Fresko eines Barden


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Fresko eines Barden

Leitfragen

1) Was stellt das Fresko dar?

2) Welche Funktion hatte der Barde am pylischen Hof?

3) Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Fresko und der Überlieferungsgeschichte der homerischen Epen?

Kommentar:

Dieses Fresko stammt aus dem mykenischen Palast in Pylos, der auf Grundlage des legendären Königs Nestor des „sandigen Pylos“ bei Homer unter dem Namen „Palast des Nestor“ bekannt geworden ist. Der Palast hatte nur kurz Bestand: Er wurde wohl um 1300 v. Chr. erbaut, brannte jedoch um 1200 v. Chr. nieder. Das hier abgebildete Fresko entstammt der östlichen Ecke des Thronsaales (Megarons) des Palastes. Es zeigt eine männliche Figur ohne Kopfbedeckung vor rotem Hintergrund, deren gelocktes Haar auf seine Schultern fällt. Der Mann trägt ein weißes, bodenlanges Gewand und spielt auf einer fünfsaitigen Lyra, einer antiken Leier. Der Lyra-Spieler sitzt auf einem mit blauen und roten Mustern verzierten Felsen.

In den Thronräumen mykenischer Paläste wurden vermutlich religiöse Rituale oder auch festliche Bankette veranstaltet. Dass das Fresko an die Wand des Megaron des Palastes gemalt wurde, führt zu der Vermutung, dass hier ein Barde abgebildet ist, der bei einem zeremoniellen Bankett für die anwesende Festgesellschaft sang, wie es bei solchen Festbanketten im Megaron vielleicht üblich war. Schon Jahrhunderte vor der Entwicklung des griechischen Alphabets, das wohl zu Beginn des 8. Jh. v. Chr. entstand, besaßen die mykenischen Griechen eine Wortkunst. Diese wurde im Medium der Mündlichkeit realisiert. Das Fresko des Barden zeugt von dieser Mündlichkeit. Vielleicht handelte es sich bei dem abgebildeten Barden um einen Vorgänger der sogenannten Aoiden, Dichtern aus vorhomerischer und auch homerischer Zeit, welche mythische Stoffe von Göttern oder Helden vortrugen. Heldenepik wurde von Aoiden aus einem großen Repertoire traditioneller Geschichten und Sagen memoriert und rezitiert. Im Mittelpunkt standen aristokratische Ideale und Lebensweisen. Es ist deswegen denkbar, dass die Sänger ihre Gedichte vorrangig an Königshöfen, wie etwa im Palast von Pylos, vortrugen. Es sind aber auch religiöse Feste oder Dichteragone als Anlass für die Sagenkunst denkbar.

In den Epen Ilias und Odyssee stehen aristokratische Ideale und Lebensweisen im Mittelpunkt. Es ist insofern ist nach Ansicht der älteren Forschung, etwa Latacz, denkbar, dass die beiden homerischen Epen auf die oben beschriebene Art mündlich improvisierter Heldendichtung zurückgehen. Die Bewahrung sprachhistorisch älterer Merkmale sowie bestimmte Erzählschemata, die sehr alt sind und bis auf die mykenische Zeit zurückgehen, zeugen von einer Tradition der mündlichen Überlieferung. Insbesondere die formelhafte Sprache der Epen, die sprachliche Einheit und Zusammenhalt schaffen, seien Indizien dafür, dass man in der Lage gewesen sei, die Texte über Jahrhunderte hinweg mündlich zu tradieren. Vielleicht nahmen die homerischen Texte also ihren Ursprung tatsächlich in der mykenischen Heldenepik, die von Aoiden in mykenischen Palästen vorgesungen wurde, und sind dann im Laufe der Jahrhunderte durch eine Anpassung an die je aktuelle Zeit verändert worden. Probleme wirft dieser These jedoch auf, wenn man berücksichtigt, dass es sich bei den homerischen Epen um die einzigen tradierten Texte von so großem Umfang und so großer Qualität handelt. Zudem hat sich gezeigt, dass mündliche tradierte Erinnerungen meist nicht weiter als drei Generationen zurückreichen. Insofern ist nach Ansicht der neueren Forschung viel eher denkbar, dass die Ilias und die Odyssee das Werk eines Dichters sind, der zwar auf eine kulturspezifische Sagentradition zurückgreift, jedoch nur der unmittelbar vorausgehenden drei bis vier Generationen.

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Eine homerische Büste


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Eine homerische Büste

Leitfragen

1) Um wen handelt es sich bei dieser Büste?

2) Was kann uns die Büste (nicht) über Homer sagen?

3) Wer war Homer?

Kommentar:

Die hier abgebildete Büste, die heute in der Münchener Glyptothek ausgestellt ist, zeigt vermutlich das Bildnis des griechischen Dichters Homer. Bei der Büste handelt es sich um die römische Kopie eines griechischen Originals, das etwa um 460 v. Chr. entstanden ist und ursprünglich aus Bronze war. Wegen der aufrechten Kopfhaltung wird heute mehrheitlich davon ausgegangen, dass es sich um ein Standbild und nicht um eine Sitzstatue handelte. Der ursprüngliche Aufstellungsort, der Anlass der Aufstellung oder der Hersteller des wohl überlebensgroßen Originals können jedoch nicht mehr ermittelt werden. Möglich wäre ein großes Heiligtum.

Die Büste ist ein Beispiel für die in der Mitte des 5. Jahrhunderts in Griechenland entstandenen, rundplastischen Darstellungen, die Porträts von bedeutenden Persönlichkeiten mit individuellen Gesichtszüge darstellten. Auch diese Büste zeigt einen individuell gestalteten Kopf: Das längliche Gesicht ist von hohen Wangenknochen gezeichnet und wird von dichtem Haupt- und Barthaar umkränzt. Sowohl das lockige Haar als auch der Bart sind dabei detailgetreu gestaltet. Ein feines Band hält die Haare zusammen. Das ausdrucksvoll gestaltete Gesicht mit dem geschlossenen Mund lässt einen Mann höheren Alters vermuten: Falten an Stirn und Augenwinkeln sowie Einkerbungen neben der Nase zeugen davon. Am eindrucksvollsten sind jedoch die geschlossenen Augen, die das schmale Gesicht prägen und dem Dargestellten insgesamt einen Ausdruck würdevoller Ruhe verleihen.

Aufgrund der geschlossenen Augenlieder, die auf eine Blindheit der dargestellten Person verweisen können, wurde diese Büste schon im 19. Jahrhundert mit dem griechischen Dichter Homer in Verbindung gebracht. Denn dieser, so überliefern es einige antike Quellen (etwa Thukydides) soll blind gewesen sein. Die Büste zeigt, welche Bedeutung Homer noch rund 250 Jahre nach seinem Tod, zum Zeitpunkt der Herstellung der Büste hatte. Offenbar wollten die Griechen in einer Zeit, in der Bildnisse bedeutender griechischer Männer entstanden sind, auch den Vater der griechischen Dichtkunst abbilden. Die Verehrung, die Homer entgegengebracht wurde, zeigt sich dabei nicht nur an dem oben erwähnten würdevollen Ausdruck des Gesichtes, sondern auch an einem Detail der Darstellung: Die Binde, die der Dargestellte im Haar trägt, ist vermutlich eine Tänie, eine (Kopf-) Binde, die bei den Griechen als kultischer Fest- oder Ehrenschmuck getragen wurde und mit der auch die griechischen Götter vielfach abgebildet worden sind. Dabei muss es sich bei dieser Darstellung Homers jedoch um ein Idealbild handeln, denn der Dichter lebte lange vor der Zeit, in der dieses Porträt mit seinen individuellen Zügen geschaffen wurde. Außer der Blindheit sind auch keine besonderen Merkmale des Aussehen Homers überliefert. Die Büste zeugt daher von einer bestimmten Vorstellung, die man sich im 5. Jh. v. Chr. von Homer machte.

Die Büste zeigt, dass man sich in der Antike, anders als heute, sicher war, dass Homer existiert hat. Der Name Ὅμηρος (Homeros) wird erstmals im 7. Jh. v. Chr. bei Kallinos, im 6. Jh. v. Chr. dann bei Xenophanes und Heraklit erwähnt. Herodot (5. Jh. v. Chr.) ist der erste, der in Homer den Verfasser der Epen Ilias und Odyssee sieht. Das Interesse an den homerischen Epen war dabei groß, und sie wurden im Laufe der Zeit zum kulturellen Fixpunkt für das frühe Griechenland. In der Antike stritten sich über 20 Städte darum, die Geburtsstätte Homers zu sein (darunter Smyrna, Chios, Kolophon, Pylos, Argos und Athen). Obwohl keine autobiographischen Informationen in die Epen eingeflochten wurden, sind insgesamt sieben Homer-Biographien aus der Antike überliefert. Dabei bestand die antike Tradition, wie heute angenommen wird, jedoch fast vollständig aus Spekulationen und Konstruktionen über Homer, und der Dichter erhielt allein durch Legenden über seine Person ein Gesicht. Heute ist es deswegen fast unmöglich, über die historische Gestalt Homers Gewissheit zu erlangen. Weil Homer als historische Figur nur schwer bzw. gar nicht fassbar ist, wird deswegen neben der Frage nach der Historizität des Dichters etwa auch danach gefragt, wo der wirkliche Ursprung der Epen zu suchen ist. Bis heute gibt es unterschiedliche Forschungstraditionen in Bezug auf diese sogenannte „Homerische Frage“, wobei nach wie vor darüber diskutiert wird, ob Ilias und Odyssee von einer oder von mehreren Personen verfasst wurden, ob die beiden Epen in einem Zuge entstanden sind oder ob sie sich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickelt haben. Eindeutige Antworten darauf können jedoch nicht gegeben werden.

