Kanonisierung antiker Mythologie

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Pyramus und Thisbe
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Ov.met. 4,145-165 – Original:

pallidiora gerens exhorruit aequoris instar,
quod tremit, exigua cum summum stringitur aura.
sed postquam remorata suos cognovit amores,
percutit indignos claro plangore lacertos
et laniata comas amplexaque corpus amatum
vulnera supplevit lacrimis fletumque cruori
miscuit et gelidis in vultibus oscula figens
„Pyrame,“ clamavit, „quis te mihi casus ademit?
Pyrame, responde! tua te carissima Thisbe
nominat; exaudi vultusque attolle iacentes!“
ad nomen Thisbes oculos a morte gravatos
Pyramus erexit visaque recondidit illa.
‚Quae postquam vestemque suam cognovit et ense
vidit ebur vacuum, „tua te manus“ inquit „amorque
perdidit, infelix! est et mihi fortis in unum
hoc manus, est et amor: dabit hic in vulnera vires.
persequar extinctum letique miserrima dicar
causa comesque tui: quique a me morte revelli
heu sola poteras, poteris nec morte revelli.
hoc tamen amborum verbis estote rogati,
o multum miseri meus illiusque parentes,
ut, quos certus amor, quos hora novissima iunxit,
conponi tumulo non invideatis eodem;
at tu quae ramis arbor miserabile corpus
nunc tegis unius, mox es tectura duorum,
signa tene caedis pullosque et luctibus aptos
semper habe fetus, gemini monimenta cruoris.“
dixit et aptato pectus mucrone sub imum
incubuit ferro, quod adhuc a caede tepebat.
vota tamen tetigere deos, tetigere parentes;
nam color in pomo est, ubi permaturuit, ater,
quodque rogis superest, una requiescit in urna.‘

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Reinhard Suchier
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung:

Wurde sie bleicher als Buchs und schauderte ähnlich dem Meere,
Welches erbebt, wenn leicht hinstreift an dem Spiegel ein Lufthauch.
Aber sobald sie erkannt nach kurzem Verzug den Geliebten,
Schlägt sie mit hallendem Schlag die schuldlos leidenden Arme,
Rauft sich das Haar und umschlingt den teuren Leib, und die Wunde
Füllt mit Tränen sie an und mischt mit dem Blute der Zähren
Heißen Erguss und bedeckt mit Küssen das eisige Antlitz.
‚Pyramus‘, jammert sie laut, was raubte dich mir für ein Schicksal?
Pyramus, rede zu mir! Sieh, deine geliebteste Thisbe
Ruft dich. Höre mich doch und erhebe das liegende Antlitz!‘
Als sie Thisbe gesagt, schlug wieder die brechenden Augen
Pyramus auf und schloss, wie er Thisbe geschaut, sie für immer.
Jetzt gewahrt sie ihr eignes Gewand und die elfene Scheide
Ohne das Schwert. ,Dein Arm, Unglücklicher‘, ruft sie, ,und Liebe
Haben den Tod dir gebracht. Auch mir ist der Arm zu dem einen
Stark; auch mir wird Kraft zu Wunden verleihen die Liebe.
Ja, dir folg‘ ich im Tod; dann heiß‘ ich deines Verderbens
Grund und Begleiterin auch, und den allein mir entreißen
Konnte der bittere Tod, soll Tod auch nicht mir entreißen.
Um dies Einzige nur seid noch von uns beiden gebeten,
O von mir und von ihm ihr viel unglücklichen Väter:
Uns, die entschlossene Lieb‘ in der Stunde des Todes vereinte,
Uns missgönnet es nicht, beisammen zu ruhen im Grabe.
Doch du, Baum, der du jetzt die traurige Leiche des einen
Deckst mit deinem Gezweig, bald deckst du von zweien die Leichen:
Wahre die Zeichen der Tat und behalte für immer der Trauer
Ziemende dunkle Frucht als Mal zwiefältigen Mordes.‘
Sprach’s, und unter die Brust sich stemmend die Spitze des Schwertes,
Stürzte sie sich in den Stahl, der noch von dem Morde gewärmt war.
Aber es rührt‘ ihr Wunsch die Götter und rührte die Eltern.
Denn, wenn ganz sie gereift, ist schwarz an den Beeren die Farbe,
Und was die Flammen verschont, das ruht in gemeinsamer Urne.“

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Nathalie Klinck
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Ov.met. 4,145-165

Leitfragen:

1) Was ist das Besondere an den Metamorphosen Ovids?

2) Zu welcher Literaturgattung werden sie gezählt?

3) Welche Beziehung hatte Ovid zum Principat?

