Der Arginusenprozess

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Xenophon
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Xen. Hell. 1.6.35, 1.7.3-4, 1.7.34-35 – Original:

[35] ἔδοξε δὲ καὶ τοῖς τῶν Ἀθηναίων στρατηγοῖς ἑπτὰ μὲν καὶ τετταράκοντα ναυσὶ Θηραμένην τε καὶ Θρασύβουλον τριηράρχους ὄντας καὶ τῶν ταξιάρχων τινὰς πλεῖν ἐπὶ τὰς καταδεδυκυίας ναῦς καὶ τοὺς ἐπ᾽ αὐτῶν ἀνθρώπους, ταῖς δὲ ἄλλαις ἐπὶ τὰς μετ᾽ Ἐτεονίκου τῇ Μυτιλήνῃ ἐφορμούσας. ταῦτα δὲ βουλομένους ποιεῖν ἄνεμος καὶ χειμὼν διεκώλυσεν αὐτοὺς μέγας γενόμενος: τροπαῖον δὲ στήσαντες αὐτοῦ ηὐλίζοντο. […] [3] μετὰ δὲ ταῦτα ἐν τῇ βουλῇ διηγοῦντο οἱ στρατηγοὶ περί τε τῆς ναυμαχίας καὶ τοῦ μεγέθους τοῦ χειμῶνος. Τιμοκράτους δ᾽ εἰπόντος ὅτι καὶ τοὺς ἄλλους χρὴ δεθέντας εἰς τὸν δῆμον παραδοθῆναι, ἡ βουλὴ ἔδησε. [4] μετὰ δὲ ταῦτα ἐκκλησία ἐγένετο, ἐν ᾗ τῶν στρατηγῶν κατηγόρουν ἄλλοι τε καὶ Θηραμένης μάλιστα, δικαίους εἶναι λόγον ὑποσχεῖν διότι οὐκ ἀνείλοντο τοὺς ναυαγούς. ὅτι μὲν γὰρ οὐδενὸς ἄλλου καθήπτοντο, ἐπιστολὴν ἐπεδείκνυε μαρτύριον ἣν ἔπεμψαν οἱ στρατηγοὶ εἰς τὴν βουλὴν καὶ εἰς τὸν δῆμον, ἄλλο οὐδὲν αἰτιώμενοι ἢ τὸν χειμῶνα. […] [34] ταῦτ᾽ εἰπὼν Εὐρυπτόλεμος ἔγραψε γνώμην κατὰ τὸ Καννωνοῦ ψήφισμα κρίνεσθαι τοὺς ἄνδρας δίχα ἕκαστον: ἡ δὲ τῆς βουλῆς ἦν μιᾷ ψήφῳ ἅπαντας κρίνειν. τούτων δὲ διαχειροτονουμένων τὸ μὲν πρῶτον ἔκριναν τὴν Εὐρυπτολέμου: ὑπομοσαμένου δὲ Μενεκλέους καὶ πάλιν διαχειροτονίας γενομένης ἔκριναν τὴν τῆς βουλῆς. καὶ μετὰ ταῦτα κατεψηφίσαντο τῶν ναυμαχησάντων στρατηγῶν ὀκτὼ ὄντων: ἀπέθανον δὲ οἱ παρόντες ἕξ. [35] καὶ οὐ πολλῷ χρόνῳ ὕστερον μετέμελε τοῖς Ἀθηναίοις, καὶ ἐψηφίσαντο, οἵτινες τὸν δῆμον ἐξηπάτησαν, προβολὰς αὐτῶν εἶναι, καὶ ἐγγυητὰς καταστῆσαι, ἕως ἂν κριθῶσιν […].

Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Carleton L. Brownson
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Xen. Hell. 1.6.35, 1.7.3-4, 1.7.34-35 – Übersetzung:

[35] After this victory it was resolved by the Athenian generals that Theramenes and Thrasybulus, who were ship-captains, and some of the taxiarchs, should sail with forty-seven ships to the aid of the disabled vessels and the men on board them, while they themselves went with the rest of the fleet to attack the ships under Eteonicus which were blockading Mytilene. But despite their desire to carry out these measures, the wind and a heavy storm which came on prevented them; accordingly, after setting up a trophy, they bivouacked where they were. […] [3] After this the generals made a statement before the Senate in regard to the battle and the violence of the storm; and upon motion of Timocrates, that the others also should be imprisoned and turned over to the Assembly for trial, the Senate imprisoned them. [4] After this a meeting of the Assembly was called, at which a number of people, and particularly Theramenes, spoke against the generals, saying that they ought to render an account of their conduct in not picking up the shipwrecked. For as proof that the generals fastened the responsibility upon no person apart from themselves, Theramenes showed a letter which they had sent to the Senate and to the Assembly, in which they put the blame upon nothing but the storm. […] [34] When Euryptolemus had thus spoken, he offered a resolution that the men be tried under the decree of Cannonus, each one separately; whereas the proposal of the Senate was to judge them all by a single vote. The vote being now taken as between these two proposals, they decided at first in favour of the resolution of Euryptolemus; but when Menecles interposed an objection under oath and a second vote was taken, they decided in favour of that of the Senate. After this they condemned the generals who took part in the battle, eight in all; and the six who were in Athens were put to death. [35] And not long afterwards the Athenians repented, and they voted that complaintsbe brought against any who had deceived the people, that they furnish bondsmen men until such time as they should be brought to trial […].

Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Niklas Rempe
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Xen. Hell. 1.6.35, 1.7.3-4, 1.7.34-35

Leitfragen:

1) Beschreiben Sie die Ereignisse, die zu der Anklage der Feldherren führte.