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Homer bei Kallinos

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Autor_in: Kallinos; Homer
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Fr. 1 West – Original

μέχρις τεῦ κατάκεισθε; κότ᾽ ἄλκιμον ἕξετε θυμόν,
ὦ νέοι; οὐδ᾽ αἰδεῖσθ᾽ ἀμφιπερικτίονας
ὧδε λίην μεθιέντες; ἐν εἰρήνῃ δὲ δοκεῖτε
ἧσθαι, ἀτὰρ πόλεμος γαῖαν ἅπασαν ἔχει;
… καί τις ἀποθνῄσκων ὕστατ᾽ ἀκοντισάτω.
τιμῆέν τε γάρ ἐστι καὶ ἀγλαὸν ἀνδρὶ μάχεσθαι
γῆς πέρι καὶ παίδων κουριδίης τ᾽ ἀλόχου
δυσμενέσιν: θάνατος δὲ τότ᾽ ἔσσεται, ὁππότε κεν δὴ
Μοῖραι ἐπικλώσωσ᾽: ἀλλά τις ἰθὺς ἴτω
ἔγχος ἀνασχόμενος καὶ ὑπ᾽ ἀσπίδος ἄλκιμον ἦτορ
ἔλσας τὸ πρῶτον μειγνυμένου πολέμου:
οὐ γάρ κως θάνατόν γε φυγεῖν εἱμαρμένον ἐστὶν
ἄνδρ᾽, οὐδ᾽ εἰ προγόνων ᾖ γένος ἀθανάτων.
πολλάκι δηϊοτῆτα φυγὼν καὶ δοῦπον ἀκόντων
ἔρχεται, ἐν δ᾽ οἴκῳ μοῖρα κίχεν θανάτου:
ἀλλ᾽ ὁ μὲν οὐκ ἔμπης δήμῳ φίλος οὐδὲ ποθεινός,
τὸν δ᾽ ὀλίγος στενάχει καὶ μέγας, ἤν τι πάθῃ:
λαῷ γὰρ σύμπαντι πόθος κρατερόφρονος ἀνδρὸς
θνῄσκοντος, ζώων δ᾽ ἄξιος ἡμιθέων:
ὥσπερ γὰρ πύργον μιν ἐν ὀφθαλμοῖσιν ὁρῶσιν:
ἕρδει γὰρ πολλῶν ἄξια μοῦνος ἐών

Hom. Il., 15. Gesang, V. 494-499

ἀλλὰ μάχεσθ᾽ ἐπὶ νηυσὶν ἀολλέες: ὃς δέ κεν ὑμέων
βλήμενος ἠὲ τυπεὶς θάνατον καὶ πότμον ἐπίσπῃ
τεθνάτω: οὔ οἱ ἀεικὲς ἀμυνομένῳ περὶ πάτρης
τεθνάμεν: ἀλλ᾽ ἄλοχός τε σόη καὶ παῖδες ὀπίσσω,
καὶ οἶκος καὶ κλῆρος ἀκήρατος, εἴ κεν Ἀχαιοὶ

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Übersetzung: J.M. Edmonds; A.T. Murray
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Übersetzung

How long will ye lie idle? When, young men, will ye show a stout heart? Have ye no shame of your sloth before them that dwell round about you? Purpose ye to sit in peace though the land is full of war?
… and let every man cast his javelin once more as he dies. For ‚tis an honourable thing and a glorious to a man to fight the foe for land and children and wedded wife; and death shall befall only when the Fates ordain it. Nay, so soon as war is mingled let each go forward spear in poise and shield before stout heart; for by no means may a man escape death, nay not if he come of immortal lineage. Oftentime, it may be, he returneth safe from the conflict of battle and the thud of spears, and the doom of death cometh upon him at home; yet such is not dear to the people nor regretted, whereas if aught happen to the other sort he is bewailed of small and great. When a brave man dieth the whole people regretteth him, and while he lives he is as good as a demigod; for in their eyes he is a tower, seeing that he doeth single-handed as good work as many together.

Hom. Il., 15. Gesang, V. 494-499

Nay, fight ye at the ships in close throngs, and if so be any of you, smitten by dart or thrust, shall meet death and fate, let him lie in death. No unseemly thing is it for him to die while fighting for his country. Nay, but his wife is safe and his children after him, and his house and his portion of land are unharmed, if but the Achaeans be gone with their ships to their dear native land.

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Autor_in: Agnes von der Decken
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Leitfragen:

1) Wer war Kallinos und wovon handelt der Quellentext?

2) Welche homerischen Motive lassen sich bei Kallinos finden?

3) Welche Schlussfolgerungen lässt die Verwendung homerischer Motive bei Kallinos zu?

Kommentar:

Der archaische Dichter Kallinos gilt als der erste Dichter von Elegien, einer Gedichtform in elegischem Versmaß. Seine Lebenszeit wird von den antiken Quellen in die Mitte des 7. Jh. v. Chr. datiert. Aus den Quellen geht zudem hervor, dass seine Herkunft die Stadt Ephesos an der kleinasiatischen Küste der Ägäis war. Kallinos bewegte sich wohl im Kreise der Oberschicht, wo er bei sogenannten Symposien, Gastmählern unter Standesgenossen, seine Gedichte vortrug. Von seiner Dichtung ist wenig erhalten. Neben drei kürzeren Fragmenten von ein bis drei Versen, existiert aber ein längeres Fragment von 21 Versen, das hier kommentiert werden soll. In diesem Fragment ruft Kallinos seine Zuhörer dazu auf, in den Krieg gegen die Kimmerier, einem kriegerischen Reitervolk aus Südrussland, zu ziehen. Ein Angriff der Kimmerier stand vermutlich kurz bevor.

Das kallinische Fr. 1 kann als klassische Paränese, d.h. als Mahnrede, bezeichnet werden. Hier bezieht sich die Paränese auf das Kämpfen. Kampfparänesen hatten zum Ziel, die mangelnde Kampfbereitschaft der Zuhörer aufzuheben oder bestehende Kampfbereitschaft zu verstärken. Dies beabsichtigt Kallinos mit seinem Gedicht, denn seine Zuhörer scheinen noch nicht davon überzeugt zu sein, tatsächlich in den Krieg gegen die Kimmerier zu ziehen. So mahnt er seine jungen Zuhörer davor, nicht träge dazusitzen, als wäre Frieden, sondern fordert sie dazu auf, in den Kampf zu ziehen und bereit zu sein, für die Vaterstadt zu sterben. Dieses Opfer zu bringen und damit Frau und Kinder zu schützen, so prophezeit Kallinos, bringe Ruhm und Ehre. Interessant ist, dass Kallinos‘ Rhetorik dabei stark an Homer erinnert. Bei einem Vergleich mit dem Auszug aus der sogenannten Feldherrenrede des Hektor im 15. Gesang der Ilias wird dies besonders deutlich (vgl. obigen Quellenausschnitt): Auch Hektor prophezeit seinen trojanischen Kämpfern Ehre, wenn sie Heimat, Gattin und Kinder bis zum Tode verteidigen. Es wird erkennbar, dass Kallinos homerische Motive aufgreift und sie in charakteristischer Weise abwandelt. Für das eigene Land einzutreten und damit gleichzeitig die Familie vor dem Feind zu schützen, ist homerisch. Kallinos geht hier sogar noch über Homer hinaus, wenn er das Verteidigen der Heimat durch das Kämpfen für die Heimat ersetzt. Gleiches gilt für das Sterben im Kampf: Sowohl Kallinos als auch Hektor verdeutlichen ihren Zuhörern, dass das Sterben für die Heimat ehrenhaft sei. Kallinos nennt es sogar eine „herrliche Tat“ (V. 6). Insgesamt sind die Verse des Kallinos in ihrem Inhalt und Ablauf härter und kantiger als die homerischen. Dennoch ist die Übernahme homerischer Motive hier eindeutig erkennbar.

Wie deutlich geworden ist, greift Kallinos die homerischen Motive in seinem Gedicht auf und bettet sie an geeigneten Stellen in sein Gedicht ein. Er gebraucht also die homerische Sprache, um auf Ereignisse, die gegenwärtig in seiner Heimatstadt passierten, einzugehen. Mit der Anspielung an die Tugenden der homerischen Helden, wie der Schutz der Familie und das Sterben für die Heimat, möchte Kallinos seine Zuhörer dazu bewegen, in den Krieg zu ziehen. Er benutzt also homerisches Vokabular, um sein Ziel zu erreichen. Dazu passte er die homerischen Motive ganz konkret an den Erwartungshorizont seines Publikums, Symposiasten des 7. Jh. v. Chr., an. Auch die Epheser blicken der drohenden Gefahr des Feindes entgegen und müssen sich nun wappnen. Die Ankunft der Kimmerier steht kurz bevor, und die Heimatstadt Ephesos ist in Gefahr. Die Situation, die Homer in der Ilias zeichnet, ähnelt der derzeitigen Lage in Ephesos. Kallinos verwendet hier homerische Motive, weil seine Zuhörer das Gesagte nun mit ihrer Welt in Verbindung bringen und auf die aktuelle Situation, also den bevorstehenden Angriff der Kimmerer, beziehen können. Dies lässt wiederum grundsätzlich darauf schließen, dass sowohl Kallinos selbst als auch seinem Publikum die homerischen Epen vertraut waren und die homerischen Helden als Vorbilder galten. Nur so konnte Kallinos sicher sein, eine gewisse Wirkung mit seiner Wortwahl erzielen zu können. Vielleicht zirkulierten sogar schon erste Skripte der homerischen Epen. Auch wenn der Bekanntheitsgrad der homerischen Texte nicht abschließend eruiert werden kann, zeigt Kallinos‘ Verwendung der homerischen Motive doch, dass die Epen im Ephesos des 7. Jahrhunderts v. Chr. bekannt gewesen sind.

