02 – Die Minoer

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in:
Werner Rieß
Lizenz:
CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

02 – Die Minoer

Wir beginnen die Vorlesung mit einem Überblick über die minoische Kultur auf Kreta. Entscheidend ist, dass die Minoer keine Indoeuropäer sind, sondern eine vor-indogermanische Sprache sprechen, weswegen wir ihre Schrift, Linear A, leider nicht lesen können. Die minoische Kultur erschließt sich daher für uns nur über die Archäologie, und auf der Archäologie beruht auch die Epocheneinteilung der minoischen Geschichte. Arthur Evans grub Knossos ab 1899 aus. Wichtige Palastanlagen neben Knossos sind Phaistos, Mallia und Kato Zakros im Osten der Insel. Wir wissen weder, woher die Minoer kommen noch wie es zur Palastentstehung überhaupt kam. Schon in der Vorpalastzeit 3000-2000 v. Chr. finden sich in Stein geschnittene Siegel. Der Stier scheint in der Religion schon eine Rolle gespielt zu haben, die Bauweise der Häuser ist auch hier schon agglutinierend. Der Sprung zur Hochkultur erfolgt um 2000 mit dem Beginn der Älteren Palastzeit. Politik und Wirtschaft scheinen in den Palastanlagen konzentriert gewesen zu sein, doch lassen kleinere Anlagen außerhalb auch auf einen lokalen Adel schließen. Es handelt sich offenbar um eine friedliche Kultur, die sich auch von außen nicht bedroht fühlte: Auf den Fresken finden sich z. B. Delphine. Schon in dieser Älteren Palastzeit waren die Minoer international sehr gut vernetzt, v.a. mit den Kykladeninseln und Ägypten. Zudem legten sie Handelsposten an, wie etwa auf Rhodos, Samos, Knidos und Karpathos. Um 1800 bzw. 1700 vernichtet eine Erdbebenkatastrophe diese älteren Paläste. Sie werden jedoch sogleich wieder aufgebaut, womit die Jüngere Palastzeit eingeläutet wird. Die minoische Kultur erreicht nun bis 1400 v. Chr. ihren Höhepunkt. Die Paläste betrieben als Administrationszentren eine ausgefeilte Versorgungs- und Magazinierungspolitik, was die Grundlage für eine hoch entwickelte Redistributionswirtschaft darstellte. Diese jüngeren Paläste werden um 1500 oder 1450 zerstört. Die Ursachen sind gänzlich unklar. Sicher ist, dass der Vulkanausbruch von Thera, der entweder auf 1640 bzw. 1628 oder aber auf ca. 1530 datiert wird und das minoische Akrotiri zerstörte, nicht für die Zerstörungshorizonte auf Kreta verantwortlich ist, wie früher oft angenommen wurde. Die Dicke der Aschenschicht auf Kreta ist minimal. Die Lavareste auf Santorin zeigen, dass der Vulkan sukzessive ausgebrochen und wieder in sich zusammengefallen ist und daher keinen Tsunami auslöste. Zudem ist die letzte minoische Keramik ca. 50 Jahre jünger als die von Thera. Thera und Knossos gingen also nicht gleichzeitig unter. Wolf-Dietrich Niemeyer fand heraus, dass um 1450 alle Paläste außer dem von Knossos zerstört und die Siedlungen wieder aufgebaut wurden, aber nicht die Paläste und schließt daraus, dass es sich bei diesen Zerstörungen um innerkretische Auseinandersetzungen gehandelt haben muss, aus denen Knossos als Sieger hervorging. Kreta war aber insgesamt wohl so geschwächt, dass es um 1375 seine Vormachtstellung an die Mykener abgeben musste. Nach Niemeyer erlebt das minoische Knossos zwischen 1450, dem Erringen der Alleinherrschaft auf Kreta, und 1375, der Ankunft der Mykener, seine Blütezeit. Das ist nur eine Theorie. Andere Forscher meinen, die Mykener seien schon 1450 gekommen, auf sie sei der Zerstörungshorizont zurückzuführen. Oder es gab zwei verschiedene Eroberungswellen vom Festland aus, eine um 1450, die andere um 1375. Die zweiten Eroberer seien dann die Mykener gewesen. Wie dem auch sei, Linear A bricht um 1375 ab, ab dieser Zeit sind die Mykener die Herren von Knossos und dem größten Teil Kretas. Nur der Osten steht nicht unter ihrer Kontrolle. Die Nachpalastzeit ist also mykenisch. Durch vielfältige Interaktion der Eroberer mit der unterworfenen minoischen Bevölkerung findet ein kultureller Verschmelzungsprozess statt. Die minoisch-mykenische Mischkultur entsteht.
