07 – Krise und Entstehung der Polis

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in:
Werner Rieß
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CC-BY-NC-SA

Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

07 – Krise und Entstehung der Polis

Um 750 v. Chr. kommt Bewegung in die griechische Welt. Die Griechen erwachen plötzlich auf allen Gebieten: Politik, Tempelbau, Architektur, Vasenmalerei, Bildhauerei, Schrift und damit verbunden individuelle Dichtung und auch Philosophie. Durch die Einführung der Geldwirtschaft und den zunehmenden Handel wird die Gesellschaft auch viel mobiler als vorher. Mit diesen Errungenschaften geht aber auch eine tiefgreifende Krise einher, die die griechische Welt im Laufe der archaischen Zeit grundlegend veränderte. Das starke Bevölkerungswachstum stellte die Griechen vor bis dato ungekannte Probleme.
Zwei Lösungsversuche trugen ihrerseits zu einem beschleunigten Wandel in der Sozialstruktur bei, zum einen die Kolonisation, die ihrerseits wieder die allgemeinen Trends verstärkte und auf die wir im nächsten Podcast eingehen werden, zum anderen die Entstehung der Polis, die wir heute behandeln werden, und die entscheidend diese dynamische Umbruchs- und Achsenzeit prägte. Zu Beginn der archaischen Epoche war Griechenland noch rückständig und lag kulturell weit hinter dem Orient zurück. Am Ende der Archaik war Griechenland auf allen Gebieten führend und distinkt eigenständig gegenüber dem Osten. Die Krise hatte also durch die Produktivkräfte, die sie freisetzte, durchaus auch positive Folgen.
Ausganspunkt ist, wie gesagt, das starke demographische Wachstum und damit einhergehend Landnot, Armut und Elend. Immer mehr Weidefläche wird nun zu Ackerland umgewandelt. Die Großviehzucht geht dramatisch zurück. Die Landwirtschaft intensiviert und spezialisiert sich und wendet sich immer mehr von der Selbstversorgung ab. Dafür müssen nun große Mengen Getreide aus dem Schwarzmeergebiet importiert werden. Der rege Güteraustausch wird durch das Aufkommen der Geldwirtschaft ermöglicht. Damit werden auch Landparzellen veräußerbar. Diese Mobilität des Grundbesitzes hat enorme Auswirkungen auf die Sozialstruktur.
Viele verlassen nun auch die Landwirtschaft und wenden sich Handel und Gewerbe zu und kommen damit zu Reichtum, was das Sozialsystem weiter verändert. Einigen Familien gelingt es nun, Reichtum auf sich zu konzentrieren, v.a. durch Handel; andere verlieren Besitz und sacken in der sozialen Hierarchie ab. Es wurde leichter, sozial auf-, aber auch abzusteigen. Sozialprestige konnte nun also auch mit Geld errungen werden, was oftmals eine mangelnde adelige Abkunft kompensierte. Selbstverständlich betrachtete die alte Adelsschicht diesen Aufstieg der Neureichen mit großer Sorge. Sie suchte sich durch ein neues Kriterium, die vornehme Geburt, die man sich eben nicht kaufen konnte, nach unten, d. h. gegenüber den neureichen Aufsteigern abzuschotten, was jedoch nicht gelang. Wir können durchaus von einem neuen Geldadel sprechen. Die Gesellschaft wurde also horizontal wie vertikal flexibler und mobiler, was auch zu einem Desintegrationsprozess im Adel führte, der als krisenhaft empfunden wurde. Gleichzeitig gab es auch Unmut von unten. Der demographische Druck hielt weiter an, Land war trotz Kolonisation knapp. Die Landparzellen wurden immer kleiner. Bei Missernten reichte es oft nicht mehr zum Lebensnotwendigen.
Mit der Geldwirtschaft kam automatisch auch das Schuldenmachen und das Zinsnehmen auf. Man verschuldete sich also immer mehr bei reichen Geldgebern, d.h. meist beim Adel. In Extremfällen konnte dies zum Verlust des kleinen Grundstücks führen und sogar zur Schuldknechtschaft, d.h. ursprünglich freie Griechen mussten sich als Art Sklaven beim reichen Großgrundbesitzer verdingen, um ihre „Schuld“ abzubezahlen. Dies ist jedoch nur der wirtschaftliche Aspekt. Ein wichtiger jurisdiktioneller Grund kommt hinzu: Die Reichen hatten die Rechtsprechung monopolisiert und fällten Urteile, die für sie opportun und von Interesse