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Die Phalanx in der Ilias

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Hom. Il. 16, 211 – 217 – Original

μᾶλλον δὲ στίχες ἄρθεν, ἐπεὶ βασιλῆος ἄκουσαν.
ὡς δ᾽ ὅτε τοῖχον ἀνὴρ ἀράρῃ πυκινοῖσι λίθοισι
δώματος ὑψηλοῖο βίας ἀνέμων ἀλεείνων,
ὣς ἄραρον κόρυθές τε καὶ ἀσπίδες ὀμφαλόεσσαι.
ἀσπὶς ἄρ᾽ ἀσπίδ᾽ ἔρειδε, κόρυς κόρυν, ἀνέρα δ᾽ ἀνήρ:
ψαῦον δ᾽ ἱππόκομοι κόρυθες λαμπροῖσι φάλοισι
νευόντων, ὡς πυκνοὶ ἐφέστασαν ἀλλήλοισι.

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Übersetzung

And yet closer were their ranks serried when they heard their king. And as when a man buildeth the wall of a high house with close-set stones, to avoid the might of the winds, even so close were arrayed their helms and bossed shields; [215] buckler pressed on buckler, helm upon helm, and man on man. The horse-hair crests on the bright helmet-ridges touched each other, as the men moved their heads, in such close array stood they one by another.

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Leitfragen:

1) Wovon handelt diese Quellenstelle?

2) Was ist das Besondere an dieser Quellenstelle in der Ilias?

3) Was kann uns die Quellenstelle über die Entstehungszeit der Ilias sagen?

Kommentar:

In der Ilias wird eine Lebenswelt gezeichnet, die von Kampf, Krieg und agonaler Auseinandersetzung durchdrungen ist. Die Kriegsführung in der Ilias hat deswegen seit jeher zu großem Interesse und kontroversen Diskussionen in der Forschung geführt. Die vorliegende Quellenstelle (Il. 16, 211-217) beschreibt eine Situation unmittelbar vor dem Kampfgeschehen: Die Griechen wollen in den Kampf gegen die Troer ziehen und formieren sich in eng geschlossenen Reihen. Dabei wird sehr genau beschrieben, wie die Griechen sich formieren. Sie stehen dicht nebeneinander in eng geschlossenen Reihen. Die so gebildete Mauer wird durch die Erwähnung, dass selbst starke Winde ihr nichts anhaben können, als besonders standfest dargestellt. Weiter wird beschrieben, dass die einzelnen Kämpfer Schilde vor sich tragen und ihre Helme sich sogar berühren.

Es ist denkbar, dass die hier in der Ilias beschriebene Aufstellung der Kämpfenden die Kampftechnik zur Zeit des Dichters beschreibt. Dabei erinnert die beschriebene Schlachtenreihe an eine Vorläuferin der Phalanx. Die Phalanx ist eine Kampfformationen des griechischen Heeres, bei der sogenannte Hopliten (schwerbewaffnete Fußsoldaten) in engen Reihen aufgestellt wurden, damit sie sich gegenseitig Schutz gewähren konnten. In der Regel bestand eine Phalanx aus acht Reihen und wurde aus Bürgern des Gemeinwesens rekrutiert, die sich die Ausrüstung leisten konnten. Die Phalanx als Kampfformation entstand im 7. Jh. v. Chr. und ist in den Kontext der sich herausbildenden Polis (Stadtstaat) einzuordnen.

Die beschriebene Kampfformation der Quellenstelle kann ein Spiegelbild der zeitgenössischen Militärtechnik griechischer Städte um 700 v. Chr. sein, denn sie entspricht der gängigen Kampftechnik zur Zeit des Dichters. Die Erwähnung einer solch modernen Kampfformation steht damit im Gegensatz zu der Auffassung, die homerischen Epen würden im Kern eine mykenische Welt darstellen. Diese Auffassung wird mit dem Verweis auf die in den Epen erwähnten Realien, also Gegenständen oder Details, welche die mykenische Lebenswelt repräsentieren, wie etwa der Eberzahnhelm (Il.10, 260-271), der Einsatz von Streitwagen (etwa Il. 4,297 – 309), der Taubenpokal des Nestor (Il.11,632 – 637) oder die Verwendung von Bronzewaffen, begründet. Die oben dargestellte Kampfformation der Phalanx zeigt aber, dass möglicherweise zwei unterschiedliche Zeitstufen in der Ilias existieren: Die auktoriale Gegenwart des ausgehenden 8. Jahrhunderts sowie die konstruierte mykenische Vorzeit. Diese heroische Vorzeit wurde in der Tat durch die Beschreibung eben erwähnter Realien evoziert. Jedoch diente dies wohl, wie die Forschung mittlerweile fast einstimmig erkennt, der Schaffung einer epischen Distanz, um die Erzählung über die Helden der heroischen Vorzeit überzeugend darzustellen. Diesbezüglich muss in Bezug auf das Kämpfen der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen werden, dass es in der Ilias auch Schilderungen von Einzelkämpfen gibt, in denen die Krieger durch ihre Tapferkeit Ruhm und Ehre erlangen konnten und somit ihren gesellschaftlichen Status definierten. Weil jedoch nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Dichter der Ilias besondere historische Kenntnisse besaß, kann die Darstellung solcher Einzelkämpfe als dichterische Konzeption verstanden werden. Dabei werden die Heroen der Vorzeit, die untrennbar mit Kampf und Krieg verbunden sind, durch ihre kriegerischen Leistungen überhöht. Damit sollte vielleicht der Wettkampfethik der agonalen Gesellschaft des 8. Jh. v. Chr. Genüge getan werden. Die Phalanxformation der obigen Quellenstelle verweist hingegen grundsätzlich darauf, dass die Ilias als historische Quelle für die Zeit um 700 v. Chr. angesehen werden kann.

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Der Schiffskatalog der Ilias

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Hom. Il. 2, 493-545 – Original

ἀρχοὺς αὖ νηῶν ἐρέω νῆάς τε προπάσας.
Βοιωτῶν μὲν Πηνέλεως καὶ Λήϊτος ἦρχον
Ἀρκεσίλαός τε Προθοήνωρ τε Κλονίος τε,
οἵ θ᾽ Ὑρίην ἐνέμοντο καὶ Αὐλίδα πετρήεσσαν
Σχοῖνόν τε Σκῶλόν τε πολύκνημόν τ᾽ Ἐτεωνόν,
Θέσπειαν Γραῖάν τε καὶ εὐρύχορον Μυκαλησσόν,
οἵ τ᾽ ἀμφ᾽ Ἅρμ᾽ ἐνέμοντο καὶ Εἰλέσιον καὶ Ἐρυθράς,
οἵ τ᾽ Ἐλεῶν᾽ εἶχον ἠδ᾽ Ὕλην καὶ Πετεῶνα,
Ὠκαλέην Μεδεῶνά τ᾽ ἐϋκτίμενον πτολίεθρον,
Κώπας Εὔτρησίν τε πολυτρήρωνά τε Θίσβην,
οἵ τε Κορώνειαν καὶ ποιήενθ᾽ Ἁλίαρτον,
οἵ τε Πλάταιαν ἔχον ἠδ᾽ οἳ Γλισᾶντ᾽ ἐνέμοντο,
οἵ θ᾽ Ὑποθήβας εἶχον ἐϋκτίμενον πτολίεθρον,
Ὀγχηστόν θ᾽ ἱερὸν Ποσιδήϊον ἀγλαὸν ἄλσος,
οἵ τε πολυστάφυλον Ἄρνην ἔχον, οἵ τε Μίδειαν
Νῖσάν τε ζαθέην Ἀνθηδόνα τ᾽ ἐσχατόωσαν:
τῶν μὲν πεντήκοντα νέες κίον, ἐν δὲ ἑκάστῃ
κοῦροι Βοιωτῶν ἑκατὸν καὶ εἴκοσι βαῖνον.
οἳ δ᾽ Ἀσπληδόνα ναῖον ἰδ᾽ Ὀρχομενὸν Μινύειον,
τῶν ἦρχ᾽ Ἀσκάλαφος καὶ Ἰάλμενος υἷες Ἄρηος
οὓς τέκεν Ἀστυόχη δόμῳ Ἄκτορος Ἀζεΐδαο,
παρθένος αἰδοίη ὑπερώϊον εἰσαναβᾶσα
Ἄρηϊ κρατερῷ: ὃ δέ οἱ παρελέξατο λάθρῃ:
τοῖς δὲ τριήκοντα γλαφυραὶ νέες ἐστιχόωντο.
αὐτὰρ Φωκήων Σχεδίος καὶ Ἐπίστροφος ἦρχον
υἷες Ἰφίτου μεγαθύμου Ναυβολίδαο,
οἳ Κυπάρισσον ἔχον Πυθῶνά τε πετρήεσσαν
Κρῖσάν τε ζαθέην καὶ Δαυλίδα καὶ Πανοπῆα,
οἵ τ᾽ Ἀνεμώρειαν καὶ Ὑάμπολιν ἀμφενέμοντο,
οἵ τ᾽ ἄρα πὰρ ποταμὸν Κηφισὸν δῖον ἔναιον,
οἵ τε Λίλαιαν ἔχον πηγῇς ἔπι Κηφισοῖο:
τοῖς δ᾽ ἅμα τεσσαράκοντα μέλαιναι νῆες ἕποντο.
οἳ μὲν Φωκήων στίχας ἵστασαν ἀμφιέποντες,
Βοιωτῶν δ᾽ ἔμπλην ἐπ᾽ ἀριστερὰ θωρήσσοντο.
Λοκρῶν δ᾽ ἡγεμόνευεν Ὀϊλῆος ταχὺς Αἴας
μείων, οὔ τι τόσος γε ὅσος Τελαμώνιος Αἴας
ἀλλὰ πολὺ μείων: ὀλίγος μὲν ἔην λινοθώρηξ,
ἐγχείῃ δ᾽ ἐκέκαστο Πανέλληνας καὶ Ἀχαιούς:
οἳ Κῦνόν τ᾽ ἐνέμοντ᾽ Ὀπόεντά τε Καλλίαρόν τε
Βῆσσάν τε Σκάρφην τε καὶ Αὐγειὰς ἐρατεινὰς
Τάρφην τε Θρόνιον τε Βοαγρίου ἀμφὶ ῥέεθρα:
τῷ δ᾽ ἅμα τεσσαράκοντα μέλαιναι νῆες ἕποντο
Λοκρῶν, οἳ ναίουσι πέρην ἱερῆς Εὐβοίης.
οἳ δ᾽ Εὔβοιαν ἔχον μένεα πνείοντες Ἄβαντες
Χαλκίδα τ᾽ Εἰρέτριάν τε πολυστάφυλόν θ᾽ Ἱστίαιαν
Κήρινθόν τ᾽ ἔφαλον Δίου τ᾽ αἰπὺ πτολίεθρον,
οἵ τε Κάρυστον ἔχον ἠδ᾽ οἳ Στύρα ναιετάασκον,
τῶν αὖθ᾽ ἡγεμόνευ᾽ Ἐλεφήνωρ ὄζος Ἄρηος
Χαλκωδοντιάδης μεγαθύμων ἀρχὸς Ἀβάντων.
τῷ δ᾽ ἅμ᾽ Ἄβαντες ἕποντο θοοὶ ὄπιθεν κομόωντες
αἰχμηταὶ μεμαῶτες ὀρεκτῇσιν μελίῃσι
θώρηκας ῥήξειν δηΐων ἀμφὶ στήθεσσι:
τῷ δ᾽ ἅμα τεσσαράκοντα μέλαιναι νῆες ἕποντο.

