09 – Neue Kriegstechnik und Tyrannis

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

09 – Neue Kriegstechnik und Tyranis

Die archaische Zeit ist nicht nur von der Kolonisation und dem starken Einfluss des Orients geprägt, sondern auch von einer militärtechnischen und einer politischen Neuerung, dem Aufkommen der Hoplitenphalanx und der Tyrannis. Zunächst zur Phalanx: In homerischer Zeit kämpfen die Aristokraten Mann gegen Mann im Einzelkampf. Sie fahren mit dem Streitwagen in die Schlacht, steigen dann ab und treten in den Nahkampf mit dem Gegner ein. Eine individuelle Adelsethik, die sich noch nicht auf die ganze Polis bezieht, ist die Folge. Ab dem 8. Jh. greifen wir archäologisch Änderungen:
Die Rüstungen werden ab 750 schwerer, die eigentliche Phalanx wird dann wohl zwischen 700 und 650 v. Chr. eingeführt, wobei mit einer langen Übergangsphase und mit regionalen Unterschieden zu rechnen ist. Ich gehe zunächst auf das idealtypische Szenario und den damit verbundenen Mentalitätswandel ein, bevor ich dieses Modell vor dem Hintergrund neuerer Forschungen kurz kritisiere. In der Phalanx sind alle auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Es geht darum, durch konzertiertes Stoßen mit Schild und Lanze die gegnerische Phalanx aufzubrechen. Dazu muss sich die Schlachtreihe in gleichem Tempo bewegen, niemand darf von der Stelle weichen. Mit dem großen Rundschild am linken Arm deckt man die rechte Blöße des Kameraden links ab; die eigene, ungeschützte rechte Seite wird vom Schild des Nachbarn zur Rechten geschützt. Weder ist es möglich wegzulaufen – Flucht reißt die Phalanx auseinander und wird mit äußerster Verachtung gestraft -, noch ist es möglich, nach aristokratischer Manier individuell voranzustürmen, weil dies den sicheren Tod und ebenfalls die Auflösung der Phalanx bedingt hätte. Auch die Aristokraten müssen sich also buchstäblich in die Schlachtreihe eingliedern, die Bauern fühlen sich nun genau so wichtig wie die Aristokraten, eine kooperative Ethik entsteht, das Bewusstsein, gemeinsam für die Polis verantwortlich zu sein.
Der Individualismus tritt also radikal zurück, die Gemeinschaft zählt, nicht mehr der Einzelne. Wir sind auf dem Weg hin zu einer militärischen und damit auch politischen Gleichheit, die zu einer Form der Demokratie bzw. zu einer Polisverfassung führt, die den Einzelnen vollkommen vereinnahmt, in der es keine Menschenrechte und keinen Schutz vor dem Staat gibt nach dem Motto: Du bist nichts, Deine Polis ist alles. Dies unterscheidet die griechischen Demokratien grundsätzlich von unserem modernen Demokratieverständnis. Soweit also das idealtypische Szenario. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass die Entwicklung bei weitem nicht so geradlinig verlief. Das archaische Schlachtfeld war sehr uneinheitlich:
Der adelige Einzelkampf fand parallel neben dem Kampf in der Phalanx statt. Einige Männer kämpften also in dichterer Formation, andere bevorzugten immer noch den Kampf Mann gegen Mann. Daneben gab es auch ärmere Leichtbewaffnete sowie Reiter. Man wird sich die Entwicklung hin zur klassischen Hoplitenphalanx also gar nicht kompliziert und heterogen genug vorstellen können. Meines Erachtens jedoch ist die traditionelle Beschreibung in ihren Grundzügen richtig und gibt uns sehr wohl Aufschluss über die mentalitätsgeschichtlichen Paradigmenwechsel in der archaischen Zeit.