Kommentar:

Der vorliegende Ausschnitt stammt aus den Metamorphosen (Verwandlungen) des Publius Ovidius Naso; kurz Ovid (ca. 43 v. Chr. – 17 n. Chr.). Beschrieben wird die dramatische Geschichte um das junge Liebespaar Pyramus und Thisbe. Ovid gilt ohne Frage als einer der wichtigsten Dichter der römischen Kaiserzeit. Im Gegensatz zu anderen großen Dichtern, wie Vergil und Horaz, erlebte Ovid die Bürgerkriege nicht selbst mit, sondern wuchs in der Sicherheit des augusteischen Friedens auf. Da Ovid aus einem aristokratischen Haus stammte, ist anzunehmen, dass er eine umfassende Bildung – auch in Griechenland – erfuhr und dann eine römische Beamtenlaufbahn im Sinne des cursus honorum ausübte. Der Dichter entschied sich jedoch schnell dafür, sich aus dem politischen Alltag zurückzuziehen und sich ganz der Dichtung zu widmen. Nichtsdestoweniger wurde er im Jahre 8 n. Chr. von Augustus nach Tomi (heute Constanza), am Schwarzen Meer verbannt. Ovid selber benannte als Gründ für seine Verbannung carmen et error (Gedicht und Verfehlung), worin dieser genau lag, lässt sich heutzutage nicht mehr nachvollziehen. Ein möglicher Grund könnte in der Veröffentlichung seines Werkes Ars amatoria liegen, die dem sittenstrengen Princeps missfallen haben dürfte. Unter Umständen spielte allerdings auch die Nähe zu Iulia, der Enkelin des Augustus, eine gewisse Rolle für sein Schicksal. Ovid kehrte nie wieder nach Rom zurück und starb schließlich auch im Exil.

Ovids Metamorphosen stammen aus seiner mittleren Schaffensphase, die er noch in Rom verbrachte. Sie bestehen aus 15 Büchern, die jeweils ca. 700-900 in Hexametern verfasst, Verse beinhalten. Der Dichter fasst in seinem Werk verschiedene Erzählungen und Geschichten zusammen, die die Entstehung und die Geschichte der Welt bis zur Herrschaft Augustus beschrieben. Diese sind so angeordnet, dass es trotz der Komplexität und Vielfältigkeit der Erzählungen immer wieder zu Querverweisen kommt und damit ein mit Proömium und Epilog in sich geschlossenes Werk entsteht. Die Sage von Pyramus und Thisbe war bereits vorher weit verbreitet, allerdings von Ovid – ähnlich den Märchen der Gebrüdern Grimm – das erste Mal schriftlich festgehalten worden. Ovid legt die Erzählung einer Mänade in den Mund, die die Geschichte erzählen möchte, warum die einst weiße Maulbeere, vom Blut bespritzt, schwarz geworden ist. Inhaltlich geht es um ein junges Liebespaar in Babylon, welches in zwei benachbarten Häusern lebt. Die Möglichkeit einer Hochzeit steht durch eine Fehde zwischen den beiden Familien außer Frage. Die einzige Möglichkeit zu kommunizieren ist ein Spalt in der Grundstücksmauer.

Nachdem sich das Paar eines Tages entschließt durchzubrennen und für diese nächtliche Aktion einen Maulbeerbaum, der schneeweiße Früchte trägt, als Treffpunkt auswählt, beginnt das Drama. Thisbe trifft früher ein, muss sich allerdings vor einer Löwin verstecken. Auf der Flucht verliert sie ihr Manteltuch, welches die Löwin – aus einer Laune heraus – zerfetzt. Als Pyramus das Tier und den blutbefleckten Schal erblickte, denkt er, dass er seine Geliebte verloren habe und bringt sich selbst um. Der vorliegende Ausschnitt beschreibt diese Szene und das Auffinden des jungen Mannes durch Thisbe. Diese beschließt sich nun ebenfalls das Leben zu nehmen. Die Veränderung, auf die der Titel der Metamorphosen anspielt, findet sich in den Früchten des Maulbeerbaumes wieder. Thisbe bittet vor ihrem Tod die Götter darum, dass diese die Früchte in Gedenken an das Schicksal der beiden Liebenden dunkelrot färben sollten. Durch die Metapher des Maulbeerbaumes wird die Zugehörigkeit von Ovids Lyrik zu den Erklärungssagen deutlich; diese zielen darauf ab, die Ursprünge zum einen von Naturphänomenen, zum anderen aber auch von Kulten und Namen zu erklären; auf diese Weise gibt zum Beispiel auch die Aeneis des Vergil eine Erklärung für den Erfolg und die Macht des Römischen Reiches unter der Herrschaft des Augustus.

Die gut überlieferten lyrischen Werke Ovids wurden besonders stark im Mittelalter rezipiert und hatten damit einen großen Einfluss auf die mittelalterliche Dichtung und Kunst. Die wohl bekannteste Adaption des Inhaltes findet sich allerdings in William Shakespeares Sommernachtstraum und Romeo und Julia wieder.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Literatur der Kaiserzeit“. Um einen breiteren Einblick in die Kaiserzeit zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte II – Kaiserzeit“.
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Sehen Sie hierzu auch den Beitrag „Gründung eines Nationalepos“.