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Übersetzung

Now will I tell the captains of the ships and the ships in their order. Of the Boeotians Peneleos and Leïtus were captains, and Arcesilaus and Prothoënor and Clonius; these were they that dwelt in Hyria and rocky Aulis and Schoenus and Scolus and Eteonus with its many ridges, Thespeia, Graea, and spacious Mycalessus; and that dwelt about Harma and Eilesium and Erythrae; and that held Eleon and Hyle and Peteon, Ocalea and Medeon, the well-built citadel, Copae, Eutresis, and Thisbe, the haunt of doves; that dwelt in Coroneia and grassy Haliartus, and that held Plataea and dwelt in Glisas;that held lower Thebe, the well-built citadel, and holy Onchestus, the bright grove of Poseidon; and that held Arne, rich in vines, and Mideia and sacred Nisa and Anthedon on the seaboard. Of these there came fifty ships, and on board of each went young men of the Boeotians an hundred and twenty. And they that dwelt in Aspledon and Orchomenus of the Minyae were led by Ascalaphus and Ialmenus, sons of Ares, whom, in the palace of Actor, son of Azeus, Astyoche, the honoured maiden, conceived of mighty Ares, when she had entered into her upper chamber; for he lay with her in secret. And with these were ranged thirty hollow ships. And of the Phocians Schedius and Epistrophus were captains, sons of great-souled Iphitus, son of Naubolus; these were they that held Cyparissus and rocky Pytho, and sacred Crisa and Daulis and Panopeus; and that dwelt about Anemoreia and Hyampolis, and that lived beside the goodly river Cephisus, and that held Lilaea by the springs of Cephisus. With these followed forty black ships. And their leaders busily marshalled the ranks of the Phocians, and made ready for battle hard by the Boeotians on the left. And the Loerians had as leader the swift son of Oïleus, Aias the less, in no wise as great as Telamonian Aias, but far less. Small of stature was he, with corselet of linen, but with the spear he far excelled the whole host of Hellenes and Achaeans. These were they that dwelt in Cynus and Opus and Calliarus and Bessa and Scarphe and lovely Augeiae and Tarphe and Thronium about the streams of Boagrius. With Aias followed forty black ships of the Locrians that dwell over against sacred Euboea. And the Abantes, breathing fury, that held Euboea and Chalcis and Eretria and Histiaea, rich in vines, and Cerinthus, hard by the sea, and the steep citadel of Dios; and that held Carystus and dwelt in Styra,— all these again had as leader Elephenor, scion of Ares, him that was son of Chalcodon and captain of the great-souled Abantes. And with him followed the swift Abantes, with hair long at the back, spearmen eager with outstretched ashen spears to rend the corselets about the breasts of the foemen. And with him there followed forty black ships.

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Leitfragen:

1) Was ist der Schiffskatalog?

2) Welche Funktion hat der Schiffskatalog in der Ilias?

3) Welche Kontroverse geht mit dem Schiffskatalog einher?

Kommentar:

Die hier vorliegende Quelle ist ein Auszug aus dem sogenannten Schiffskatalog (νεῶν κατάλογος) des zweiten Gesangs der Ilias (hier V. 493 – 545). Im gesamten Schiffskatalog werden alle griechischen Heeres- bzw. Flottenkontingente und ihre Anführer aufgelistet, die sich zur Eroberung Trojas zusammenfanden. Genauer gesagt geht es hier um einen Aufmarsch der Griechen gegen die Streitmacht der Troianer bei einer Feldschlacht im 10. Jahr des Trojanischen Krieges. Die jeweiligen Herrschaftsbereiche der Achaierkönige sind dabei im Schiffskatalog nach geographischen Gesichtspunkten geordnet (beginnend mit den Mannschaften Mittelgriechenlands) und die Zahl ihrer Schiffe sowie die Größe ihrer Mannschaften ausführlich aufgeführt. Auf diese Weise werden 29 Truppenkontingente, 45 Anführer und 187 Orte aufgezählt, womit die griechische Streitmacht insgesamt 1186 Schiffe aufweist. Der Schiffskatalog bildet dabei die griechische Welt in geographischer Hinsicht ab: Vom nördlichen Thessalien, über Mittel- und Westgriechenland, die Peloponnes, die Ionischen Inseln bis zu den Inseln der Dodekanes im Südosten der Ägäis werden Truppenkontingente aufgezählt. Das kleinasiatische Festland und die Kykladen-Inseln werden allerdings nicht angeführt.

Interessant ist, dass sich der Schiffskatalog nicht homogen in das Handlungsgefüge der Ilias einfügt. So geht es bei der Aufzählung der Heereskontingente im Schiffskatalog um eine Schlacht im 10. Jahr des Krieges. Vom erzählerischen Standpunkt aus würde die Auflistung im Schiffskatalog jedoch am Beginn der Expedition, etwa beim Aufbruch der griechischen Flotte nach Troja, sinnvoller erscheinen. Zudem gibt es auch inhaltlich einige Unstimmigkeiten. Dies könnte darauf hinweisen, dass der Schiffskatalog in seinem Konzept aus einem anderen mythischen Kontext (vielfach angenommen wird die Ausfahrt von Aulis aus dem Kyklischen Epos Kyprien) mit entsprechenden Modifikationen in die Ilias übertragen wurde. Welche Funktion hatte der Schiffskatalog aber dann für die Ilias? Grundsätzlich diente er dazu, zu Beginn der Handlung die wichtigsten Protagonisten des Krieges einzuführen. Dabei kommt der Aufzählung im Schiffskatlog auch eine integrative Bedeutung zu: Das griechische Publikum konnte sich mit den Helden identifizieren, denn das Publikum der homerischen Epen war größtenteils in Griechenland beheimatet, so wie die Helden des Epos‘ auch aus Regionen in Griechenland stammten. Die Auflistung der Mannschaften im Schiffskatalog bot den Zuhörern dadurch also eine konkrete Identifikationsebene. Zudem verweist der Schiffskatalog etwa durch die Nennung der Helden Philoktetes und Protesilaos auf größere mythische Erzählkomplexe, an die das Publikum durch sein Vorwissen anknüpfen konnte. Damit gewinnt die Erzählung der Ilias, die sich insgesamt lediglich auf einen Handlungszeitraum von 51 Tagen beschränkt, an inhaltlicher Tiefe und wird Teil eines mythischen Gesamtzusammenhangs. Diese Wirkung wollte der Dichter vielleicht auch durch die Darstellung der immensen Größe des Heeres erzielen: Nach den Angaben der Truppen und Schiffe kann das Heer auf etwa 100.000 Mann geschätzt werden. Es handelt sich hierbei wahrscheinlich um eine epische Hyperbel zur Darstellung der Kraft des griechischen Heeres.

Zu kontroversen Diskussionen hat die Frage nach dem Alter des Schiffskataloges geführt. Stammt der Schiffskatalog im Kern noch aus mykenischer Zeit oder ist er ein Reflex der politischen und geographischen Lebenswert der Zeit der Niederschrift des Epos, also ca. 800 – 700 v. Chr.? Ein Argument der Vertreter der Auffassung, der Schiffskataloges gehe auf mykenische Zeit zurück, ist die der Hinweis darauf, dass keine Kontingenten aus griechischen Kolonien aufgezählt werden. Weil in mykenischer Zeit noch keine Kolonien existierten, konnten diese auch nicht in den Katalog aufgenommen werden, was auf das hohe Alter des Schiffskatalogs verweise. Andererseits würden Orte, die in mykenischer Zeit politische Zentren waren, wie etwa Pylos oder Mykene, im Schiffskatalog eine herausgehobene Rolle spielen. Im 8. Jh. v. Chr. hätten sie jedoch keine Bedeutung mehr gehabt und wären somit wahrscheinlich nicht in der Art herausgestellt worden. Ein weiteres Argument für diese These ist, dass viele Orte, die im Schiffskatalog aufgezählt werden, im 8. Jh. v. Chr. gar nicht mehr identifizierbar waren. Diese Orte stammten deswegen aus älterer Zeit und seien mündlich tradiert worden.