Die Linear A-Schrift der Minoer ist eine reine Verwaltungsschrift. Sie diente zur Buchhaltung der Magazine und Vorratsräume. Sie ist an rund 25 Orten auf Kreta belegt, nicht nur in den Palastzentren. Bedeutende Fundorte sind Hagia Triada, Chania, Phaistos und Zakro. Linear A ist eine Silbenschrift, von der wir rund 800 Wörter unterscheiden können, deren Bedeutung wir aber nicht verstehen. Es gibt 90 Syllabogramme, 70% davon haben eine Entsprechung im mykenischen Linear B. Daneben gibt es auch sogenannte Logogramme, also Zeichen, die ein ganzes Wort bezeichnen. Linear A verwendet auch Monogramme, d.h. Zeichen, die aus zwei oder drei Syllabogrammen zusammengesetzt sind. Zahlzeichen sind in Linear A und B identisch, nur gibt es in Linear A kein Zeichen für 10.000. Obwohl Linear A nach wie vor nicht entziffert ist, haben wir dennoch ein grundlegendes Verständnis der Texte. Zwei Zeichen sind bekannt: KU-RO heißt Summe, Ganzes, PO-TO-KU-RO heißt Gesamtsumme. KI-RO heißt Defizit. Es geht also immer um Transaktionen, um Verwaltungsakte.
Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass es neben Linear A noch eine kretische Hieroglyphenschrift gab. Der Name ist etwas missverständlich, weil es sich auch bei dieser Schrift um eine Silbenschrift handelt. Wir können nicht sagen, ob Linear A oder die kretische Hieroglyphenschrift älter ist. In der mittel-minoischen Periode sind beide Schrifttypen in Verwendung, allerdings gibt es eine geographische Verteilung, die vielleicht auf eine politische Zweiteilung Kretas hinweist. Linear A wird im Süden verwendet, die Hieroglyphenschrift in Nord-Zentral und Nordostkreta. In der mittelminoischen Periode III wird schließlich die Hieroglyphenschrift zugunsten von Linear A aufgegeben. Nun wird überall Linear A bis zum Aufkommen von Linear B geschrieben.

Zur minoischen Religion

Die Minoische Religion geht aus Grabritualen hervor. Bald lösen sich die Riten von den Gräbern und haben nur noch mit Götterverehrung zu tun. In allen Heiligtümern finden sich Gabentische, Tonphalloi, Tassen mit weiblichen Brüsten, Rhyta, also Trinkgefäße in der Form von Stieren und natürlich die typischen Doppeläxte aus Bronze oder Gold, die entweder zu klein oder zu groß für eine tatsächliche Verwendung sind. Wie wir den Stierfresken entnehmen, spielten Stiere wohl auch im Kultus eine wichtige Rolle, vielleicht auch Stieropfer, aber es gibt keine Belege für einen eigentlichen Stiergott. Man muss aber daran denken, dass der Stier im Mythos sehr wohl mit Kreta verbunden wird. Denken Sie daran, dass sich Zeus in einen Stier verwandelt, um die schöne Europa nach Kreta zu entführen. Kreta ist auch die Insel des Zeus und damit auch die Insel des Stieres. Auf den allgemein bekannten Mythos vom Minotauros muss ich gar nicht weiter eingehen. Im Zentrum des Kultes stand also die Fruchtbarkeit des Menschen, worauf die Tonphalloi genauso wie die vielen weiblichen Figurinen hindeuten, die entweder ein Gefäß tragen oder bei denen die Brüste kleine Löcher haben, so dass man aus diesen Figurinen trinken konnte.
