Übernahme der phönizischen Schrift

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Herodot
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Hdt. 5.58-59 – Original:

οἱ δὲ Φοίνικες οὗτοι οἱ σὺν Κάδμῳ ἀπικόμενοι, τῶν ἦσαν οἱ Γεφυραῖοι, ἄλλα τε πολλὰ οἰκήσαντες ταύτην τὴν χώρην ἐσήγαγον διδασκάλια ἐς τοὺς Ἕλληνας καὶ δὴ καὶ γράμματα, οὐκ ἐόντα πρὶν Ἕλλησι ὡς ἐμοὶ δοκέειν, πρῶτα μὲν τοῖσι καὶ ἅπαντες χρέωνται Φοίνικες: μετὰ δὲ χρόνου προβαίνοντος ἅμα τῇ φωνῇ μετέβαλλον καὶ τὸν ῥυθμὸν τῶν γραμμάτων. [2] περιοίκεον δὲ σφέας τὰ πολλὰ τῶν χώρων τοῦτον τὸν χρόνον Ἑλλήνων Ἴωνες, οἳ παραλαβόντες διδαχῇ παρὰ τῶν Φοινίκων τὰ γράμματα, μεταρρυθμίσαντες σφέων ὀλίγα ἐχρέωντο, χρεώμενοι δὲ ἐφάτισαν, ὥσπερ καὶ τὸ δίκαιον ἔφερε, ἐσαγαγόντων Φοινίκων ἐς τὴν Ἑλλάδα, Φοινικήια κεκλῆσθαι. [3] καὶ τὰς βύβλους διφθέρας καλέουσι ἀπὸ τοῦ παλαιοῦ οἱ Ἴωνες, ὅτι κοτὲ ἐν σπάνι βύβλων ἐχρέωντο διφθέρῃσι αἰγέῃσί τε καὶ οἰέῃσι: ἔτι δὲ καὶ τὸ κατ᾽ ἐμὲ πολλοὶ τῶν βαρβάρων ἐς τοιαύτας διφθέρας γράφουσι. [1] εἶδον δὲ καὶ αὐτὸς Καδμήια γράμματα ἐν τῷ ἱρῷ τοῦ Ἀπόλλωνος τοῦ Ἰσμηνίου ἐν Θήβῃσι τῇσι Βοιωτῶν, ἐπὶ τρίποσι τισὶ ἐγκεκολαμμένα, τὰ πολλὰ ὅμοια ἐόντα τοῖσι Ἰωνικοῖσι. ὁ μὲν δὴ εἷς τῶν τριπόδων ἐπίγραμμα ἔχει “ἀμφιτρύων μ᾽ ἀνέθηκ᾽ ἐνάρων ἀπὸ Τηλεβοάων.” ταῦτα ἡλικίην εἴη ἂν κατὰ Λάιον τὸν Λαβδάκου τοῦ Πολυδώρου τοῦ Κάδμου.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung:: A.D.Godley
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

These Phoenicians who came with Cadmus and of whom the Gephyraeans were a part brought with them to Hellas, among many other kinds of learning, the alphabet, which had been unknown before this, I think, to the Greeks. As time went on the sound and the form of the letters were changed. [2] At this time the Greeks who were settled around them were for the most part Ionians, and after being taught the letters by the Phoenicians, they used them with a few changes of form. In so doing, they gave to these characters the name of Phoenician, as was quite fair seeing that the Phoenicians had brought them into Greece. [3] The Ionians have also from ancient times called sheets of papyrus skins, since they formerly used the skins of sheep and goats due to the lack of papyrus. Even to this day there are many foreigners who write on such skins. [1] I have myself seen Cadmean writing in the temple of Ismenian Apollo at Thebes of Boeotia engraved on certain tripods and for the most part looking like Ionian letters. On one of the tripods there is this inscription: “Amphitryon dedicated me from the spoils of Teleboae.” This would date from about the time of Laius the son of Labdacus, grandson of Polydorus and great-grandson of Cadmus.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Niklas Rempe
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Hdt. 5.58-59

Leitfragen:

1) Beschreiben Sie den Ablauf der Übernahme der Schrift der Phönizier.

2) Was kann man aus der Quellenpassage über die frühe Verwendung der Schriftzeichen erfahren?

3) Was für Rückschlüsse lassen sich aus der Quelle über Herodots Ansichten hinsichtlich der Entwicklung der griechischen Schriftzeichen ziehen?