Auf diese Argumente Bezug nehmend, argumentiert die Gegenseite, dass sich die besondere Betonung der genannten mykenischen Orte den Überresten dieser Orte und der dichterischen Imagination verdanke. Grundsätzlich sei es dem Dichter ohnehin ein Anliegen gewesen, sein Epos zu archaisieren weswegen etwa auch bestimmte sozio-politische Gegebenheiten der eigenen Zeit, wie die griechischen Kolonien, ausgeblendet worden seien. Ferner gäbe es grundsätzlich auffällige geographische und politische Unstimmigkeiten zwischen Ilias und der mykenischen Vorzeit. Zudem sei bemerkenswert, dass wichtige mykenische Orte nicht genannt werden, wie Orchomenos oder Midea.

Auch wenn das Für und Wider der jeweiligen Argumente hier im Einzelnen nicht abgewogen werden kann, erscheint eine Verortung des Schiffskatalogs in mykenischer Zeit schwieriger zu sein als eine Datierung ins 8. Jh. v. Chr. Es erscheint schlüssiger, dass der Schiffskatalog im 8. Jh. v. Chr. neu und mit konkreter Abstimmung auf die Ilias konzipiert wurde. Die Forschungsdiskussion zeigt jedoch grundsätzlich, welche entscheidende Rolle dem Schiffskatalog in Bezug auf die Frage nach einer Faktentradierung von mykenischer Zeit bis ins 8. Jh. v. Chr. zukommt.

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Vergils Aeneis als römischer Gründungsmythos

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Vergil
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Verg.A.2.268-297 – Original

268 Tempus erat, quo prima quies mortalibus aegris
incipit, et dono divom gratissima serpit.
270 In somnis, ecce, ante oculos maestissimus Hector
visus adesse mihi, largosque effundere fletus,
raptatus bigis, ut quondam, aterque cruento
pulvere, perque pedes traiectus lora tumentis.
Ei mihi, qualis erat, quantum mutatus ab illo
275 Hectore, qui redit exuvias indutus Achilli,
vel Danaum Phrygios iaculatus puppibus ignis,
squalentem barbam et concretos sanguine crinis
volneraque illa gerens, quae circum plurima muros
accepit patrios. Ultro flens ipse videbar
280 Compellare virum et maestas expromere voces:
“O lux Dardaniae, spes O fidissima Teucrum,
quae tantae tenuere morae? Quibus Hector ab oris
exspectate venis? Ut te post multa tuorum
funera, post varios hominumque urbisque labores
285 defessi aspicimus! Quae causa indigna serenos
foedavit voltus? Aut cur haec volnera cerno?”
Ille nihil, nec me quaerentem vana moratur,
sed graviter gemitus imo de pectore ducens,
“Heu fuge, nate dea, teque his, ait, eripe flammis.
290 Hostis habet muros; ruit alto a culmine Troia.
Sat patriae Priamoque datum: si Pergama dextra
defendi possent, etiam hac defensa fuissent.
Sacra suosque tibi commendat Troia penatis:
hos cape fatorum comites, his moenia quaere
295 magna, pererrato statues quae denique ponto.”
Sic ait, et manibus vittas Vestamque potentem
aeternumque adytis effert penetralibus ignem.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Theodore C. Williams
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

That hour it was when heaven’s first gift of sleep
on weary hearts of men most sweetly steals.
O, then my slumbering senses seemed to see
Hector, with woeful face and streaming eyes;
I seemed to see him from the chariot trailing,
foul with dark dust and gore, his swollen feet
pierced with a cruel thong. Ah me! what change
from glorious Hector when he homeward bore
the spoils of fierce Achilles; or hurled far
that shower of torches on the ships of Greece!
Unkempt his beard, his tresses thick with blood,
and all those wounds in sight which he did take
defending Troy. Then, weeping as I spoke,
I seemed on that heroic shape to call
with mournful utterance: “O star of Troy!
O surest hope and stay of all her sons!
Why tarriest thou so Iong? What region sends
the long-expected Hector home once more?
These weary eyes that look on thee have seen
hosts of thy kindred die, and fateful change
upon thy people and thy city fall.
O, say what dire occasion has defiled
thy tranquil brows? What mean those bleeding wounds?”
Silent he stood, nor anywise would stay
my vain lament; but groaned, and answered thus:
“Haste, goddess-born, and out of yonder flames
achieve thy flight. Our foes have scaled the wall;
exalted Troy is falling. Fatherland
and Priam ask no more. If human arm
could profit Troy, my own had kept her free.
Her Lares and her people to thy hands
Troy here commends. Companions let them be
of all thy fortunes. Let them share thy quest
of that wide realm, which, after wandering far,
thou shalt achieve, at last, beyond the sea.”
He spoke: and from our holy hearth brought forth
the solemn fillet, the ancestral shrines,
and Vesta’s ever-bright, inviolate fire.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Leitfragen:

1) Wovon handelt der Quellentext?

2) Welche Bedeutung hat das Erscheinen Hektors im Traum des Aeneas?

3) Welche Absicht verbirgt sich hinter der trojanischen Herkunft des Aeneas?

Kommentar:

Noch heute führt die Frage nach der Historizität der von Homer in seinem Epos Ilias geschilderten Ereignisse um den Untergang der Stadt Troja in der Forschung zu Diskussionen. In den deutschen Altertumswissenschaften entbrannte zu Beginn des 21. Jahrhunderts (unter anderem) darüber eine besonders hitzige Auseinandersetzung zwischen den Tübinger Altertumswissenschaftlern Heinrich Korfmann und Frank Kolb, welche als die „Troja-Debatte“ bekannt geworden ist. Daran zeigt sich die Bedeutung, die das Epos als europäisches Bildungsgut nach wie vor trägt. Bis heute gehört der Trojanische Krieg zum Grundbestand der europäischen Mythenerzählungen und ist Teil des kulturellen Gedächtnisses. Schon in der Antike wurden die homerischen Texte vielfach rezitiert und aufgegriffen und der Trojanische Krieg wurde zu einem zentralen Ereignis sowohl der griechischen, als auch der römischen Mythologie. Für die römische Literatur, die bewusst nach griechischen Vorbildern geschaffen wurde, sind die homerischen Epen dabei literarische und kulturelle Denkmäler. Besonders deutlich zeigt sich dies an dem von Vergil (70 – 19 v. Chr.) verfassten Epos Aeneis, welches er zwischen 29 v. Chr. und seinem Tod im Jahre 19 v. Chr. schuf. Das Epos erzählt von der Flucht des Trojaners Aeneas aus der brennenden Stadt Troja, seinen Irrfahrten über das Mittelmeer sowie der Gründung einer neuen Heimstätte auf italischem Boden. Dabei lehnt sich Vergils Erzählung an die homerischen Epen Ilias und Odyssee an, kehrt aber die Reihenfolge um. So beginnt die Aeneis mit der Flucht des Helden Aeneas aus Troja und seiner Reise in die neue Heimat Italien (in Anlehnung an die Odyssee), wo der Trojaner dann in einen Krieg gerät, aus dem er als Sieger hervorgeht (in Anlehnung an die Ilias, wobei der Krieg diesmal gewonnen wird). Im Folgenden soll anhand einer ausgewählten Textstelle aus der Aeneis gezeigt werden, welche Bedeutung das trojanische Epos für die Römer hatte.

Die hier vorliegende Textstelle aus dem zweiten Buch der Aeneis ist Teil der Schilderung des Helden Aeneas am Hofe der karthagischen Königin Dido. Aeneas berichtet seinen Zuhörern vom Untergang Trojas. Er erzählt, wie die Griechen in der Nacht aus ihrem Versteck, dem hölzernen Pferd, welches die Trojaner bei Tag in die Stadt gezogen haben, schlüpften, die Stadttore für das griechische Heer öffneten und begannen, die schlafenden Trojaner zu töten. In dem vorliegenden Textausschnitt berichtet Aeneas, dass ihm in dieser Nacht der bereits von Achilles getötete trojanische Prinz Hektor im Traum begegnete. Hektor, gezeichnet von den im Kampf erlittenen Wunden, richtet seine Worte an den überraschten Aeneas und gibt ihm den Auftrag, die untergehende Stadt, deren Rettung er für aussichtslos hält, im Beisein der Stadtgötter zu verlassen.

Hektor erscheint in Aeneas‘ Traum in einem beklagenswerten Zustand. Er ist schwer verwundet und in tiefer Trauer. Aeneas ist von seinem Anblick bestürzt und schmerzhaft berührt, was mehrmals erwähnt wird. Die ihm von Aeneas gestellten Fragen zu seinem Erscheinen ignoriert Hektor und richtet seine Anweisungen, Aeneas solle die Stadt verlassen, da diese dem Untergang geweiht ist, unumwunden an Aeneas. Eine solche Flucht und Abkehr von der Verpflichtung des Kampfes ist für einen antiken Helden wie Aeneas eigentlich undenkbar. Dass Hektor dennoch von Aeneas fordert, das Kampfgeschehen tatenlos zu verlassen, bedeutet, dass hier ein Auftrag von berufenster Stelle erfolgt. Der Auftritt einer solch autoritären Figur wie Hektor und seine Anweisungen zeigen, dass Aeneas nicht nur das Recht, sondern vielmehr auch die Pflicht hat, dem Kampfe zu entfliehen. Berechtigung erhält er zudem durch Hektors Aufforderung, die Götter mitzunehmen. Die Kultgegenstände der Götter holte Hektor denn auch selbst aus dem Tempel. Dies zeigt Hektors großes Bemühen um den Auftrag. Gleichzeitig wird die Mitnahme der Götter dadurch rechtens gemacht und der Auftrag an Aeneas besiegelt. Der Inhalt des Auftrages wird hier also in der Person des Auftraggebers gerechtfertigt. Hektors Auftritt zeugt zudem von der Wichtigkeit des wesentlichen Ziels: Aeneas soll eine neue Stadt für die Götter erbauen. Das ist der entscheidende Grund dafür, dass Hektor Aeneas die Erlaubnis erteilt, das Kampfgeschehen zu verlassen. Hektors Auftreten zeigt also, dass die Gründung einer neuen Stadt schlussendlich Aeneas‘ göttliche Pflicht ist.