waren, d.h. oftmals zu Gunsten der reichen/adeligen Gläubiger und zu Ungunsten der armen Schuldner. Ihre Wut wird man sich vorstellen können. Hesiod spricht von krummen Urteilen. Der Ruf nach einer Entschuldung und sogar einer Neuaufteilung des Bodens wurde immer lauter. Hier setzte Solon an, auf den wir im Kontext der Entwicklung in Athen noch eingehen werden. Um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, kam es ab ca. 750 v. Chr. zu einer Welle von Gesetzeskodifikationen, die den Unterschichten mehr Rechtssicherheit geben sollten. Es muss aber gleichzeitig betont werden, dass die absolute Verarmung nur Wenige traf, mit Sicherheit eine Minderheit, denn sonst hätte man ja keine Hoplitenphalanx aufstellen können.
Keinesfalls kann also von einer Dichotomie zwischen Armen auf der einen und reichen Adeligen auf der anderen Seite gesprochen werden. Die archaische Gesellschaft war bereits komplex und relativ weit ausdifferenziert. Wir haben es mit einer sehr heterogenen Protestbewegung zu tun aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Zielen. Während die wohlhabenderen, nichtadeligen Freien nach mehr politischer Partizipation strebten, gerade weil sie sie Hauptlast im Krieg als Hopliten tragen mussten, ging es den Ärmeren weniger um politische Teilhabe als vielmehr um Entschuldung und eine Neuverteilung des Landes. Um Verfassungsfragen wie um die Gesellschaftsordnung wurde also heftig gestritten. Der Raum dieser Auseinandersetzungen war nun, aufgrund des Bevölkerungswachstums, eine dichter bebaute Siedlung, die sich auch öffentliche Einrichtungen gab, die Polis. Wir können sie definieren als eine städtische Siedlung, oft auf einer befestigten Anhöhe, in der auch der Adel wohnt. Zur ihr gehört auch ein landwirtschaftliches Umfeld, doch die politischen Entscheidungen werden in der Stadt getroffen, in politischen Institutionen, für die entsprechende Bauten geschaffen werden: Ein öffentlicher Platz, die Agora, ein Gebäude für den Rat der Ältesten und Tempel für die gemeinsame Kultausübung, aber auch Straßen und eine Stadtmauer. Die Polis ist die örtliche Konzentration des politischen, wirtschaftlichen, religiösen und geistigen Lebens. Sie ist die oberste staatliche Einheit für ihre Bewohner. Gleichzeitig bezeichnet der Terminus auch die politische Verfasstheit, die in Gesetzen ihren Ausdruck findet. Über der Polis-Ebene gibt es nur ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Polis ist also grundsätzlich politisch autonom und wirtschaftlich autark. Daher ist sie auch als Mikro-Staat so exzellent zu untersuchen, v.a. aufgrund der Schriften des Aristoteles und Platons. Selbstverständlich existieren stammstaatliche und monarchische Herrschaftsformen parallel zur Polis weiter. Dennoch ist sie in ihrer zentralen Bedeutung für den mediterranen Kulturkreis überhaupt nicht zu überschätzen. Ab dem Hellenismus und der Ausbreitung der Polis bis nach Indien durch die Eroberungszüge Alexanders des Großen wird die Polis zum Inbegriff griechischen, urbanen Lebens. Das Konzept wird dann auch von den Römern übernommen. Wer nicht in Poleis lebt, lebt offenbar in Dörfern und Stammesverbänden und ist demnach ein Barbar. Mediterrane, d.h. zivilisierte Menschen leben dagegen in Städten. Die Entstehung der Polis ist im Detail noch immer unklar, doch brachten Ausgrabungen erhebliche Fortschritte.
Der Motor aller Entwicklungen war das starke demographische Wachstum an der Wende vom neunten zum achten Jahrhundert. Drei Phänomene sind für uns archäologisch greifbar. 1. Alte Siedlungen wachsen. 2. Neue Siedlungen werden gegründet. Die Kolonisierung scheint von Beginn an in Form der Polis von statten gegangen zu sein. 3. Manche Siedlungen werden aufgegeben (Lefkandi, Zagora auf Andros, Emporion auf Chios) und mit anderen zusammengelegt (Binnenkolonisation oder Synoikismos). Diese Konzentrationsprozesse fanden im Wesentlichen im siebenten statt.

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Quellen-Hinweise
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