Nationalepos Vergil

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Vergil
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Verg.Aen. 1,255-275. – Original:

Olli subridens hominum sator atque deorum,
255 voltu, quo caelum tempestatesque serenat,
oscula libavit natae, dehinc talia fatur:
“Parce metu, Cytherea: manent immota tuorum
fata tibi; cernes urbem et promissa Lavini
moenia, sublimemque feres ad sidera caeli
260 magnanimum Aenean; neque me sententia vertit.
Hic tibi (fabor enim, quando haec te cura remordet,
longius et volvens fatorum arcana movebo)
bellum ingens geret Italia, populosque feroces
contundet, moresque viris et moenia ponet,
265 tertia dum Latio regnantem viderit aestas,
ternaque transierint Rutulis hiberna subactis.
At puer Ascanius, cui nunc cognomen Iulo
additur,—Ilus erat, dum res stetit Ilia regno,—
triginta magnos volvendis mensibus orbis
270 imperio explebit, regnumque ab sede Lavini
transferet, et longam multa vi muniet Albam.
Hic iam ter centum totos regnabitur annos
gente sub Hectorea, donec regina sacerdos,
Marte gravis, geminam partu dabit Ilia prolem.
275 Inde lupae fulvo nutricis tegmine laetus
Romulus excipiet gentem, et Mavortia condet
moenia, Romanosque suo de nomine dicet.
His ego nec metas rerum nec tempora pono;
imperium sine fine dedi.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung: Theodore C. Williams
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung:

Smiling reply, the Sire of gods and men,
with such a look as clears the skies of storm
chastely his daughter kissed, and thus spake on:
“Let Cytherea cast her fears away!
Irrevocably blest the fortunes be
of thee and thine. Nor shalt thou fail to see
that City, and the proud predestined wall
encompassing Lavinium. Thyself
shall starward to the heights of heaven bear
Aeneas the great-hearted. Nothing swerves
my will once uttered. Since such carking cares
consume thee, I this hour speak freely forth,
and leaf by leaf the book of fate unfold.
Thy son in Italy shall wage vast war
and, quell its nations wild; his city-wall
and sacred laws shall be a mighty bond
about his gathered people. Summers three
shall Latium call him king; and three times pass
the winter o’er Rutulia’s vanquished hills.
His heir, Ascanius, now Iulus called
(Ilus it was while Ilium’s kingdom stood),
full thirty months shall reign, then move the throne
from the Lavinian citadel, and build
for Alba Longa its well-bastioned wall.
Here three full centuries shall Hector’s race
have kingly power; till a priestess queen,
by Mars conceiving, her twin offspring bear;
then Romulus, wolf-nursed and proudly clad
in tawny wolf-skin mantle, shall receive
the sceptre of his race. He shall uprear
and on his Romans his own name bestow.
To these I give no bounded times or power,
but empire without end.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Nathalie Klinck
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Verg.Aen. 1,255-275.

Leitfragen:

1) Mit welcher Intention wurde der Text verfasst?

2) Inwiefern wurde der Mythos politisch instrumentalisiert?

3) Wo sonst lässt sich dieser Nationalepos wiederfinden?

Kommentar:


Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um einen Auszug aus einem Werk des Publius Vergilius Maro – kurz Vergil (ca. 70 – 19 v. Chr.). Die Aeneis – die Geschichte des tapferen Heldens Aeneas, der nach dem Untergang seiner Heimatstadt Troja diverse Irrfahrten überstehen muss, um am Ende in Latium eine neue Stadt gründen zu können – war eines der bekanntesten Werke des Dichters, der schon zu Lebzeiten äußerst erfolgreich war. Der Text wurde zwischen 29 und 19 v. Chr. verfasst und besteht aus 12 Büchern, die insgesamt ungefähr 10.000 Verse in Hexametern umfassen. Inhaltlich baut Vergil auf Homers Ilias und Odyssee (ca. 8. Jh.) auf, wobei er auf verschiedene Varianten der Erzählungen zurückgriff und diese kombinierte.