Aeneas gelingt diese von Hektor geforderte Aufgabe am Ende der Aeneis: Nach jahrelanger Irrfahrt und vielen Abenteuern wird er Herrscher der Latiner, eines Volks am Tiber, von dem später Romulus und Remus, die eigentlichen Gründer Roms, abstammen. Vergil erzählt mit der Aeneis damit die Geschichte der sagenhaften Abstammung der Römer von dem Trojaner Aeneas. Schon zu Beginn der Geschichte, wie die obige Textstelle durch den Auftritt Hektors erkennen lässt, wird deutlich, dass das Fernziel des Aeneas die Gründung Roms ist. Dies ist der Grund, warum Aeneas überhaupt aus Troja fliehen muss. Es ist seine göttliche Pflicht, Rom zu gründen. Damit schuf Vergil ein römisches Nationalepos, das den Machtanspruch der Römer durch göttliches Wirken rechtfertigte. Vergil eignete sich dabei die homerischen Texte an und definiert die römische Kultur als erneuerte griechische Kultur. Die Römer ziehen ihre nationale Identität also aus der Sage um die Gründung des römischen Volkes durch einen trojanischen Helden. Damit sind die homerischen Epen grundlegende Dokumente der römischen Nationalidentität. Anders als heute, galt ihr Wahrheitsgehalt als unzweifelhaft und damit als historische Realität.

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Thukydides über den Trojanischen Krieg

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Autor_in: Thukydides
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Thuk. 1,10 – Original

καὶ ὅτι μὲν Μυκῆναι μικρὸν ἦν, ἢ εἴ τι τῶν τότε πόλισμα νῦν μὴ ἀξιόχρεων δοκεῖ εἶναι, οὐκ ἀκριβεῖ ἄν τις σημείῳ χρώμενος ἀπιστοίη μὴ γενέσθαι τὸν στόλον τοσοῦτον ὅσον οἵ τε ποιηταὶ εἰρήκασι καὶ ὁ λόγος κατέχει. [2] Λακεδαιμονίων γὰρ εἰ ἡ πόλις ἐρημωθείη, λειφθείη δὲ τά τε ἱερὰ καὶ τῆς κατασκευῆς τὰ ἐδάφη, πολλὴν ἂν οἶμαι ἀπιστίαν τῆς δυνάμεως προελθόντος πολλοῦ χρόνου τοῖς ἔπειτα πρὸς τὸ κλέος αὐτῶν εἶναι (καίτοι Πελοποννήσου τῶν πέντε τὰς δύο μοίρας νέμονται, τῆς τε ξυμπάσης ἡγοῦνται καὶ τῶν ἔξω ξυμμάχων πολλῶν: ὅμως δὲ οὔτε ξυνοικισθείσης πόλεως οὔτε ἱεροῖς καὶ κατασκευαῖς πολυτελέσι χρησαμένης, κατὰ κώμας δὲ τῷ παλαιῷ τῆς Ἑλλάδος τρόπῳ οἰκισθείσης, φαίνοιτ᾽ ἂν ὑποδεεστέρα), Ἀθηναίων δὲ τὸ αὐτὸ τοῦτο παθόντων διπλασίαν ἂν τὴν δύναμιν εἰκάζεσθαι ἀπὸ τῆς φανερᾶς ὄψεως τῆς πόλεως ἢ ἔστιν. [3] οὔκουν ἀπιστεῖν εἰκός, οὐδὲ τὰς ὄψεις τῶν πόλεων μᾶλλον σκοπεῖν ἢ τὰς δυνάμεις, νομίζειν δὲ τὴν στρατείαν ἐκείνην μεγίστην μὲν γενέσθαι τῶν πρὸ αὑτῆς, λειπομένην δὲ τῶν νῦν, τῇ Ὁμήρου αὖ ποιήσει εἴ τι χρὴ κἀνταῦθα πιστεύειν, ἣν εἰκὸς ἐπὶ τὸ μεῖζον μὲν ποιητὴν ὄντα κοσμῆσαι, ὅμως δὲ φαίνεται καὶ οὕτως ἐνδεεστέρα. [4] πεποίηκε γὰρ χιλίων καὶ διακοσίων νεῶν τὰς μὲν Βοιωτῶν εἴκοσι καὶ ἑκατὸν ἀνδρῶν, τὰς δὲ Φιλοκτήτου πεντήκοντα, δηλῶν, ὡς ἐμοὶ δοκεῖ, τὰς μεγίστας καὶ ἐλαχίστας: ἄλλων γοῦν μεγέθους πέρι ἐν νεῶν καταλόγῳ οὐκ ἐμνήσθη. αὐτερέται δὲ ὅτι ἦσαν καὶ μάχιμοι πάντες, ἐν ταῖς Φιλοκτήτου ναυσὶ δεδήλωκεν: τοξότας γὰρ πάντας πεποίηκε τοὺς προσκώπους. περίνεως δὲ οὐκ εἰκὸς πολλοὺς ξυμπλεῖν ἔξω τῶν βασιλέων καὶ τῶν μάλιστα ἐν τέλει, ἄλλως τε καὶ μέλλοντας πέλαγος περαιώσεσθαι μετὰ σκευῶν πολεμικῶν, οὐδ᾽ αὖ τὰ πλοῖα κατάφαρκτα ἔχοντας, ἀλλὰ τῷ παλαιῷ τρόπῳ λῃστικώτερον παρεσκευασμένα. [5] πρὸς τὰς μεγίστας δ᾽ οὖν καὶ ἐλαχίστας ναῦς τὸ μέσον σκοποῦντι οὐ πολλοὶ φαίνονται ἐλθόντες, ὡς ἀπὸ πάσης τῆς Ἑλλάδος κοινῇ πεμπόμενοι.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: J. M. Dent
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

When it is said that Mycenae was but a small place, or that any other city which existed in those days is inconsiderable in our own, this argument will hardly prove that the expedition was not as great as the poets relate and as is commonly imagined. [2] Suppose the city of Sparta to be deserted, and nothing left but the temples and the ground-plan, distant ages would be very unwilling to believe that the power of the Lacedaemonians was at all equal to their fame. And yet they own two-fifths of the Peloponnesus, and are acknowledged leaders of the whole, as well as of numerous allies in the rest of Hellas. But their city is not built continuously, and has no splendid temples or other edifices; it rather resembles a group of villages like the ancient towns of Hellas, and would therefore make a poor show. Whereas, if the same fate befell the Athenians, the ruins of Athens would strike the eye, and we should infer their power to have been twice as great as it really is. [3] We ought not then to be unduly sceptical. The greatness of cities should be estimated by their real power and not by appearances. And we may fairly suppose the Trojan expedition2 to have been greater than any which preceded it, although according to Homer, if we may once more appeal to his testimony, not equal to those of our own day. He was a poet, and may therefore be expected to exaggerate; yet, even upon his showing, the expedition was comparatively small. [4] For it numbered, as he tells us, twelve hundred ships, those of the Boeotians3 carrying one hundred and twenty men each, those of Philoctetes4 fifty; and by these numbers he may be presumed to indicate the largest and the smallest ships; else why in the catalogue is nothing said about the size of any others? That the crews were all fighting men as well as rowers he clearly implies when speaking of the ships of Philoctetes; for he tells us that all the oarsmen were likewise archers. And it is not to be supposed that many who were not sailors would accompany the expedition, except the kings and principal officers; for the troops had to cross the sea, bringing with them the materials of war, in vessels without decks, built after the old piratical fashion. [5] Now if we take a mean between the crews, the invading forces will appear not to have been very numerous when we remember that they were drawn from the whole of Hellas.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Leitfragen:

1) Wovon handelt der Quellentext?

2) Welche methodische Vorgehensweise des Thukydides lässt die Textstelle erkennen?

3) Glaubte Thukydides an die Historizität des Trojanischen Krieg?

Kommentar:

Die Frage nach der Historizität des Trojanischen Krieges wird bis heute kontrovers diskutiert. Wann wurde Troja zerstört? War Troja wirklich eine bedeutende Stadt und damit ein lohnendes Ziel für einen Angriff? Haben die Griechen tatsächlich versucht, Troja in einem hellenischen Zusammenschluss zu erobern?

In der antiken Literatur wurde der Trojanische Krieg immer wieder aufgegriffen, wie etwa bei dem attischen Historiker Thukydides. Thukydides, der um 460 v. Chr. geboren ist und wohl einer wohlhabenden athenischen Familie entstammte, verfolgte in seiner Geschichtsschreibung eine wissenschaftlich-kritische Methode und gilt daher als Begründer der pragmatischen Geschichtsschreibung. In seinem, im Nachhinein in acht Bücher eingeteilten, Werk über den Peloponnesischen Krieg (431 – 404 v. Chr.) zwischen den Großmächten Athen und Sparta bezieht sich der Historiker in seiner Einleitung im Zuge eines knappen Abrisses über die älteste Geschichte Griechenlands (die sogenannte „Archäologie“) auch auf den Trojanischen Krieg und bezeichnet ihn als erste Gemeinschaftsunternehmung der Hellenen gegen einen externen Feind. Dabei geht es Thukydides, wie die obige Quellenstelle (Thuk. 1,10) zeigt, auch um die Größe des trojanischen Krieges. Zu Beginn erklärt er grundsätzlich, dass nicht aufgrund der Größe einer Stadt auf die Größe ihrer Macht geschlossen werden darf. Auch wenn Mykene aus damaliger Sicht klein gewirkt haben mag, bedeute dies nicht, dass der Trojanische Krieg nicht trotzdem der bedeutendste aller früheren Kriege gewesen ist. Dennoch bleibe der Trojanische Krieg, trotz der anzunehmenden Überhöhung durch seinen Dichter Homer, bescheidener als der Peloponnesische Krieg. Dies macht Thukydides im darauffolgenden Abschnitt durch die Aufzählung der bei Homer im 2. Gesang der Ilias genannten Schiffe fest. Er schlussfolgert daraus, dass offenbar nicht Viele für einen gemeinsamen Auszug aus Hellas zusammengekommen seien und der Krieg insofern kleiner gewesen sein muss als der Peloponnesische Krieg.

