Patrocinienwesen und Curialenproblem

Originalquelle

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Heidi Heil
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

[7] Dieses Schutz-System jedoch bringt genau das gegenteilige Ergebnis. Es liefert die Antriebskraft andere zu verletzen – darunter auch die Steuereintreiber. Ich erwähne sie hier, um mich zu unterstützen und ihr Leid zu klagen. Dies alles begleitet die Tränen der Männer, die vom Reichtum in die Armut gestoßen wurden. Wollt Ihr wissen, Majestät, wie es dazu kommt? Nun, die, deren Aufgabe und Pflicht es ist, gehen zu den befestigten und von den Feldherren verteidigten Dörfern, um die Abgaben einzusammeln. Dann tragen sie ihre Forderungen vor, zuerst auf nette Weise und in zurückhaltendem Ton, aber dann, wenn sie auf Verachtung und Spott treffen, mit zunehmendem Ärger und erhobener Stimme, wie es zu erwarten ist, wenn jemand nicht die gebührende Behandlung erfährt. Dann drohen sie dem Dorfvorsteher, aber ohne Ergebnis, weil dieser denen, die das Dorf ausbeuten, unterlegen ist. Dann vergreifen sie sich an diesen und verhaften sie, aber die Dorfbewohner enthüllen darauf ihr Arsenal an Steinen.

[8] So sammeln die Geldeintreiber Wunden statt den Zehnten und machen sich auf den Weg zurück in die Stadt, durch das Blut auf ihrer Kleidung offenbarend was sie erlitten haben. Sie haben niemanden, der den Kampf für sie aufnimmt, weil der Einfluss dessen, der das Schutzgeld genommen hat, das verbietet. Und den Unglücklichen wird gesagt, dass sie voll bezahlen müssen oder ausgepeitscht werden bis sie nachgeben. Da sie dazu gezwungen sind, und da sie an den Einnahmen aus ihren Landgütern verzweifeln und mehr Verletzungen fürchten, und da sie keinen Vorrat an Gold oder Silber haben, bieten sie unter Tränen ihre Dienerinnen zum Verkauf an, ihre Diener, die Söhne ihrer Pflegeeltern, während diese die Knie des Verkäufers ergreifen.

[9]  Sie begeben sich auch auf ihre Ländereien, aber nicht wie zuvor mit ihren Kindern für eine Familienfeier, sondern mit interessierten Käufern, um sie zu veräußern. Ein gewöhnlicher Tisch wird vor ihnen aufgestellt, aber der Verkäufer sieht den Erlös aus seinem Land zu Steuergeld werden. Als er die Ländereien seines Vaters, manchmal seines Großvaters, verlässt, blickt er zurück auf ihre Gräber, ehrt sie, indem er seine Hände küsst, erbittet ihre Vergebung und geht so davon. Dann muss er sich um seinen Unterhalt, den seiner Frau und seiner Kinder sorgen, und wenn man ihnen nirgends entgegenkommt, sind sie gezwungen zu betteln.

[10] So wird ein Mitglied aus der Curie gestrichen, kein Schwamm löscht seinen Namen aus, sondern er hat nicht länger das nötige Vermögen. Das ist es was, die Curien herabsetzt anstatt sie wachsen zu lassen, und es verringert die Zahl ihrer Mitglieder anstatt sie zu erhöhen.  Und das ist ein Verlust für die ganze Stadt. Wahrlich, wenn sonst auch alles erfolgreich ist, aber in dieser Hinsicht die Dinge schiefgehen, leidet alles andere und besonders das Glück des Reiches, da sein Wohlergehen und sein Verderben von seinen Untertanen abhängen. Die Curien erleiden Schaden wegen dieses feinen Schutz-Systems und die Städte erleiden Schaden aufgrund dessen, was den Curien angetan wird, und ebenso die Truppen, aufgrund dessen was die Städte erleiden. Und ihr dürft die Truppen nicht ignorieren, Hoheit, denn durch sie herrscht ihr und werdet nicht beherrscht, durch sie inspiriert ihr und fühlt keine Furcht. Also unterdrückt dieses Schutz-System als etwas, das unsere Feinde für uns wollen.

Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Heidi Heil
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Lib. or. 47, 7-10

Leitfragen:

1) Was beschreibt Libanios im vorliegenden Text?

2) Auf welche allgemeine Entwicklung geht der Autor hier ein?

3) Wie ist seine Beschreibung zu beurteilen?

Kommentar:

Libanios von Antiocheia (*314, †393 n. Chr.) war der bedeutendste griechische Rhetor der späteren Kaiserzeit und umfassend in den griechischen Klassikern gebildet. Der umfangreiche erhaltene Teil seines Werkes beinhaltet Reden, Briefe, Deklamationen u.a. Er war ein Freund Kaiser Julians und ein Anhänger der antiken heidnischen Religion, stand dem Christentum aber relativ tolerant gegenüber, auch wenn es ihm nicht zusagte. Seine Karriere als Rhetorik-Professor führte ihn nach Athen, Konstantinopel, Nikaia in Bithynien, Nikomedeia und am Ende wieder in seine Heimatstadt Antiocheia.

