Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Eine homerische Büste
Leitfragen
1) Um wen handelt es sich bei dieser Büste?
2) Was kann uns die Büste (nicht) über Homer sagen?
3) Wer war Homer?
Kommentar:
Die hier abgebildete Büste, die heute in der Münchener Glyptothek ausgestellt ist, zeigt vermutlich das Bildnis des griechischen Dichters Homer. Bei der Büste handelt es sich um die römische Kopie eines griechischen Originals, das etwa um 460 v. Chr. entstanden ist und ursprünglich aus Bronze war. Wegen der aufrechten Kopfhaltung wird heute mehrheitlich davon ausgegangen, dass es sich um ein Standbild und nicht um eine Sitzstatue handelte. Der ursprüngliche Aufstellungsort, der Anlass der Aufstellung oder der Hersteller des wohl überlebensgroßen Originals können jedoch nicht mehr ermittelt werden. Möglich wäre ein großes Heiligtum.
Die Büste ist ein Beispiel für die in der Mitte des 5. Jahrhunderts in Griechenland entstandenen, rundplastischen Darstellungen, die Porträts von bedeutenden Persönlichkeiten mit individuellen Gesichtszüge darstellten. Auch diese Büste zeigt einen individuell gestalteten Kopf: Das längliche Gesicht ist von hohen Wangenknochen gezeichnet und wird von dichtem Haupt- und Barthaar umkränzt. Sowohl das lockige Haar als auch der Bart sind dabei detailgetreu gestaltet. Ein feines Band hält die Haare zusammen. Das ausdrucksvoll gestaltete Gesicht mit dem geschlossenen Mund lässt einen Mann höheren Alters vermuten: Falten an Stirn und Augenwinkeln sowie Einkerbungen neben der Nase zeugen davon. Am eindrucksvollsten sind jedoch die geschlossenen Augen, die das schmale Gesicht prägen und dem Dargestellten insgesamt einen Ausdruck würdevoller Ruhe verleihen.
Aufgrund der geschlossenen Augenlieder, die auf eine Blindheit der dargestellten Person verweisen können, wurde diese Büste schon im 19. Jahrhundert mit dem griechischen Dichter Homer in Verbindung gebracht. Denn dieser, so überliefern es einige antike Quellen (etwa Thukydides) soll blind gewesen sein. Die Büste zeigt, welche Bedeutung Homer noch rund 250 Jahre nach seinem Tod, zum Zeitpunkt der Herstellung der Büste hatte. Offenbar wollten die Griechen in einer Zeit, in der Bildnisse bedeutender griechischer Männer entstanden sind, auch den Vater der griechischen Dichtkunst abbilden. Die Verehrung, die Homer entgegengebracht wurde, zeigt sich dabei nicht nur an dem oben erwähnten würdevollen Ausdruck des Gesichtes, sondern auch an einem Detail der Darstellung: Die Binde, die der Dargestellte im Haar trägt, ist vermutlich eine Tänie, eine (Kopf-) Binde, die bei den Griechen als kultischer Fest- oder Ehrenschmuck getragen wurde und mit der auch die griechischen Götter vielfach abgebildet worden sind. Dabei muss es sich bei dieser Darstellung Homers jedoch um ein Idealbild handeln, denn der Dichter lebte lange vor der Zeit, in der dieses Porträt mit seinen individuellen Zügen geschaffen wurde. Außer der Blindheit sind auch keine besonderen Merkmale des Aussehen Homers überliefert. Die Büste zeugt daher von einer bestimmten Vorstellung, die man sich im 5. Jh. v. Chr. von Homer machte.
Die Büste zeigt, dass man sich in der Antike, anders als heute, sicher war, dass Homer existiert hat. Der Name Ὅμηρος (Homeros) wird erstmals im 7. Jh. v. Chr. bei Kallinos, im 6. Jh. v. Chr. dann bei Xenophanes und Heraklit erwähnt. Herodot (5. Jh. v. Chr.) ist der erste, der in Homer den Verfasser der Epen Ilias und Odyssee sieht. Das Interesse an den homerischen Epen war dabei groß, und sie wurden im Laufe der Zeit zum kulturellen Fixpunkt für das frühe Griechenland. In der Antike stritten sich über 20 Städte darum, die Geburtsstätte Homers zu sein (darunter Smyrna, Chios, Kolophon, Pylos, Argos und Athen). Obwohl keine autobiographischen Informationen in die Epen eingeflochten wurden, sind insgesamt sieben Homer-Biographien aus der Antike überliefert. Dabei bestand die antike Tradition, wie heute angenommen wird, jedoch fast vollständig aus Spekulationen und Konstruktionen über Homer, und der Dichter erhielt allein durch Legenden über seine Person ein Gesicht. Heute ist es deswegen fast unmöglich, über die historische Gestalt Homers Gewissheit zu erlangen. Weil Homer als historische Figur nur schwer bzw. gar nicht fassbar ist, wird deswegen neben der Frage nach der Historizität des Dichters etwa auch danach gefragt, wo der wirkliche Ursprung der Epen zu suchen ist. Bis heute gibt es unterschiedliche Forschungstraditionen in Bezug auf diese sogenannte „Homerische Frage“, wobei nach wie vor darüber diskutiert wird, ob Ilias und Odyssee von einer oder von mehreren Personen verfasst wurden, ob die beiden Epen in einem Zuge entstanden sind oder ob sie sich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt haben. Eindeutige Antworten darauf können jedoch nicht gegeben werden.