Thukydides will hiermit also zeigen, dass der Peloponnesische Krieg das größte militärische Unternehmen aller Zeiten ist. Den Trojanischen Krieg, der bis dato größte bekannte Krieg, zieht er dafür als Referenz heran. Den Krieg um Troja bewertet Thukydides dabei logisch an den Möglichkeiten seiner Zeit, nämlich an der Anzahl der Kriegsschiffe. Diese entnimmt er dem homerischen Schiffskatalog der Ilias. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass Homer seinen Krieg vermutlich dichterisch überhöhte und daher keine verlässliche Quelle sein könne. Hieran lassen sich zwei methodische Vorgehensweisen der thukydideischen Geschichtsschreibung erkennen: Zum einen wird die Ilias von Thukydides als historische Quelle genutzt. So zitiert er Zahlenangaben aus dem homerischen Text. Zum anderen zeigt Thukydidesʼ Skepsis in Bezug auf den Wahrheitsgehalt der Angaben Homers, dass er einen kritischen Umgang mit der Quelle wahrte.

Dass Thukydides die homerische Ilias als Quelle heranzieht, bedeutet, dass er an der Historizität des Trojanischen Krieges nicht zweifelte. Dies ist umso bemerkenswerter, als Thukydidesʼ Name mit dem Beginn der kritischen Geschichtsschreibung in Verbindung gebracht wird. In seinem einzigartigen Methodenkapitel warnt er davor, Nachrichten von Früherem ungeprüft anzunehmen. Er muss also davon überzeugt gewesen sein, dass der Trojanische Krieg tatsächlich ein historisches Ereignis gewesen ist. Gleiches galt für die Menschen der griechisch-römischen Antike. Für sie war es historische Realität, dass der Palast des Priamos einst auf dem heute Hisarlık benannten Hügel stand und die Trojaner hier dem Angriff der Griechen entgegenstehen mussten. Zwar war man sich bewusst, dass es keine zeitgenössische Quelle für jenen Krieg gegeben hat und auch wurden Einzelheiten des Kriegsberichtes in Zweifel gezogen, doch war man sich zugleich sicher, dass der Krieg stattgefunden hat. Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, dass die Grenzen zwischen Mythos und Geschichte in der Antike fließend waren. Bis in die Gegenwart wird der Wert der homerischen Epen Ilias und Odyssee dennoch als historische Quelle verteidigt, wie etwa von einem so renommierten Forscher wie dem Basler Gräzisten Joachim Latacz. Aus Sicht der Alten Geschichte gilt der Trojanischer Krieg – zumindest so, wie Homer ihn beschreibt – jedoch heute als unwahrscheinlich.

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Der Eberzahnhelm

Link zum Original

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Homer
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Original:

Hom.Il.10.260-271

260 Μηριόνης δ᾽ Ὀδυσῆϊ δίδου βιὸν ἠδὲ φαρέτρην
καὶ ξίφος, ἀμφὶ δέ οἱ κυνέην κεφαλῆφιν ἔθηκε
ῥινοῦ ποιητήν: πολέσιν δ᾽ ἔντοσθεν ἱμᾶσιν
ἐντέτατο στερεῶς: ἔκτοσθε δὲ λευκοὶ ὀδόντες
ἀργιόδοντος ὑὸς θαμέες ἔχον ἔνθα καὶ ἔνθα
265 εὖ καὶ ἐπισταμένως: μέσσῃ δ᾽ ἐνὶ πῖλος ἀρήρει.
τήν ῥά ποτ᾽ ἐξ Ἐλεῶνος Ἀμύντορος Ὀρμενίδαο
ἐξέλετ᾽ Αὐτόλυκος πυκινὸν δόμον ἀντιτορήσας,
Σκάνδειαν δ᾽ ἄρα δῶκε Κυθηρίῳ Ἀμφιδάμαντι:
Ἀμφιδάμας δὲ Μόλῳ δῶκε ξεινήϊον εἶναι,
270 αὐτὰρ ὃ Μηριόνῃ δῶκεν ᾧ παιδὶ φορῆναι:
δὴ τότ᾽ Ὀδυσσῆος πύκασεν κάρη ἀμφιτεθεῖσα.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: A.T. Murray
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung:

Hom.Il.10.260-271

[260] And Meriones gave to Odysseus a bow and a quiver and a sword, and about his head he set a helm wrought of hide, and with many a tight-stretched thong was it made stiff within, while without the white teeth of a boar of gleaming tusks were set thick on this side and that, [265] well and cunningly, and within was fixed a lining of felt. This cap Autolycus on a time stole out of Eleon when he had broken into the stout-built house of Amyntor, son of Ormenus; and he gave it to Amphidamas of Cythem to take to Scandeia, and Amphidamas gave it to Molus as a guest-gift, [270] but he gave it to his own son Meriones to wear; and now, being set thereon, it covered the head of Odysseus.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Leitfragen:

1) Was ist ein Eberzahnhelm?

2) Welche Funktion hatte der Eberzahnhelm?

3) Was sagt uns der Eberzahnhelm über die Entstehung der Ilias?

Kommentar:

Der in diesen Versen der Ilias beschriebene Helm, den König Odysseus von Meriones zur Verfügung gestellt bekommt, war der am häufigsten verwendete Helm in der ägäischen Bronzezeit und ein mykenisches Unikat. Bisher wurden in mehr als fünfzig Gräbern die aus Eberzähnen bestehenden Platten gefunden, die in einen Zeitraum zwischen 1650 und 1150 v. Chr. datieren. Der sogenannte Eberzahnhelm begegnet dabei aber über die ganze mykenische Periode hinweg nicht nur in Gräbern, sondern erscheint auch auf zahlreichen Darstellungen von Kriegern in der mykenischen Kunst.

Der Eberzahnhelm bestand aus einer mit Filz gefütterten Lederkappe auf die in eng aneinander liegenden Reihen kleine, halbmondförmige Eberzahnplatten, die in den Ecken mit Löchern durchbohrt waren, aufgenäht waren. Dass die Zähne auf eine Lederkappe genäht wurden, erfahren wir lediglich aus der Beschreibung in der Ilias, da das Material, auf das die Zähne genäht wurden, nicht erhalten geblieben ist. Um einen solchen Helm vollständig mit Eberzähnen zu bedecken, wurden die Zähne von etwa 50 bis 60 Ebern benötigt. Die jüngeren Exemplare der Eberzahnhelme besaßen Wangen- und/oder Nackenschutz.

Der Eberzahnhelm war Teil der klassischen Rüstung eines mykenischen Kriegers. Man verwendete Eberzähne, weil Metallarbeiten in dieser Zeit erst entwickelt wurden, und die Herstellung eines bronzenen Helmes, der einerseits leicht sein, andererseits aber auch schützen musste, noch eine Herausforderung darstellte. Später, als bronzene Rüstungen entstanden, hatte sich der Eberzahnhelm etabliert und erwies sich offenbar als so nützlich, dass vorerst keine Bronzehelme produziert wurden.

Der Eberzahnhelm besaß dabei gleichzeitig auch kulturelle Bedeutung, weil die Wildschweinjagd ein wichtiger Teil der mykenischen Kriegskultur war. Nur die mutigsten und begabtesten Krieger waren in der Lage, einen Eber zu erlegen. Vielleicht diente der Helm insofern auch als Zeichen von Mut und Können. Wahrscheinlich war der Eberzahnhelm auch ein Hinweis auf den hohen sozialen Status des Kriegers. Die Funde in den mykenischen Kriegsgräbern weisen darauf hin, dass er bei ehrenvollen Begräbnissen als kostbare Beigabe verwendet wurde. Seine Funktion als Statussymbol zeigt sich auch daran, dass man 50-60 Eber benötigte, um einen einzigen Helm herzustellen. Wahrscheinlich besaß also nicht jeder Krieger einen solchen Helm. Und auch die Verse in der Ilias lassen vermuten, dass der Eberzahnhelm kostbar war, da er nicht nur erbeutet und der Held Odysseus damit ausgerüstet, sondern sodann auch als kostbares Gastgeschenk und später als bedeutendes Erbstück weitergegeben wurde.

Der Eberzahnhelm, der in den Versen der Ilias so detailliert beschrieben ist, gehört in die Lebenswelt der Mykener. Die genaue Beschreibung deckt sich mit den erhaltenen Exemplaren und den vielen Darstellungen von Eberzahnhelmen auf Fresken, Siegeln oder Gefäßen aus mykenischer Zeit. Das homerische Epos wurde jedoch etwa 400 Jahre später, um 800 v. Chr., niedergeschrieben und bezieht sich auch größtenteils auf diese Zeit. Dass der Dichter der Ilias an dieser Stelle den Eberzahnhelm, also einen mykenischen Gegenstand, erwähnt, zeigt, dass die Dichtung im Zuge ihrer mündlichen Überlieferung und der damit einhergehenden Anpassung an die Lebenswelt der Zuhörer über Jahrhundert zu einer Verflechtung von Vergangenheit und Gegenwart geworden ist. Nur auszugsweise wird noch auf die mykenische Realität verwiesen. Wenn der Schreiber der Ilias dieses durch die Erwähnung des mykenischen Eberzahnhelmes tut und damit eine mykenische Kulisse aufleben lässt, diente dies vielleicht dazu, die Handlung absichtlich zu „archaisieren“ und ihr durch eine „epische Distanz“ den Glanz der heroischen Vorzeit zu verschaffen.

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Die Maske des Agamemnon


Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Die Maske des Agamemnon

Leitfragen

1) Was ist die „Maske des Agamemnon“?

2) Was kann uns die Maske über den Begrabenen sagen?