Die Minoer suchten die Nähe zu den Göttern in der Natur, auf Berggipfeln, wir sprechen von Gipfelheiligtümern, und drunten in der Erde, wir sprechen von Höhlenheiligtümern. Daneben gibt es auch Baumheiligtümer. Später werden die Götter dann auch in den Städten und Palästen verehrt, Walter Burkert spricht von Hausheiligtümern. Wir sehen also, dass die Religion bei den Minoern alle Lebensbereiche durchdringt.
Zunächst zu den Gipfelheiligtümern: Wir kennen über 20 sicher identifizierte Gipfelheiligtümer. Dort fand man Figurinen, meist Votivdarstellungen in Form von Tieren und menschlichen Körperteilen, wie z. B. Füße, Augen und Genitalia. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Votivgaben, Danksagungen für die Genesung von Krankheiten bzw. Bitten um Genesung bzw. Gesunderhaltung. Vielleicht gab es eine Berggöttin, die man auf den Gipfeln verehrte. Ein wichtiges Zeugnis ist hier das sog. Mutter-der-Berge-Siegel. In Sumer gibt es eine Herrin vom Berge, in Kanaan gab es Feueropfer auf den Gipfeln für Baal, wie im Alten Testament geschildert. Greifen wir also hier auf Kreta orientalische Traditionen? Offenbar hat man auf Kreta große Feuer zur Nacht auf den Gipfeln entzündet, denn wir finden viele Lampen und Tierreste. Figurinen wurden ins Feuer geworfen, auch kleine Tonkügelchen. Vielleicht gibt es hier eine Verbindung zu den späteren griechischen Feuerfesten. In mykenischer Zeit sind Gipfelheiligtümer nicht mehr nachzuweisen. Sie sind also ein typisch minoisches Phänomen.
Höhlenheiligtümer: 15 sind bislang sicher nachgewiesen, wahrscheinlich gab es aber doppelt so viele. Wie die Gipfelheiligtümer liegen auch sie siedlungsnah. In den Höhlen findet man Reste von Libationen und Trinkritualen. Auch Festmähler fanden statt. In den Höhlen wurden für die Gottheit männliche und weibliche Bronzefigurinen zurückgelassen, Doppeläxte, hunderte von dünnen Schwertern, Dolchen und Messern. Vielleicht greifen wir hier schon das Prinzip der Reziprozität, von Gabe und Gegengabe. Es wurde die Vermutung geäußert, dass man in den Höhlen versuchte, in ekstatische Trance-Zustände zu kommen. In dieser Trance wollte man dann Visionen haben vom Erscheinen, der Epiphanie der Göttin.
Auf manchen Goldringen werden Baumheiligtümer abgebildet. Der Baum ist von einer Mauer eingefriedet, es gibt auch einen Altar. Tänzer und Tänzerinnen werden in Ekstase abgebildet.
Die Schreine der Palastkulte, an denen man auch das typische Kultmaterial findet, sind auch für die breitere Öffentlichkeit zugänglich. Wichtig für die Hauskulte sind die Schlangendarstellungen, vielleicht galt die Schlange als Wächterin des Hauses. Und vielleicht wurden Schlangen sogar gehalten und gefüttert.
Tempel sind in der minoischen Kultur nicht belegt, doch gibt es eine wichtige Ausnahme. In Ayia Irini auf Keos fand man ein minoisches Gebäude aus dem 15. Jh. Es bestand aus einem Hauptraum mit Nebenräumen und einem Adyton. Sensationell ist, dass man 20 lebensgroße, weibliche Tonstatuen fand, mit entblößten Brüsten, die Hände an den Hüften, wohl Priesterinnen, die sich in Ekstase tanzen. Dieser Kult wurde offenbar bis in die klassische griechische Zeit praktiziert, also wohl rund 1000 Jahre, denn eine Inschrift belegt, dass der Tempel später dem Gott Dionysos geweiht war, also dem Gott des Weins, des Rausches und der Ekstase. Dies ist vielleicht der einzige archäologische Befund, der uns eine Kontinuitätslinie von der minoischen bis in die griechische Zeit hinein aufzeigt. Der minoische Kult der Ekstase wurde später wohl dionysisch verstanden.
