Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Werner Rieß
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Griechische Geschichte III: Der Hellenismus
06 – Religiöse Entwicklungen im Hellenismus
Wir wollen uns heute im abschließenden Podcast dieser Vorlesung den religiösen Entwicklungen in der hellenistischen Zeit zuwenden. Durch die enorme Ausweitung des griechischen Horizontes kamen die Griechen nun mit neuen, fremden Völkern und Religionen in Berührung. Östliche Religionen versprachen mehr Innerlichkeit, gerade weil sie fremd und exotisch anmuteten. Im Hellenismus wird der Grundstein gelegt für den Synkretismus der Kaiserzeit, in der die alten Polisreligionen des Westens mit den Mysterien- und Erlösungsreligionen des Ostens verschmolzen. Gleichzeitig erlebten die Menschen eine enorme Unsicherheit in ihren persönlichen Lebenslagen. Die Dinge waren schnelllebiger und unsicherer geworden, sobald man die schützende heimatliche Polis verließ. Das Schicksal, die unvorhersehbaren Wechselfälle des Lebens, wurden als Tyche umschrieben, die dann selbst als Göttin verehrt wurde, so war sie z. B. Stadtgöttin in Antiochia.
Bezüglich der Verehrung von Herrschern gibt es zwei Tendenzen, einmal die Einrichtung von Kulten von oben und persönliche Frömmigkeit von unten. Beides ging nicht unbedingt Hand in Hand, konnte sich jedoch ergänzen. Gehen wir also auf die Dynastiegottheiten und den städtischen Herrscherkult kurz ein.
Die Herrscher mussten sich legitimieren und brauchten Schutzgötter, die sie im Bereich der Olympier suchten und fanden: Die Antigoniden behaupteten, von Herakles abzustammen und prägten die Keule auf ihre Münzen. Sie betonen auch ihre fiktive Verwandtschaft mit Philipp II. und Alexander dem Großen. Die Seleukiden leiten sich von Apollon ab. Seleukos I. Nikator sah sich als Sohn Apollons und wird auch in Inschriften so angesprochen und verehrt. Die Ptolemäer verbinden sich mit Dionysos, was ja auch Alexander selbst getan hatte.
Außer in Makedonien, war die Annahme dieser Schutzgötter oft mit der Einrichtung des Herrscherkults für die verstorbenen und später auch für die lebenden Herrscher verbunden. Sie bekamen Altäre, Opfer, Preislieder und Feste, die nach ihnen benannt wurden. Lysander, der spartanische König, der den Peloponnesischen Krieg für Sparta siegreich beendet hatte, wurde als erster wie ein Gott verehrt. Alexander wurde auch schon zu Lebzeiten wie ein Gott verehrt, was das aber genau bedeutete, ist in der Forschung stark umstritten.
Die direkte Vergöttlichung geht bei den Ptolemäern am weitesten, dann folgen in absteigender Reihenfolge die Seleukiden, die Attaliden und schließlich die Antigoniden, die in Makedonien natürlich andere Voraussetzungen hatten.
Wieder sehen wir, wie immer in der Alten Welt, die Verquickung von Religion und Politik. Die Herrscher initiierten die Kulte nicht nur, sondern kamen auch einem gewissen Bedürfnis der Untertanen entgegen, die oft von sich aus gottähnliche Ehrungen für ihre Herrscher beschlossen. Die Athener richten 307 einen Kult für Antigonos und Demetrios ein, 294 oder 291 bekommt Demetrios seinen eigenen Kult mit Hymnen, ziemlich unglaublich und das alles in Athen! Offenbar herrscht geistige Orientierungslosigkeit, ein Gefühl der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins (ein grundsätzliches Lebensgefühl im Hellenismus), und wer die Position eines hellenistischen Herrschers mit seiner fast unbegrenzten Machtfülle innehatte, der musste wohl von den Göttern oder zumindest von Tyche besonders begünstigt, begnadigt erscheinen, so dass seine Verehrung schon Sinn machte.
Bei den Seleukiden war die Entwicklung langsamer und uneinheitlich und geschah lange nur auf Initiative der Städte. Seleukos I. wurde in Ilion als von Apoll abstammend anerkannt, er wurde aber nicht wirklich als Gott bezeichnet, war aber nah dran: Es gibt ein Fest, einen heiligen Bezirk, Altar, Opfer, Prozession, Spiele, Hymnen, goldene Kränze für ihn. Antiochos I. macht seinen Vater zum Gott, aber Antiochos III. (223-187) ging viel weiter: Er richtete einen Kult für sich selbst und für alle seine Vorfahren ein sowie für seine Frau Laodike.