Der Ausschnitt beschreibt eine Szene, in der sich die Göttin Venus mit der Frage nach dem Schicksal ihres Günstlings Aeneas an Iuppiter wendet. Der Göttervater gibt ihr zu verstehen, dass der junge Mann – den derzeitigen Wirrungen zum Trotz – eine erfolgreiche Stadt gründen wird, aus der später die Weltmacht Rom hervorgehen wird. Sein Sohn Ascanius wird Alba Longa (die Vorgängerstadt Roms) gründen, in der die Vestalin Rhea Silvia, ebenfalls aus dem trojanischen Geschlecht des Aeneas stammend, von dem Kriegsgott Mars verführt, die Kinder Romulus und Remus gebären wird. Die Aeneis liefert durch die Verknüpfung dieser zweier Mythenkreise – des Trojamythos und der Romulus und Remussage – einen neuen Gründungsmythos für die Stadt Rom. Dabei vermengte Vergil nicht einfach nur zwei Mythen miteinander, vielmehr sorgte er dafür, dass der Familienmythos der Iulier zum staatstragenden Element erhoben wurde.

Der Grund hierfür lässt sich in der politischen Lage zu Beginn des Principats unter Augustus (27 v. Chr.) finden. Augustus befand sich in der schwierigen Situation, den Staat stabilisieren und seine neue Herrschaftsform legitimieren zu müssen, dabei spielte die Etablierung der Iulier als Herrscherdynastie eine wichtige Rolle. Augustus war, geprägt durch die Erfahrungen, die er im Ringen um die Macht nach dem Tod seines Adoptivvaters Caesar gemacht hatte, immer darauf bedacht – zumindest nach Außen hin – die alte res publica wiederherzustellen (res publica restituta), diese in Wirklichkeit aber nicht zu erneuern. Wann immer es ihm also möglich war, schuf der Princeps bewusst Verbindungen zur Vergangenheit und berief sich auf die Sitten der Vorfahren (mos maiorum), insbesondere als es um die Propagierung seiner Enkel als Nachfolger ging. Mit der Aeneis gab Vergil dem Mythos des Untergangs Trojas und den Irrfahrten des Aeneas eine umfassende Deutung, die nicht nur die künftige Herrschaft der Iulier, sondern die gesamte Geschichte Roms als eine vom Schicksal bestimmte Heilsgeschichte beschreibt. Zwar wird lediglich indirekt, etwa durch Visionen, wie in dem vorliegenden Textausschnitt, auf die „zukünftige“ Zeit des Augustus hingedeutet, dennoch muss der Text auch als eine Huldigung des Augustus verstanden werden, der die Verwirklichung dieses Idealzustandes feiert und damit in der Lage war, den von den Bürgerkriegen geschwächten Römern ein neues Selbstbewusstsein zu geben. Als positiver Nebeneffekt konnte sich die römische Tradition nun problemlos mit der der Griechen messen.

Diese Absicht schlägt sich ebenfalls im gesamten Bildprogramm des Augustus nieder und wird besonders in der Konzeption des Augustusforums deutlich, welches als Repräsentationszentrum des neuen Staates konzipiert wurde. Im Tempel des Mars Ultor werden nochmals Mythos und Geschichte miteinander vereint und – anders als in der Aeneis – wird hier der Blick von der Gegenwart auf die Vergangenheit gerichtet. Der Kriegsgott Mars fungiert hierbei zum einen durch seinen Beinamen Ultor als Rachegott, der für die Rache an den Caesarmördern steht, zum anderen symbolisiert er den Stammvater der Römer und die Tugend der virtus („Mannhaftigkeit“). Ihm zur Seite wird Venus gestellt, die die Stammutter der Iulier ist und Fruchtbarkeit und Fülle garantiert. Gesäumt werden diese mythologischen Figuren mit Statuen wichtiger historischer Persönlichkeiten sowie symbolträchtiger Kriegsbeute. Obwohl Augustus alle Formen der direkten Selbstdarstellung stets vermied, wird hier der neue Machthaber durch die visuelle Erfahrbarkeit deutlich in einen Zusammenhang mit der iulischen Familie und der gesamten römischen Geschichte gestellt – das von Vergil beschriebene Heilsgeschehen erfüllt sich demnach in der Person und in der Herrschaft des Princeps.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Literatur der Kaiserzeit“. Um einen breiteren Einblick in die Kaiserzeit zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte II – Kaiserzeit“.
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