Alkaios – aristokratischer Machtkampf

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Alkaios
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Fr. 70 West – Original:

κῆνος δὲ παώθεις Ἀτρεΐδα
δαπτέτω πόλιν ὠς καὶ πεδὰ Μυρσί̣[λ]ω̣
θᾶς κ’ ἄμμε βόλλητ’ Ἄρευς ἐπιτ.ύχε
τρόπην· ἐκ δὲ χόλω τῶδε λαθοίμεθ
χαλάσσομεν δὲ τὰς θυμοβόρω λύας
ἐμφύλω τε μάχας, τάν τις Ὀλυμπίων
ἔνωρσε, δᾶμον μὲν εἰς ἀυάταν ἄγων
Φιττάκωι δὲ δίδοις κῦδος ἐπήρ[ατ]ο̣ν̣.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Fr. 70 West

Leitfragen:

1) Worum geht es in diesem Fragment des archaischen Dichters Alkaios?

2) Welche Absichten verfolgte Alkaios mit seinen Äußerungen?

3) Was sagen uns diese Verse über die Tyrannis in Mytilene?

Kommentar:

In diesem Fragment richtet der Dichter Alkaios (geboren etwa Mitte des 7. Jh. v. Chr.) seine Worte gegen seinen einstigen Freund und Gefährten Pittakos und unterstellt diesem, dass er, erhöht durch die Ehe mit einer aristokratischen Frau aus dem Geschlecht der Atriden, die Stadt ausnehme, so wie er es vorher schon im Bunde mit dem ehemaligen Tyrannen Myrsilos gemacht habe. Sodann ruft Alkaios seine Gefährten, zu denen er in der Hetairie (exklusiver „Club“) spricht, zu den Waffen, um Pittakos an einer weiteren Ausbeutung der Stadt zu hindern. Er prophezeit seinen Zuhörern, dass die Entmachtung des Pittakos ein Ende des zermürbenden Streites sowie des Bruderkampfes bedeute und stellt den Hetairoi damit eine friedliche Polis-Zukunft in Aussicht. Zum Schluss resümiert er noch einmal verbittert, dass das Volk Pittakos die lang ersehnte Macht gegeben habe.

Alkaiosʼ Absicht ist es, mit diesen Versen seinen Feind Pittakos bei seinen Freunden in der Hetairie zu diffamieren. Das Gedicht gehört damit in den Kontext der internen Machtkämpfe um die Vormachtstellung in Alkaiosʼ Heimatstadt Mytilene auf Lesbos. Alkaios lebte zu einer Zeit des politischen und sozialen Wandels. In Mytilene kämpften im 7. Jh. v. Chr. verschiedene aristokratische Gruppierungen, von denen eine Alkaiosʼ eigene Hetairie war, um die Vormachtstellung in der Stadt. Nach dem Sturz des regierenden Königsgeschlecht der Penthiliden kam es in Mytilene in den darauffolgenden Jahrzenten zu stetigen internen Machtkämpfen, wobei sich immer wieder einzelne aristokratische Männer für kurze Zeit als Tyrannen etablieren konnten. Dies gelang auch besagtem Pittakos, der zu Beginn des 6. Jh. v. Chr. von den Mytilenern zum Aisymneten (Schlichter), gewählt wurde. Pittakos war einst Gefährt des Alkaios und gehörte der gleichen Hetairie wie Alkaios an, wendete sich aber im Laufe der Zeit gegen seine alten Freunde. Aus diesem Grund ist Pittakos die beliebteste Zielscheibe der politischen Angriffe des Alkaios, was sich auch an Fr. 70 zeigt. In leidenschaftlichem Ton prangert Alkaios das Verhalten des einstigen Freundes an. Indem Alkaios Pittakos mit seinen Beleidigungen zu diffamieren sucht, verurteilt er die Gesellschaft des politischen Gegners und zeichnet gleichsam das Gegenbild zu seiner eigenen, vermeintlich kultivierten Hetairie. So etwa durch die Äußerung, dass Pittakos allein aufgrund seiner Heirat in einen aristokratischen Stand aufgestiegen sei, was vermutlich im Gegensatz zu Alkaiosʼ eigener Abkunft stehen soll. An dem alkäischen Fr. 70 zeigt sich deutlich die von Alkaios und seiner Gruppe eingenommene Haltung: Es ist die eines orthodoxen Adels, der die überkommenden Machtstrukturen, also die gemeinschaftlich ausgeübte Adelsherrschaft, wiederherstellen möchte.

Alkaiosʼ Dichtung gibt uns einen Einblick in die sich befehdenden Aristokratengruppen im 7. Jh. v. Chr. Die Tyrannen, die sich an der Spitze der Stadt etablieren konnten, gehörten jeweils zu aristokratischen Familien. Alkaiosʼ Dichtung spiegelt eine Situation wider, in welcher es einem offenbar charismatischen Mann gelang, sich gegen seine Standesgenossen abzugrenzen und die Herrschaft an sich zu bringen. Begünstigt wurde dies wohl durch die ständigen internen Machtkämpfen in Mytilene – einem Nährboden, der die Möglichkeit bot, sich als Freund des Volkes zu stilisieren und so seine Machtinteressen gegenüber konkurrierenden Adligen durchzusetzen. Genau diese Situation lässt sich aus Alkaios Gedicht herauslesen. Alkaios gehört offenbar der unterlegenen Gruppe der Aristokraten an, die der Herrschaft des Pittakos tatenlos zuschauen musste. Pittakos wurde hingegen, wie Alkaios sagt, vom Volk an die Spitze gewählt. Offenbar konnte er sich auf eine öffentliche Basis stützen, die über seine adlige Hausmacht hinausging. Dabei ist eine solche Unterstützung allerdings nicht ohne entsprechende politische Zugeständnisse von Seiten des Usurpators, also des Pittakos, denkbar.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Neue Kriegstechnik und Tyrannis“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
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