Nationalgeschichtsschreibung

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Livius
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Liv.pr.1 – Original:

pr. facturusne operae pretium sim, si a primordio urbis res populi Romani perscripserim, nec satis scio nec, [2] si sciam, dicere ausim, quippe qui cum veterem tum vulgatam esse rem videam, dum novi semper scriptores aut in rebus certius aliquid allaturos se aut scribendi arte rudem vetustatem superaturos credunt. utcumque erit, [3] iuvabit tamen rerum gestarum memoriae principis terrarum populi pro virili parte et ipsum consuluisse; et si in tanta scriptorum turba mea fama in obscuro sit, nobilitate ac magnitudine eorum me, qui nomini officient meo, consoler. [4] res est praeterea et inmensi operis, ut quae supra septingentesimum annum repetatur et quae ab exiguis profecta initiis eo creverit, ut iam magnitudine laboret sua; et legentium plerisque haud dubito quin primae origines proximaque originibus minus praebitura voluptatis sint festinantibus ad haec nova, quibus iam pridem praevalentis populi vires se ipsae conficiunt; [5] ego contra hoc quoque laboris praemium petam, ut me a conspectu malorum, quae nostra tot per annos vidit aetas, tantisper certe, dum prisca illa tota mente repeto, avertam, [p. 2] omnis expers curae, quae scribentis animum etsi non flectere a vero, sollicitum tamen efficere posset.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: William Heinemann
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung:

Whether I am likely to accomplish anything worthy of the labour, if I record the achievements of the Roman people from the foundation of the city, I do not really know, nor if I knew would I dare to avouch it; [2] perceiving as I do that the theme1 is not only old but hackneyed, through the constant succession of new historians, who believe either that in their facts they can produce more authentic information, or that in their style they will prove better than the rude attempts of the ancients. [3] Yet, however this shall be, it will be a satisfaction to have done myself as much as lies in me to commemorate the deeds of the foremost people of the world; and if in so vast a company of writers my own reputation should be obscure, my consolation would be the fame and greatness of those whose renown will throw mine into the shade. [4] Moreover, my subject involves infinite labour, seeing that it must be traced back [p. 5]above seven hundred years, and that proceeding from slender beginnings it has so increased as now to be burdened by its own magnitude; and at the same time I doubt not that to most readers the earliest origins and the period immediately succeeding them will give little pleasure, for they will be in haste to reach these modern times, in which the might of a people which has long been very powerful is working its own undoing. [5] I myself, on the contrary, shall seek in this an additional reward for my toil, that I may avert my gaze from the troubles which our age has been witnessing for so many years, so long at least as I am absorbed in the recollection of the brave [6] days of old, free from every care which, even if it could not divert the historian’s mind from the truth, might nevertheless cause it anxiety.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Nathalie Klinck
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Liv.pr.1

Leitfragen:

1) Welche Bedeutung hatte die antike Historiographie?

2) Auf welche Problematik verweist Livius?

3) Wo findet sich eine ähnliche Intention?

Kommentar:

Bei der hier dargestellten Quelle handelt es sich um das Vorwort zu dem bekannten Geschichtswerk „Ab urbe condita“ des Titus Livius (ca. 59-17 n. Chr.). Livius war ein römischer Gelehrter aus der Stadt Patavium, dem heutigen Padua. Einen Großteil seiner Ausbildung wird er auch dort absolviert haben, insbesondere, da in Rom, bedingt durch die Bürgerkriege, schwere Unruhen herrschten. Erst nach der Machtergreifung durch Augustus 27 v. Chr. und der damit einhergehenden pax Augusta wird es Livius in die Hauptstadt gezogen haben. Obwohl er dort nie ein öffentliches Amt bekleidet und damit, im Gegensatz zu Sallust oder Tacitus keinerlei politische Erfahrungen gesammelt hatte, stand er wohl in einem mehr oder weniger engen Verhältnis zum Princeps, wahrscheinlich auch aufgrund des großen Ansehens, welches Livius als Autor schon zu Lebzeiten genoss. Diese Beliebtheit spielgelt sich auch in einer bei Plinius d.J. überlieferten Anekdote wieder: „Hast Du nie davon gelesen, daß ein Mann aus Cadiz, von Namen und Ehre des Titus Livius vom Ende der Welt her angereist kam, um ihn zu sehen, und der sofort nachdem er ihn gesehen hatte, wieder nach Hause gegangen ist?“ (Plin.epist 2,3,8).

Livius umfangreiches Werk „Ab urbe condita“ – Von der Gründung der Stadt Rom“ ist seine einzige überlieferte Schrift. Das Werk behandelt einen Zeitraum von 753 v. Chr., der mythischen Gründung der Stadt, bis zur Herrschaftszeit des Augustus und endet mit dem Tode Drusus 9 v. Chr. Einiges spricht dafür, dass das Werk noch bis zum Tode des Princeps hätte weitergeführt werden sollen, dass allerdings der Gesundheitszustand von Livius dies nicht mehr zuließ. Von den ursprünglich 142 Büchern hat sich nur ungefähr ein Viertel erhalten. Einige Abschnitte konnten allerdings durch Textzeugen und Fragmente teilweise rekonstruiert werden. Die Abbildung zeigt zusätzlich eine der mittelalterlichen Handschriften aus dem 15. Jh. n. Chr.

Bereits in seiner Einleitung betont Livius die Komplexität seines Werkes und auch dass sich bereits vor ihm einige Schriftsteller, wie Quintus Fabius Pictor oder Sallust, an einer Gesamtdarstellung der Geschichte des römischen Volkes versucht hätten. Vielfach handelt es sich bei den Werken dieser frühen Historiographen allerdings nicht um historisch akkurate Darstellungen der Ereignisse, sondern vielmehr um eine mögliche Interpretation der Vergangenheit, die vor allem als literarische Werke zu verstehen sind. Im Gegensatz zur modernen Geschichtswissenschaft war diese Form der Geschichtsschreibung eben nur zum Teil um Objektivität bemüht. Dies wird besonders deutlich, wenn Livius schreibt, dass er sich von den Übeln der jüngsten Zeit (Bürgerkriege) ein Stück weit abwenden und sich lieber der Vergangenheit zu wenden möchte. Er nimmt an, dass seine Leser vor allem an den Beschreibungen der zeitgenössischen Ereignisse, die die res publica beinahe zerstört hätten, interessiert seien.

Mit diesem deutlichen Rückbezug auf die Frühzeit Roms und die Gründungsmythen der Stadt, hatte das Werk eine ähnliche Funktion wie die Aeneis des Vergil inne. Während Vergil dem „neuen“ Rom unter Augustus ein Staatsepos schuf, war das historische Werk von Livius als „Nationalgeschichtsschreibung“ gedacht, die ebenfalls geschickt die Geschichte der Stadt mit dem Schicksal des Princeps verflocht. Damit war sein Werk in erster Linie darauf ausgelegt, die römische Selbsterneuerungsideologie, die Augustus offiziell in seine Politik aufgenommen hatte, zu verbreiten.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Literatur der Kaiserzeit“. Um einen breiteren Einblick in die Kaiserzeit zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte II – Kaiserzeit“.
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Sehen Sie hierzu auch den Beitrag „Vergils Aeneis als römischer Gründungsmythos“.