In der neopalatialen Phase fanden im Thronraum von Knossos offenbar Salbungsrituale statt, wie ein Pithos und mehrere Alabastra zeigen, doch wir wissen leider nicht, wer auf dem Thron saß, ein König, ein Oberpriester oder eine Oberpriesterin, die vielleicht die Göttin in einem Ritual spielte? Sind wir hier in einer Theokratie?
In Knossos, Phaistos, Mallia und Zakros gibt es Zentralhöfe, in denen Altäre gefunden wurden. Auf der westlichen Seite gab es immer Kulträume, die sich zur Stadt hin öffnen, allerdings ist die genaue Kulttopographie unklar. Die Stiersprünge fanden wohl nicht in diesen großen Innenhöfen statt, weil diese gepflastert waren, aber die Opferung der Stiere kann man sich hier durchaus vorstellen. Weitere religiöse Architektur stellen die Lustralbecken und die Säulenkrypten dar. In Knosssos liegt der lustrale Baderaum direkt neben dem Thronsaal, in den Säulenkrypten fanden wohl Ernte- und Reinigungsfeste statt.
In der postpalatialen Phase, also nach 1450 werden die Gipfelheiligtümer aufgegeben, die Lustralbecken zugeschüttet, die Säulenkrypten anderweitig verwendet. Hier macht sich nun wohl mykenischer Einfluss bemerkbar. Es gibt viele Veränderungen, aber keinen direkten Bruch, wir greifen also immer noch im Wesentlichen eine Kontinuität im Kult. Offenbar gehen die Mykener sehr pragmatisch mit der minoischen Kultur um: Was in ihre eigenen religiösen Vorstellungen passt, wird übernommen, wie z. B. die Doppeläxte zur Darstellung von Macht, was sie nicht brauchen, wird nicht weitergepflegt.
Noch ein paar Worte zu den minoischen Ritualen: Wichtig sind Prozessionen zu den Heiligtümern, wo Männer und Frauen tanzen, um in Ekstase die Muttergottheit zu erfahren. Anders als im klassischen Griechenland wird auf den Altären nie Feuer gemacht, sondern nur an ihnen gebetet. Dennoch sind alle Elemente des späteren griechischen Opfers schon da: Die Prozession, der Altar, das Voropfer in Form von Libationen, das eigentliche Opfer, das Auffangen des Blutes, die Verzehrung des Fleisches. Es gibt einige, wenige Hinweise für Menschenopfer. In Knossos fand man die Überreste von vier Kindern, deren Knochen Schnittspuren aufweisen, d.h. das Fleisch wurde von den Knochen gelöst. Wenn es sich hier wirklich um Kannibalismus handeln sollte, so ist er auch durch eine Notlage, wie eine Hungersnot erklärbar. In Myrtos, an der Südostküste Kretas fand man bei einem Schrein den Schädel eines jungen Mannes, aber vielleicht handelt es sich hier einfach um Totenkult. Die Evidenz für Menschenoper ist also sehr dürftig.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die minoischen Riten den ganzen Kosmos einbinden, von den Höhlen bis zu den Gipfeln, auch in Häusern finden Riten statt. Die Religion durchdringt also alle Lebensbereiche. Das wichtigste Merkmal ist wohl die Vorstellung von der Epiphanie einer Göttin, die man in einem ekstatischen Tanz zu erleben versucht. Es ist sicher richtig, dass im Zentrum der Religion die Anbetung von Göttinnen stand, doch ist es voreilig, eine einzige minoische Muttergottheit zu postulieren. Die weiblichen Gottheiten werden immer anders dargestellt, einmal als Schlangengöttin, dann im agrarischen, bald wieder in einem kriegerischen Kontext. Es gibt sicher auch männliche Gottheiten, obwohl man auf den Darstellungen nicht unterscheiden kann, ob es sich um einen Gott, einen König, einen Priester oder einen Verehrenden oder einen Initianden handelt. Ein Vergleich mit allen anderen bronzezeitlichen Religionen lässt Polytheismus jedoch als wahrscheinlich erscheinen. Die Frage nach der Kontinuität von der minoischen zur mykenischen und dann sogar zur späteren griechischen Religion ist nach wie vor heftig umstritten.

Text zum downloaden