalten einen Leitfragen- und Kommentarbereich zum besseren Verständnis des Textes.
Hier geht’s zu den Quellen