Die Archaische Zeit war jedoch nicht nur von der Tendenz hin zur Demokratie geprägt. Es gab in der Krise auch immer wieder charismatische Männer aus dem Adel, die die Herrschaft illegal an sich rissen und eine Tyrannis begründeten. Sie ist eine hypertrophe Form und gleichzeitig eine Perversion der Adelsherrschaft, da der Tyrann ja meist versucht, seine Standesgenossen auszuschalten. Dabei gibt er vor, im Interesse des Demos, also des Volkes zu handeln. Die populären Maßnahmen, die der Tyrann ergreift, wie etwa die Wiederherstellung von Ordnung im Lande, die Belebung der Wirtschaft, die Errichtung von Großbauten, die Organisation von glanzvollen Festen, die Verminderung sozialer Spannungen sowie auch die Verbesserung der Rechtspflege, geschehen nicht etwa aus philanthropischen Gründen, sondern aus reinem Machtkalkül, um sich die Zustimmung des Volkes möglichst dauerhaft zu sichern. Die Lebensweise der Tyrannen ist betont adelig: Sie züchten Pferde für Wagenrennen, nehmen an den panhellenischen Spielen teil, suchen sich ihre Freunde und Frauen in internationalen Kreisen und mehren ihren Reichtum. Die Macht sichern sie sich eben durch diesen Reichtum, eine Soldateska aus Klienten und Söldnern und ein internationales Netzwerk von Beziehungen.
Die Stellung der Tyrannen zur jeweiligen Stadtverfassung konnte jeweils sehr unterschiedlich sein: Einige Tyrannen lassen sich eine führende Position einräumen, ein ordentliches höchstes Amt mit außerordentlichen Vollmachten. Andere stehen neben der Stadt, regieren sie also wie ein fremder Oberherr von außen, d.h. Magistrate, Rat und Volksversammlung existieren weiter, akzeptieren aber die Oberhoheit, zahlen Steuern und leisten Heeresfolge. Der Tyrann konnte aber auch in der Stadt stehen, die Verfassung zum Schein bestehen lassen, aber die wichtigsten Ämter mit seinen Gefolgsleuten und Verwandten besetzen. Die Schattierungen sind mannigfaltig. Schuller beschreibt die Tyrannis als ein Durchgangsstadium hin zum verfassten Hoplitenstaat, idealiter zur Demokratie. Das ist so nicht ganz richtig, denn Tyranneis konnten auch später in der griechischen Geschichte auftreten, oder anders: Nicht alle Städte hatten in ihrer Geschichte einen Tyrannen.
Sagen wir eher: Die Tyrannis ist gewissermaßen ein Krisenphänomen. Wenn der Demos uneins ist, egal zu welcher Zeit, wenn starke Rivalitäten im Adel vorherrschen, sind das ideale Bedingungen dafür, dass es einer charismatischen Gestalt gelingt, einen Großteil des Volkes auf ihre Seite zu ziehen, also den Demos gegen den Adel zu instrumentalisieren. Aber auch hier gilt es wieder zu differenzieren, die Tyrannis bleibt ambivalent zu bewerten. Der Tyrann ist nicht nur ein Instrument des Demos gegen den Adel, sondern selbst ein hypertropher Adeliger, seine Herrschaft eine Übersteigerung der Adelsherrschaft. In dieser Spannung spiegelt sich ein Grundproblem der Geschichtswissenschaft, das Oszillieren zwischen einer biographischen und einer strukturgeschichtlichen Herangehensweise. Heute ist man mehrheitlich der Meinung, dass auch die Tyrannis nur multikausal zu erklären ist und auch immer nur vor dem Hintergrund der lokalen Begebenheiten. Zwei gegensätzliche Richtungen reiben sich, einerseits die Abschaffung des Königtums, dann die schrittweise Entmachtung des Adels und damit verbunden die kontinuierliche Verschiebung der Herrschaftsbasis nach unten, also der Weg hin zur Demokratie, und im Gegensatz dazu der Aufstieg einiger Adeliger zu einer übersteigerten Adelsherrschaft. Von diesen beiden Tendenzen war dann doch die hin zur Demokratie stärker. Warum?
Paradoxerweise trug gerade die Tyrannis zur Demokratie bei, sie stärkte den Freiheitswillen der Bürger. Der Tyrann hatte seinerseits die Bürgeridentität durch Festspiele erhöht, den Adel geschwächt, die Infrastruktur gestärkt, all dies kam der Demokratie zu Gute. Man kann also paradoxerweise sagen: Der Aufstieg einiger Adeliger, die dann ihre Macht auch oft missbrauchten, führte zu ihrem Fall am Ende der archaischen Zeit. Erst nach dem Sturz der meisten Tyranneis wurde diese Herrschaftsform dann durchgehend negativ konnotiert.

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