Anders als die Seleukiden erfuhren die Attaliden zu ihren Lebzeiten keine Vergöttlichung, wurden aber kultisch in vielen Städten Kleinasiens anerkannt.
Der Grad der Religiosität bei den Herrscherkulten ist nur schwer zu messen. Oft ging die Initiative von den Städten aus, das ist also die Bewegung von unten. Sie wollten sich des Wohlwollens des Herrschers in besonderer Weise versichern, oft aber sind diese städtischen Kulte Ausdruck wahrer Dankbarkeit.
Die Reichskulte wurden von den Herrschern initiiert. Aber das war nicht nur Strategie und Berechnung. Der Beiname lautet oft „Theos“, was aber nicht nur Gott bedeutet, sondern auch als Adjektiv, „göttlich“ aufgefasst werden kann.
Religion des Individuums
Die alten Poliskulte leisteten für die Menschen in der Fremde, die wohl oft unter sozialer Isolation und Entwurzelung litten, nicht mehr das, was sie früher einmal leisteten. Die Menschen wandten sich nun verstärkt Erlösungsreligionen zu. Die Mysterienkulte boten geheime Initiationsriten an, was die Eingeweihten aneinanderschweißte und so zu festen Sozialkontakten führte. Der Kult von Eleusis (Demeter), die Riten der Kabiren auf Samothrake, der Asklepios-Kult in Epidauros erreichen jetzt ihren Höhepunkt. Die Offenbarung sollte irrational und emotional ansprechend sein. Es geht bei den Mysterienkulten immer um Tod und Auferstehung, also um Erlösung vom Irdischen. Die Teilnehmer betrachten sich als egalitär, also Bürger, Frauen und Sklaven standen auf einer Stufe. Die geheimen Initiationen vermittelten ein Gefühl der Exklusivität. Gesucht wurden wohl ekstatische Erfahrungen und Trance-Zustände. Das war bei den Bacchantinnen des Dionysos der Fall und auch im Kybele-Kult. Der Kybele-Kult wurde immer populärer, der Höhepunkt war dann in der römischen Kaiserzeit erreicht.
Die Philosophen banden die Götter in ihre Systeme ein, als oberstes Gut, als Tugend oder Weisheit oder Weltprinzip. Sie waren peinlich darum bemüht, die Existenz der Götter nicht ganz zu leugnen. Auch gab es die Tendenz hin zur Verehrung von abstrakten Prinzipien, am wichtigsten die bereits erwähnte Tyche, die weithin verehrt wurde. Wie weit die Personalisierung aber emotional wirksam wurde, können wir nicht sagen.
Immer mehr Menschen wenden sich den ägyptischen Göttern zu, die offenbar mehr Hilfe versprachen als die einheimischen. Wir sehen ein massives Vordringen der östlichen Kulte auch nach Griechenland hinein. Sarapis war sehr beliebt, den Ptolemaios I. Soter einführte, der Sarapis-Kult war also eigentlich ein ptolemäischer Reichskult.
Der Isiskult verbreitet sich v.a. im 2. Jh. v. Chr., bekommt unter Sulla sogar schon in Rom einen Tempel, und Isis wird in der Kaiserzeit zu einer der führenden Gottheiten. Schon zu Herodots Zeiten war sie so etwas wie eine Hauptgöttin in Ägypten. Die Griechen identifizierten Isis sinnvollerweise mit Demeter, Osiris mit Dionysos. Isis konnte viele andere Götter in sich vereinigen, was der Ausbreitung ihres Kultes natürlich zum Vorteil gereichte. Der synkretistische Prozess ist hier also sehr wichtig. Weil Isis nicht ortsgebunden war, konnte sie bald Demter den Rang ablaufen, da ihre Mysterien nur in Eleusis stattfanden.
Auch andere orientalische Gottheiten wurden nun in Griechenland verehrt und mit griechischen, später mit römischen Göttern gleichgesetzt:
Kybele, magna mater, eine anatolische Muttergöttin, wird von Attis begleitet,
Atargatis und Hadad aus Assyrien (Aphrodite und Zeus),
Melqart (Herakles),
Astarte (Aphrodite).
