Der Palast von Knossos

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Der Palast von Knossos

Leitfragen:

1) Welche Auffälligkeiten zeigt der Grundriss des Palastes von Knossos?

2) Welche Funktion können die einzelnen Räume gehabt haben und was sagen sie uns über die Minoer?

3) Ist „Palast“ eine sinnvolle Bezeichnung für dieses Gebäude?

Kommentar:

Zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. begann der Bau der heute so genannten „älteren Paläste“ auf Kreta. Die genauen Gründe für die Entwicklung solch komplexer Palaststrukturen kennen wir nicht. Denkbar ist jedoch, dass zunehmender Wohlstand und die Komplexität der minoischen Gesellschaft, mit der der Bedarf nach einer zentralen Organisation der Wirtschaft einherging, sowie eine Inspiration durch Kontakte zu anderen Ländern den Bau der Paläste bedingte. Um 1950 v. Chr. wurde in Knossos mit dem Bau des alten Palastes begonnen. Die Reste dieses alten Palastes sind unter den heute sichtbaren Mauern des neuen Palastes teilweise noch rekonstruierbar und wurden an verschiedenen Stellen in den jüngeren Palast integriert. Die Ausgrabung des jüngeren Palastes von Knossos begann 1900 unter der Leitung Arthur Evans aus Oxford, dem wir also den vorliegenden Grundriss des Palastes zu verdanken haben. Der Grundriss des Palastes von Knossos zeigt, dass das Gesamtareal eine Fläche von ungefähr 2,5 Hektar maß. Damit ist seine Größe vergleichbar mit der einer kleinen Stadt. Knossos war in der jüngeren Palastzeit der größte der vier wichtigen Paläste (Knossos, Phaistos, Mallia und Kato Zakros) und konnte vermutlich mehrere hundert Menschen beherbergen. Der Palast hatte keine Festungsmauer oder sonstige Verteidigungsanlage, wie auf dem Festland üblich. Wahrscheinlich waren die Minoer also eine friedliche Kultur, die keine Bedrohung von außen fürchten musste.

Der Palast selbst macht aufgrund seiner Vielzahl von kleinen Räumen und Gängen auf den ersten Blick einen verwirrenden Eindruck. Auf Anhieb ist kein symmetrisches Gestaltungsprinzip erkennbar. Dass nachfolgende Griechen die labyrinthischen Ruinen von Knossos als unheimlich empfanden, verwundert daher nicht, zumal mit ihnen die Sage des menschenfressenden Ungeheuers Minotauros verbunden ist. Der Palast von Knossos hatte sicherlich mehrere Stockwerke, jedoch sind nur Erdgeschoss und die Kellerebene erhalten. Gemächer, die sich vielleicht in den oberen Stockwerken befunden haben, können also höchstens vermutet werden. Zentrum des Palastes von Knossos ist sein ca. 25×50 m. großer Zentralhof, der, wie die anderen Paläste auch, eine Nord-Süd-Ausrichtung hat. Fresken, die im Zentralhof entdeckt wurden, deuten darauf hin, dass der Zentralhof Ort wichtiger religiöser Feste und Rituale gewesen ist und Zuschauer in ihm Platz fanden. Darüber hinaus spielte sich hier wohl der Alltag der Menschen ab. Westlich des Zentralhofes befindet sich der „Thronsaal-Komplex“. Dieser Bereich scheint besonders heilig gewesen zu sein, denn dort befinden sich auch die Tempelmagazine, in denen wohl rituelle Gegenstände verwahrt wurden. Der Thronsaal selbst beherbergt neben dem Alabaster-Thron und mehreren an den Wänden stehenden Steinbänken ein von Evans so genanntes Lustralbecken, eine vertiefte rechteckige Einlassung in den Boden (in Knossos gab es insgesamt mindestens drei Lustralbecken). Teilweise wurde angenommen, dass es sich hierbei um ein kultisches Bad zur symbolischen Reinigung gehandelt hat. Das Fehlen von Abflüssen und Hinweise auf Wasser lassen dies jedoch unwahrscheinlich erscheinen. Möglich ist stattdessen, dass Opfergaben im Lustralbecken dargebracht wurden. Besonders auffällig sind die sich noch weiter westlich befindenden fensterlosen Räume, die Magazine, die wohl als Vorratsräume dienten. In ihren Böden befanden sich rechteckige Vertiefungen oder Kisten, die als weitere Lagermöglichkeit gedient haben können. Diese von einem langen Korridor zugänglichen Magazine lagerten große Pithoi für Öl, Getreide, Wein oder Wolle. Eine der Hauptaufgaben des Palastes muss also die Annahme, Lagerung und Verwaltung der Ware gewesen sein. Der davor gelagerte Westhof war möglicherweise ebenfalls Versammlungsort großer Menschenmassen. Zudem könnten Altäre, die auf dem Westhof entdeckt wurden, darauf hinweisen, dass hier Opferhandlungen vollzogen wurden. Vielleicht wurden auch Feste abgehalten, wie etwa Erntefeste, was einerseits die räumliche Nähe zu dem Theaterbereich, andererseits zu den Magazinen bedeutet haben kann.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Palastes, östlich und südöstlich des Zentralhofes, befinden sich viele Räume, deren Nutzen nicht abschließend erkennbar ist. Hierbei kann es sich um weitere Magazine oder Nebenräume gehandelt haben. Vielleicht waren es aber auch Wohnräume, in denen die Menschen, die im Palast beschäftig waren, wie Handwerker, Diener, Wachen oder Sklaven, lebten. Auffallend in diesem Teil des Palastes ist die große Treppe, die vom Zentralhof aus sowohl zu oberen, als auch zu den unteren Stockwerken führte. Zwei Stockwerke unterhalb des Zentralhofes liegen der sogenannte „Saal der Doppeläxte“ (hier wurden Steinmetzzeichen in Form einer Doppelaxt auf einigen Steinen gefunden) sowie das „Megaron der Königin“. Arthur Evans gab den Räumen diese Bezeichnungen und vermutete dabei die Gemächer des Königspaares. Ob dies wirklich die Wohnräume eines Königs oder einer Königin gewesen sind, kann nur spekuliert werden, da noch nicht einmal sicher ist, ob es ein solches Königspaar überhaupt gegeben hat. Jedoch sind diese Räume architektonisch anspruchsvoll und erinnern an Villen der minoischen Oberschicht, was die Interpretation einer königlichen Nutzung möglich macht. Arthur Evans glaubte, er habe den Palast von König Minos freigelegt. Doch wissen wir nicht einmal, ob Knossos von einem König oder einem oberen Priester oder einer Gruppe von Herrschenden regiert wurde. Nordöstlich des Zentralhofes befanden sich noch einmal kleine Räume, die ebenfalls Vorratslager gewesen sein können sowie Werkstätten, in denen Töpfer und Steinschneider arbeiteten.