2) Wie beschreibt Xenophon in der Quellenpassage den Ablauf des Prozesses?

3) Was für Rückschlüsse lassen sich aus Xenophons Beschreibung auf die Entscheidungsfindung bei derartigen Prozessen ziehen?

Kommentar:

Die vorliegende Quellenpassage setzt nach der großen Seeschlacht bei der Inselgruppe der Arginusen in der Ägäis ein (406 v. Chr.). Hier hatten die Athener gegen die Spartaner einen Sieg errungen, wobei dieser nicht ohne Verluste blieb. Einige Schiffe wurden durch die Spartaner derart beschädigt, dass sie sanken – die Mannschaften wurden schiffbrüchig. Die Feldherren (strategoi), die für den Sieg durch ihre Führung und Taktik maßgeblich verantwortlich waren, segelten mit einem Kontingent weiter nach Mytilene und sollen nach Xenophon den restlichen Schiffen befohlen haben, die schiffbrüchigen Mitbürger zu retten. Führung über dieses Rettungsmanöver sollen Theramenes und Thrasybulos gehabt haben. Diesen sei es allerdings schlussendlich nicht möglich gewesen, die Athener aus den Fluten zu retten, da ein Sturm sie daran gehindert habe. Ein großer Teil der Schiffbrüchigen soll entsprechend den Tod gefunden haben. Die Feldherren hätten bei ihrer Rückkehr nach Athen Auskunft über die unglücklichen Geschehnisse gegeben, was schlussendlich nach Antrag eines Timokrates zu ihrer Verhaftung geführt habe. Die Volksversammlung (ekklesia), d. h. alle Bürger Athens, sollen als Gericht über den Fall verhandelt haben.

In der Versammlung soll sich nach Xenophon insb. Theramernes als Wortführer hervorgetan haben – derjenige, der von den Feldherren mit der Bergung der Schiffbrüchigen beauftragt gewesen sein soll. Er habe allerdings betont, dass die Verantwortung alleine bei den angeklagten Führern des Heeres liegen würde, da sie selber in einem Brief davon gesprochen hätten, dass einzig der Sturm die Rettung verhindert habe und von einem Befehl an ihn nicht die Rede sei. Ein gewisser Euryptolemos soll sich außerdem in der Versammlung zu Wort gemeldet haben, wobei die Quellenpassage die Zusammenfassung seiner Argumente wiedergibt: Die Feldherren sollen gemäß dem Gesetz des Kannonos einzeln angeklagt werden und nicht, wie es der Rat (boule) widerrechtlich beantragt habe, gemeinsam. Das Volk – so Xenophon – wollte dem Antrag des Eurypotolemos schon folgen, als Menekles dagegen erfolgreich Einspruch erhoben habe. Es sei also bei dem vom Rat vorgeschlagenen Verfahren geblieben, und die Bürger Athens verurteilten die angeklagten Feldherren gemeinsam zum Tode.

Der von Xenophon beschriebene Arginusenprozess gegen die Feldherren wird neben dem sogenannten „Melier-Dialog“ und der Verurteilung des Sokrates oft als weiteres Negativbeispiel für die etwaigen Folgen der extremen demokratischen Strukturen Athens angeführt. Xenophon hätte der in der Forschung verbreiteten Charakterissierung des Prozesses als Justizirrtum sicher zugestimmt. Teile der modernen Forschung betonen diesbezüglich: Die Feldherren seien nach dem damals geltenden athenischen Recht irregulär verurteilt worden. Jeder der Feldherren hätte einzeln angeklagt werden müssen und jeder von ihnen hätte zudem ein Recht darauf gehabt, sich gegen die Anschuldigungen zu verteidigen. Beides wurde im Arginusenprozess zwar vorgebracht – neben Eurypotolemos soll dieses auch der berühmte Philosoph Sokrates betont haben –, doch schien die Mehrheit der athenischen Bürger fest entschlossen gewesen zu sein, die Feldherren hinzurichten; auch wenn das hieß, gegen die sonst so hoch geschätzten Gesetze zu verstoßen. Außerdem ist festzuhalten: Die große Masse der Athener konnte anscheinend in ihren Ansichten manipuliert bzw. stark beeinflusst werden. Insbesondere redebegabte und einflussreiche Männer, wie z.B. Theramernes, scheinen derart großen Einfluss auf das Volk gehabt zu haben, dass es gegen alle Vernunft und gegen die Gesetze die siegreichen Feldherren hinrichten ließ. Davor hätte Eurypotolemos die Athener von seinem vorgeschlagenen Verfahren überzeugt, wobei sie allein ein Einspruch von Menekles davon schon wieder abgebracht habe. Dieses Hin und Her ist auffällig. Dazu passt, dass die Athener nach nur kurzer Zeit die Reue gepackt habe und sie wiederum versucht haben sollen, diejenigen anzuklagen, die ihnen zur Hinrichtung geraten hätten. Doch das Unheil war schon angerichtet, und Athen hatte sich mit einem Schlag seiner eigenen militärischen Führung beraubt. Diese Reue wird sich in den folgenden Jahren des Peloponnesischen Kriegs sicher noch verstärkte haben – ohne die Expertise der erfahrenen Feldherren verlor Athen 404 v. Chr. den Peloponnesischen Krieg.

Text zum downloaden

Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Der Peloponnesische Krieg“. Um einen breiteren Einblick in die griechische Klassik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte II – Klassik“.
Hier geht’s zum Podcast