All diese Götter umranken natürlich Mythen. Es kam zu einer interpretatio graeca; diese schillernden Gottheiten wurden v.a. in den kosmopolitischen Metropolen verehrt, später auch im Westen, v.a. in Rom und Karthago. Wichtig für die Menschen wird das Weiterleben nach dem Tode und die persönliche Bindung. In diese Welt hinein stößt später das Christentum vor, das schließlich Isis und Mithras ausstechen kann, aber das sind Entwicklungen, mit denen wir uns dann in der Vorlesung über die Römische Kaiserzeit befassen werden.
Mithras war ursprünglich ein iranischer Gott, der Licht- und Sonnengott der Krieger, die für das Gute kämpfen. Die Tötung des Stiers ermöglicht das Leben. Wichtig ist dieser Kult in Pontos, Kappadokien und Kommagene. In der röm. Kaiserzeit wurde der Mithras-Kult dann eine Soldatenreligion, in der es nach einem Blutopfer um Erlösung ging. Auch in dieser Religion waren alle Kultteilnehmer gleich, wieder sehen wir also das egalitäre Element. Mithras stammt wohl ursprünglich aus der iranischen Mysterientradition; hellenisierte Magier haben dann den Kult langsam nach Westen gebracht, vieles liegt hier im Dunkeln und ist daher sehr umstritten.
Zu den Gemeinsamkeiten der Mysterienreligionen: Die Kultgemeinschaft war nicht mehr auf eine Polis beschränkt, sondern international, es gibt Vereinssatzungen, hauptamtliche Priester, die die komplizierten Kultrituale erlernen, pflegen und bewahren. Die Eingeweihten oder Mysten bekleiden verschiedene Ränge je nach Grad der Einweihungsstufe, also auch hier ist wieder Raum für den Agon, für einen Aufstieg, der in der Gesellschaft so nicht zu leisten war. Die Eingeweihten nannten sich Brüder, es entsteht also ein Gemeinschaftsgefühl; soziale Schranken im Kult werden weitgehend abgebaut. Was in den Initiationen geschah, wissen wir nicht, aber es muss zu kathartischen Wirkungen gekommen sein, die entlastend auf den Einzelnen wirkten. Auf Fasten, sexuelle Enthaltsamkeit, Schatten, folgten Jubel, Tanz, Ausgelassenheit, Licht, ein Festschmaus, Tanzen, Hymnen-Singen usw.. Ein extremer Wandel, eine Peripatie, wurde also in Szene gesetzt, was emotional sehr eindrucksvoll gewesen sein muss und die Menschen affektiv und spirituell ansprach. Hinzu kam die Aussicht auf Erlösung im Jenseits. Reinheit war ganz wichtig für die Initiation, hier werden alte griechischen Vorstellungen wieder aufgriffen und nun verinnerlicht. Die Sünde wird nun beschmutzend, befleckend, eine ethische Verfehlung wird also materialisiert und in die Metaphorik der Verunreinigung und Reinheit gebracht.
Das Judentum im Hellenismus
Zentral wichtig ist die Entwicklung des Judentums im Hellenismus und v.a. der Aufstand der Hasmonäer/Makkabäer gegen die Seleukidenherrschaft um ca. 150 v. Chr. aus religiösen und politischen Gründen. Die Juden waren bereits im ganzen Vorderen Orient verteilt und hielten streng an ihrer monotheistischen und doch recht exklusiven Religion fest. Das Zusammenleben mit den Griechen fiel ihnen oft schwer, zu unterschiedlich waren die Riten, der allgemeine Lebensvollzug und die Einstellung zu den hellenistischen Herrschern, mit denen sie aufgrund des Herrscherkultes irgendwann in Konflikt kommen mussten. Zumindest für die Orthodoxen traf dies zu, weniger für die liberalen Strömungen, die es v.a. in der Diaspora auch gab. Viele Juden in Alexandria waren zum Teil von Alexander angesiedelt worden, zum Teil hatten sie sich als ptolemäische Söldner dort niedergelassen, zum Teil waren sie schon vorher dort, v.a. in Elephantine. Ab ca. 150 schlossen sich die Juden in Alexandria in einem Ghetto ein. Die meisten Juden in Alexandria waren hellenisiert und sprachen Hebräisch kaum mehr. Für sie wurde die Übersetzung der Thora entscheidend. Diese Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische, die in Alexandria geleistet wurde, nennen wir Septuaginta und stellt eine der größten Leistungen des Hellenismus dar. Viele Juden konnten nun wieder die heiligen Schriften lesen.