3) Ist dies die Totenmaske des mythischen Königs Agamemnon?

Kommentar:

Bei den Ausgrabungen der mykenischen Schachtgräber des Gräberrundes, entdeckte Heinrich Schliemann 1876 diese goldene Totenmaske, die als „Maske des Agamemnon“ berühmt geworden ist. Die „Maske des Agamemnon“ gehört zu den bekanntesten und spektakulärsten Funden, die in den mykenischen Schachgräbern gefunden wurde (vgl. Quellenkommentar „Gräberrund A“). Die Totenmaske ist dabei eine von insgesamt fünf Masken, die in den Schachtgräbern VI (drei Masken) und V (zwei Masken) gefunden wurde. Die aus Goldblech gefertigte Maske ist 31,5 cm hoch und mittlerweile im Archäologischen Nationalmuseum in Athen ausgestellt.

Die Maske ist bis auf ein paar Risse und kleinere Brüche sehr gut erhalten, so dass die Details des Gesichts gut erkennbar sind: Das Gesicht ist oval und trägt hohe Wangenknochen. Von der hohen Stirn läuft eine lange, dünne Nase mit kleinen Nasenflügeln gradlinig hinab. Die dicht beieinanderstehenden großen Augen sind geschlossen und durch die Augenbrauen eingerahmt. Charakteristisch ist der große Mund mit den filigran dargestellten Lippen, die streng aufeinander liegen. Der Bart, insbesondere der Schnurbart, dessen Enden noch oben verlaufen, und die Augenbrauen sind detailgetreu entworfen. Schliemann glaubte deswegen, dass die Mykener Öl oder eine Art Pomade für ihre Haare gebrauchten. Zwei große Ohren rahmen das Gesicht ein. Neben ihnen befindet sich je ein Loch für einen Nagel. Möglich ist, dass den zu ehrenden Toten dabei die Masken am Kopf mit einem Faden befestigt wurden. Die Löcher am Maskenrand könnten ein Indiz dafür sein. Insgesamt trägt das Gesicht gebieterische Züge und lässt auf einen Mann höheren Alters schließen.

Die „Maske des Agamemnon“ ist dabei mit ihren ausgeprägten Gesichtszügen im Vergleich zu den anderen gefundenen Masken aus den beiden Schachtgräbern besonders detailgetreu. Es entsteht der Eindruck, dass hier das tatsächliche Gesicht des Trägers abgebildet ist. Der Ausdruck des Gesichtes scheint dabei den Charakter des Mannes wiederzugeben: würdevoll und herrschaftlich. Interessant ist, dass nicht alle Toten im Gräberrund Totenmasken trugen und dass die wenigen Träger der Masken Männer waren. Dies lässt vermuten, dass es sich bei den Trägern um Herrscher handelte, die auf diese Weise geehrt wurden. Da sich die fünf gefundenen Goldmasken in bestimmter Hinsicht ähneln – alle haben einen ähnlich geformten Mund, starke Augenbrauen und eine gerade Nase – wurde teilweise angenommen, dass hier eine Familienähnlichkeit erkennbar sei und insofern an dieser Stelle ein Herrschergeschlecht begraben läge. Eine andere Theorie ist diesbezüglich, dass die Masken von dem selben Handwerker oder der selben Werkstatt stammen. Gesichert ist dies aber nicht.

Dafür kann ausgeschlossen werden, dass die Maske eine Verbindung zum sagenumwobenen König Agamemnon hatte. Entgegen der weit verbreiteten Ansicht hielt auch Schliemann die Maske nicht für die Totenmaske Agamemnons. Zeitlich kann dies auch insofern ausgeschlossen werden, da die Forschung die Königsherrschaft des Agamemnon und den Trojanischen Krieg, wenn es ihn gegeben haben sollte, ins 13. Jh. v. Chr. setzt, die Grabfunde im Gräberrund A jedoch aus dem 16. Jh. v. Chr. stammen.

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Das Gräberrund A


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Das Gräberrund A

Leitfragen

1) Was ist das Gräberrund und was ist zu erkennen?

2) Wie entwickelte sich das Gräberrund A?

3) Was kann uns das Gräberrund über die Mykener sagen?

Kommentar:

Im Jahre 1876 stieß Heinrich Schliemann bei Grabungen in Mykene auf eine imposante Grabstätte: Das sogenannte Gräberrund A. Das Gräberrund A (in Abgrenzung zu einer zweiten, älteren, Grabstelle, dem Gräberrund B) befindet sich nach Eintritt durch das Löwentor nach etwa 20 Metern zur rechten Seite. Heute ist davon noch eine kreisförmige Umfassungsmauer sichtbar, die doppelreihig ist (in einem Abstand von 1,30 Meter) und aus senkrechten Kalksteinplatten besteht. Ursprünglich war diese kompakte Plattenmauer durch weitere Platten horizontal abgedeckt. Der Durchmesser des Gräberrundes beträgt etwa 27,50 Meter. Innerhalb des Gräberrundes stieß man auf insgesamt sechs Gräber, die aufgrund ihrer tiefen, rechteckigen Form als Schachtgräber bezeichnet werden und in ihrer Größe zwischen 3 x 3,50 Metern und 4,50 x 6,40 Metern und in ihrer Tiefe zwischen einem und vier Metern variieren. Zudem gab es kleine, flache Gräber, von denen aber nur eines erhalten ist.

Schliemann glaubte, die Grabstätte des legendären Königs Agamemnon und seiner Männer aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. ausgegraben zu haben. Dank moderner Datierungsmethoden sowie durch die in den Gräbern entdeckten Funde, weiß man jedoch heute, dass die Gräber ca. 300 Jahre älter waren, als Schliemann vermutete und aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. stammen. Zu dieser Zeit befand sich hier eine Gruppe großer Schachtgräber, in welchen sehr wahrscheinlich tatsächlich ein Herrschergeschlecht begraben lag. Die heute sichtbare Gestaltung der Grabstätte entstand jedoch 300 Jahre nach der letzten Beerdigung, die im 16.Jahrhundert v. Chr. stattgefunden haben muss. Ursprünglich lagen die alten Gräber, die von einer niedrigen, kreisförmigen Mauer eingefriedet waren, außerhalb der Siedlungsbegrenzung auf der Akropolis. Im 13. Jahrhundert v. Chr. wurde die Burgmauer jedoch erweitert, um die alten Gräber der herrschenden Vorfahren einzubeziehen. Weil diese aufgrund ihrer Lage am Steilhang der Akropolis tiefer lagen als das neu entstandene Löwentor, musste die Grabstelle mit Erde aufgefüllt werden, um das Niveau des Löwentors zu erreichen. Die künstliche Erdauffüllung wurde mit einer starken Mauer umfasst und dadurch zusammengehalten. Hierdurch entstand ein ebenes Gelände, auf welches die oben beschriebene Plattenmauer zur Sichtbarmachung der Gräber gebaut wurde. Kalksteinstelen markierten die Gräber der Vorfahren (s. Rekonstruktion des Gräberrundes A).

In den Schachtgräbern wurden die Skelette von insgesamt 19 Menschen gefunden, darunter neun Frauen, acht Männer und zwei Kinder. In den Gräbern stieß man auf außergewöhnlich viele und reiche Beigaben. Bei den Männern entdeckte man handgefertigte Schwerter, Dolche, Speere und Messer. Alle Toten waren zudem mit Schmuck bedeckt. Es gab Artefakte aus Bergkristallen und Halbedelsteinen, Goldringe mit Darstellungen aus dem Leben der Menschen und goldene Diademe. Einige Männer trugen goldene Totenmasken und auch die Kleider oder Leichentücher waren mit Gold verziert. Daneben wurden Gold- und Silbertassen in den Gräbern gefunden. Der Goldfund wird auf annähernd 15 kg geschätzt (ausgestellt im Nationalmuseum in Athen) und ist damit der bis heute reichste Grabfund der mykenischen Kultur.

Der reiche Fund in Gräberrund A lässt die Vorstellung an das „goldreiche Mykene“ Homers aufleben. Die zahlreichen Goldfunde spiegeln dabei einerseits die machtvolle und kämpferische Welt der Mykener wider, andererseits zeigen sie auch ihr hohes künstlerisches Können und ihren feinen Geist. Ägyptische und minoische Einflüsse sind erkennbar. Insbesondere die goldenen Siegelringe mit ihren kultischen Darstellungen zeigen dabei den Einfluss der kretischen Minoer. Die Reichtümer geben auch Hinweise auf den Wohlstand der frühmykenischen Gesellschaft und ihre Verbindungen zur Außenwelt.

Die Grabfunde verweisen dabei auch darauf, dass hier die Elite begraben lag, der diese glänzenden Gaben beigegeben wurden. Dass es sich um das Grab elitärer Vorfahren handelte, zeigt auch die völlige Bedeckung einer der Kinderleichen mit goldenem Blech. Offenbar muss dieses Kind eine herausgehobene Stellung gehabt haben, denn der Tod eines Säuglings oder Kindes war aufgrund der hohen Kindersterblichkeit eigentlich alltäglich und die Ehrung der mit Gold bedeckten Kinderleiche war daher etwas Besonderes. Vielleicht war das Gräberrund die letzte Ruhestätte einer mykenischen Herrscherdynastie, als sich die Stadt zum regionalen Machtzentrum entwickelte. Diese These kann durch die Baumaßnahmen im 13. Jahrhundert v. Chr. gestärkt werden: Bei der Neugestaltung der Burgmauer war es offenbar besonders wichtig, die Gräber der Vorfahren in die Akropolis einzubeziehen. Dies zeigt, welche Ehrfurcht und Achtung den Toten entgegengebracht wurden und lässt vermuten, dass sie als Begründer einer royalen Dynastie verehrt wurden. Das Gräberrund könnte demnach auch die Funktion eines Heroons der Vorfahren, also eines Grabdenkmals der Heroen, für spätere Generationen gehabt haben.

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