Der Grundriss des Palastes zeigt uns, dass die Minoer ein immenses Fachwissen für die Errichtung desselben besaßen. Die Existenz eines einheitlichen Maßes, konkrete Planung der labyrinthischen Struktur oder speziell dafür benötigte Werkzeuge zeigen, dass wir es hier mit einer hoch entwickelten Kultur zu tun haben. Zudem entsteht aufgrund der Größe des Palastes der Eindruck, dass die Minoer ein mächtiges Volk gewesen sind. Der Grundriss des Palastes verdeutlicht auch, dass einzelne Räume unterschiedliche Funktionen gehabt haben, was uns wiederrum zeigt, dass der Palast von Knossos verschiedenen Zwecken diente: Er war kultisches Zentrum, Verwaltungszentrum, Ort für Herstellungs- und Verarbeitungsprozesse sowie Lagerort. Ob er darüber hinaus den „Minos“ und seine Familie beherbergte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Jedoch ist es wahrscheinlich, dass es sich bei einigen Räumen um Wohnräume handelte. Insofern stellt sich die abschließende Frage, ob der Name „Palast“ für dieses multifunktionale Gebäude die richtige Bezeichnung ist. Sicherlich war das Gebäude allein aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung der zentrale Dreh- und Angelpunkt von Knossos. Zudem ist wahrscheinlich, dass die herrschende Schicht in den Palästen wohnte. Allerdings gibt es auch viele Räume des Gebäudes, die mehr an einen Tempel als an einen Palast erinnern, weil sie Ort kultischer Praktiken waren. Wäre die Bezeichnung „Tempel“ daher schlüssiger? Schlussendlich kann eine klare Terminologie aufgrund mangelnder Kenntnis über die Herrschaftsform in Knossos nicht gegeben werden und das Beibehalten der Bezeichnung „Palast“ ist aufgrund der jahrzehntelangen Forschung, in der mit diesem Terminus hantiert wurde, sinnvoll. Dass der Palast von Knossos jedoch mehr vereinte als das, was unsere moderne Vorstellung eines Palastes ist, darf darüber nicht vergessen werden.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Minoer“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
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