Kommentar:

Herodot beginnt seinen kurzen Exkurs über den Ursprung der griechischen Schrift mit Kadmos – dem mythischen Gründer Kadmeias (dem späteren Theben). Aus Phönizien stammend haben er und seine Gefährten, die sich schlussendlich in Boiotien ansiedelten, ihre Schriftzeichen mitgebracht. Die Verbindung dieser phönizischen Schrift und dem lokalen griechischen Dialekt führte zu einer Veränderung der Schriftzeichen. Herodot verweist zudem generell auf die Nachbarschaft bzw. enge Verbindung zwischen den Phöniziern und Griechen. Neben der mythischen Verbreitung der Schrift durch Kadmos hebt er parallel die Nähe zu den Griechen, die sich durch den ionischen Dialekt auszeichnen, hervor. Zu denken ist hier insbesondere an die griechischen Poleis an der kleinasiatischen Küste und an Zypern, wo sich sowohl griechische als auch phönizische Siedlungen befanden. Auch den praktischen Umgang mit der Schrift – Herodot erwähnt die Verwendung von Leder als beschriebenem Material – übernahmen die Griechen von ihren östlichen Nachbarn, bevor sie ihre Eigenarten diesbezüglich entwickelten. Die frühen Schriftzeugnisse, die zur Zeit Herodots noch überliefert waren, spiegeln diese Entwicklung wieder, da die Buchstaben nunmehr in Keramik geritzt und in einem frühen Stadium der späteren ionisch-griechischen Schrift verfasst wurden.

Herodot gibt nach seiner Darstellung der Herkunft der griechischen Schrift drei Beispiele für die frühe Verwendung jener Zeichen an. Es handelt sich um Inschriften auf verschiedenen Dreifüßen, die als Weihgabe in Tempeln abgelegt wurden. Zum einen ist der religiöse und kultische Kontext für diese Weihgaben hervorzuheben. Die Griechen applizierten das für sie relativ neue Konzept von Schrift anscheinend schnell innerhalb diesem für sie so wichtigen Bereich ihrer Lebenswelt. Auch der Inhalt der Inschriften zeugt davon, wenn in zwei der Beispiele dem Gott Apollon – in dessen Tempel die Dreifüße ja auch stehen – für sein Tun gedankt wird. Bzgl. dieser zwei Inschriften ist zudem hervorzuheben, dass sie in Hexametern – einem Versmaß, welches sich auch in der frühen Dichtung Homers und Hesiods finden lässt – verfasst sind. Das weist auf den hohen Stellenwert der Dichtung in der griechischen Welt hin. Obwohl erst einige Jahre in Verwendung scheinen die Griechen das Mittel der Schrift früh poetisch und künstlerisch genutzt zu haben.

Abschließend lässt sich aus Herodots Darstellung der Entwicklung der griechischen Schrift noch Verschiedenes über die Zeit des Autors (5. Jh. v. Chr) sagen. Herodot gibt dem Ursprung der griechischen Schriftzeichen durch die Verbindung zu Kadmos einen mythischen Anstrich. Derartiges ist in vielen Lebensbereichen und zu verschiedenen Zeiten im griechischen Raum nachzuvollziehen. Die Autorität, die eine derartige Person aus der mythischen Vergangenheit mit sich brachte, ging auf den Gegenstand, der auf sie zurückgeführt wurde, über (weitere Beispiele sind z.B. Städtegründer und/oder Gesetzgeber). Herodot und die Griechen seiner Zeit hielten diese Persönlichkeiten und die mit ihnen in Verbindung gebrachten Taten durchaus für historisch, was seine Kommentare zu den Inschriften zeigen. Erstere Inschrift sei zur Zeit von Kadmos‘ Enkel entstanden und die zweite in der Zeit des Ödipus. Herodot überschätzt damit allerdings das Alter der Inschriften deutlich, was zeigt, dass er sich der relativen Neuartigkeit der griechischen Schrift (sie wurde im 8. Jh. v. Chr. eingeführt) nicht gänzlich bewusst gewesen zu sein scheint. Die knapp 300 Jahre bis zur Lebenszeit Herodots haben zwar den plausiblen Ursprung der Schriftzeichen aus den phönizischen noch nicht vollends in Vergessenheit gerückt, doch wird von ihm die Veränderung der Buchstaben als deutlich langsamer, als sie konkret vonstatten ging, veranschlagt.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die große Kolonisation / Der Orient“. Um einen breiteren Einblick in die griechische Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
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