Antiochos III. erobert 200 Jerusalem, vorher war ganz Palästina bei den Ptolemäern. Zunächst gab es wenig Unterschied zu vorher. Es kam zu einer gewissen Hellenisierung, doch die Orthodoxen leisteten fanatischen Widerstand und hielten strikt am Wortlaut der mosaischen Gesetze fest. Wir haben es also mit einer kulturellen und religiösen Widerstandsbewegung gegen die Seleukiden zu tun. Judas Makkabaios erhob sich schließlich, als Seleukos IV. versuchte, sich der Einnahmen des Tempels zu bemächtigen. Antiochos IV. machte den hellenisierten Juden Iason für Geld zum Hohepriester, der einen grundlegenden Hellenisierungsschub vornahm, ein Gymnasion und ein Ephebeion gründen und aus Jerusalem eine griechische Polis machen wollte.
Viele hellenisierte Juden waren sehr dafür, es gab also sehr heterogene Gruppen innerhalb des Judentums, eine Spannung zwischen dem Willen, die jüdische Identität zu bewahren, und der Anziehungskraft der griechischen „Leitkultur“. Antichos IV., der 168 v. Chr. von dem Römer Caius Popilius Laenas gedemütigt und zum Rückzug aus Ägypten gezwungen und damit entscheidend geschwächt worden war, übte nun Druck aus und wollte sein verbliebenes Reich verstärkt hellenisieren. Er brauchte Geld und griff daher auf die Tempelschätze zu. Menelaos, der neue Oberpriester, erwies sich als eifriger Handlanger des Antiochos. Die Plünderung und Entweihung des Tempels, das Verbot der Beschneidung, des Sabbats und der traditionellen Opfer für Jahwe waren die Folge. Stattdessen wurden die Juden gezwungen, Schweine zu opfern, das war ganz und gar verabscheuenswürdig, auch zur Einführung heidnischer Kulte kam es. Diese Vorgänge führten dann direkt zum Aufstand gegen die seleukidische Oberhoheit. Zuerst war es ein Guerilla-Krieg der niederen Priester und der Landbevölkerung, dann stellen die Juden unter Makkabaios ganze Heere auf und gewinnen 164 den Tempel wieder zurück, den sie reinigen mussten, weil Antiochos darin, aus böswilliger Absicht, ein Schwein geopfert hatte. Die seleukidischen Gesetze wurden annulliert. Der Krieg ging trotzdem weiter. Orthodoxe Juden radikalisierten sich und hatten schließlich auch die hellenisierten Juden gegen sich, d.h. eine tiefe Spaltung ging jetzt quer durch das Judentum, die man im Prinzip noch heute beobachten kann. Aus den Makkabäern entwickelt sich die Dynastie der Hasmonäer heraus, ein eigener jüdischer Staat entsteht, aber trotz all der Widerstände in hellenistischer Manier. Schon hier wird deutlich: Bald wurde dieser weiterschwelende Konflikt eine Angelegenheit der römischen Expansion. Die orthodoxen Juden machten weiterhin Aufstände, 70 n. Chr. wurde Jerusalem schließlich von den flavischen Truppen zerstört, Bar Kochba unternahm dann unter Hadrian den letzten Versuch, der in einer Katastrophe mündete. Hier beginnt die jüdische Diaspora.
Neben den orthodoxen Fanatikern gab es aber auch die hellenisierten Juden und in diesem Umfeld entstanden die griechisch verfassten Schriften des Neuen Testaments. Dies war ein großes Glück für das Christentum, denn das Griechische war die Kultursprache, in der alles ausgedrückt werden konnte, die griechische Sprache bot das philosophische Vokabular, mit dem Paulus seine unerhörte Theologie entfalten konnte. Über das philosophische Griechisch gewannen die Christen schließlich die gebildeten Hellenen und konnten so das Christentum nach Westen tragen. So wurde das Christentum intellektuell und für die griechischen Eliten attraktiv. Ohne zu telelogisch werden zu wollen, denke ich, dass es nicht falsch ist zu sagen, dass es ohne die Hellenisierung des Nahen Ostens das Christentum nicht gegeben und es den Aufstieg zur Staatsreligion in der Spätantike nicht geschafft hätte.