Der vorliegende Text-Ausschnitt stammt aus der Rede (oratio, λόγος) 47, die wahrscheinlich nach 388 n. Chr. und vor seinem Tod 393 n. Chr. verfasst wurde und an Theodosius I. gerichtet war. Libanios beschreibt hier zwei Entwicklungen: Zum einen wie sich Pächter unter das Patronat eines Mächtigen, in diesem Fall eines Feldherrn, begeben, der nicht ihr eigentlicher Herr ist, zum anderen, wie die Curien der Städte aufgrund dieser Entwicklung verfallen.

Das Patrocinium ist ein Phänomen der Spätantike. Es beruht auf dem schon aus der Republik bekannten Schutzverhältnis zwischen Patronen und Klienten, das jedoch im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren hatte. Da der Staat in der Spätantike die übernommene Schutzfunktion immer weniger wahrnehmen konnte, gewann das System wieder an Bedeutung, sogar zum Schutz gegen den Staat. Es ist vor allem im ländlichen Raum anzutreffen. Kleinbauern unterstellten sich dem Schutz eines mächtigen Amtsträgers oder Großgrundbesitzers, um den Steuereintreibern zu entkommen.

Das wiederum führt uns zum Curialenproblem des 4. Jahrhunderts n. Chr. Die Curien (Stadträte) waren die Führungsorgane der Städte des Reiches, analog zu den Senaten in den Hauptstädten. Wie die Senate durch die Konsuln, wurden die Stadträte von zwei Männern, den duoviri/duumviri, geführt. Die Curien waren für den geregelten Ablauf in den Städten, die Steuerabgaben und Belustigung der Bevölkerung auf eigene Kosten verantwortlich und unerlässlich für die kommunale Selbstverwaltung. In der Republik und frühen Kaiserzeit war dieses kostenintensive Ehrenamt hochgeschätzt und wurde gerne wahrgenommen, ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. jedoch entwickelte es sich immer mehr zu einer Last und die Mitglieder versuchten sich den Verpflichtungen zu entziehen. Das führte zur rechtlichen Festschreibung des Curialenstandes als erblich und nicht auf freiwilliger Basis abtretbar. Diese und viele andere Maßnahmen scheinen aber nicht gefruchtet zu haben, wie allein über 200 Gesetze zu diesem Thema im Codex Theodosianus (Sammlung von Kaisererlassen mit rechtlichem Charakter aus dem 5. Jahrhundert n. Chr.) belegen. Traditionellerweise wurden die Steuerforderungen vom Staat auf die Provinzen und von den Statthaltern auf die Curien umgelegt, die mit ihrem persönlichen Vermögen für Differenzen haften mussten. Wenn sich nun immer mehr Steuerzahler den curialen Steuereintreibern entzogen, indem sie sich in das Patronat eines mächtigen Mannes begaben, gegen den die Curien nicht ankamen, so führte das zur Verarmung und Ausdünnung des Curialenstandes.

Libanios ist selbst Curiale, dessen Pächter sich ihm auf die genannte Weise entzogen haben. Nicht einmal ein Gericht verschaffte ihm sein Recht, da der neue Patron seiner Pächter zu mächtig war. Libanios vertritt also eine hoch emotionale und keineswegs objektive Sichtweise. Für die Ausdünnung der Curie macht er allein die Verarmung der Mitglieder durch unwillige Pächter und das Patrocinium verantwortlich. Er erwähnt nicht, dass sich viele Mitglieder aus ihren Verpflichtungen davonstahlen und so die verbliebenen Ratsmitglieder noch mehr belastet wurden, oder dass die staatlichen Forderungen möglicherweise zu hoch und drückend und die Gegenleistungen, wie Schutz vor Übergriffen, nicht ausreichend vorhanden waren. So begaben sich sogar freie Bauern in die Abhängigkeit des Patrociniums und übergaben ihre Ländereien den neuen Patronen. Libanios jedoch stellt die Curialen auf dramatische Weise als fast einzige schuldlose Opfer dieser Entwicklungen dar und bittet den Kaiser in weiteren Teilen der Rede gegen das Patrocinium und die Selbstbereicherung der Feldherren vorzugehen, denn was den Curien schade, schade den Städten, was wiederum dem Reich schade und dem Herrscher, und mache beide angreifbar.  

Text zum downloaden

 

Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Gesellschaft in der Spätantike“. Um einen breiteren Einblick in die Spätantike zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte III – Spätantike“.
Hier geht’s zum Podcast

 

Siehe zum Codex Theodosianus und zur Berufsbindung den entsprechenden Beitrag.