Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Livius
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Liv. I, 58,1-59,1 – Original:
58. paucis interiectis diebus Sex. Tarquinius inscio Collatino cum comite uno Collatiam venit. [2] ubi exceptus benigne ab ignaris consilii cum post cenam in hospitale cubiculum deductus esset, amore ardens, postquam satis tuta circa sopitique omnes videbantur, stricto gladio ad dormientem Lucretiam venit sinistraque manu mulieris pectore oppresso ‚tace, Lucretia‘ inquit; ‚Sex. Tarquinius sum; ferrum in manu est; moriere, si emiseris vocem.‘ [3] cum pavida ex somno mulier nullam opem, prope mortem inminentem videret, tum Tarquinius fateri amorem, orare, miscere precibus minas, versare in omnes partes muliebrem animum. [4] ubi obstinatam videbat et ne mortis quidem metu inclinari, addit ad metum dedecus: cum mortua iugulatum servum nudum positurum ait, ut in sordido adulterio necata dicatur. [5] quo terrore cum vicisset obstinatam pudicitiam velut vi trux libido profectusque inde Tarquinius ferox expugnato decore muliebri esset, Lucretia maesta tanto malo nuntium Romam eundem ad patrem Ardeamque ad virum mittit.
[…]
[7] adventu suorum lacrimae obortae quaerentique viro ’satin salve?‘ ‚minime‘ inquit; ‚quid enim salvi est mulieri amissa pudicitia? vestigia viri alieni, Conlatine, in lecto sunt tuo; ceterum corpus est tantum violatum, animus insons; mors testis erit. sed date dexteras fidemque haud inpune adultero fore. Sex. [8] est Tarquinius, qui hostis pro hospite priore nocte vi armatus mihi sibique, si vos viri estis, pestiferum hinc abstulit gaudium.‘
[…]
[11] cultrum, quem sub veste abditum habebat, eum in corde defigit prolapsaque in vulnus moribunda cecidit.
[…]
59. Brutus illis luctu occupatis cultrum ex vulnere Lucretiae extractum manantem cruore prae se tenens, ‚per hunc‘ inquit ‚castissimum ante regiam iniuriam sanguinem iuro vosque, dii, testes facio me L. Tarquinium Superbum cum scelerata coniuge et omni liberorum stirpe ferro, igni, quacumque dehinc vi possim, exacturum nec illos nec alium quemquam regnare Romae passurum.‘
Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung: Benjamin Oliver Foster
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Übersetzung
58. When a few days had gone by, Sextus Tarquinius, without letting Collatinus know, took a single attendant and went to Collatia. [2] Being kindly welcomed, for no one suspected his purpose, he was brought after dinner to a guest-chamber. Burning with passion, he waited till it seemed to him that all about him was secure and everybody fast asleep; then, drawing his sword, he came to the sleeping Lucretia. Holding the woman down with his left hand on her breast, he said, “Be still, Lucretia! I am Sextus Tarquinius. My sword is in my hand. Utter a sound, and you die!” In affright the woman started out of her sleep. [3] No help was in sight, but only imminent death. Then Tarquinius began to declare his love, to plead, to mingle threats with prayers, to bring every resource to bear upon her woman’s heart. [4] When he found her obdurate and not to be moved even by fear of death, he went farther and threatened her with disgrace, saying that when she was dead he would kill his slave and lay him naked by her side, that she might be said to have been put to death in adultery with a man of base condition. [5] At this dreadful prospect her resolute modesty was overcome, as if with force, by his victorious lust; and Tarquinius departed, exulting in his conquest of a woman’s honour. Lucretia, grieving at her great disaster, dispatched the same message to her father in Rome and to her husband at Ardea.
[…]
The entrance of her friends brought the tears to her eyes, and to her husband’s question, “Is all well?” [7] she replied, “Far from it; for what can be well with a woman when she has lost her honour? The print of a strange man, Collatinus, is in your bed. Yet my body only has been violated; my heart is guiltless, as death shall be my witness. But pledge your right hands and your words that the adulterer shall not go unpunished. Sextus Tarquinius is he that last night returned hostility for hospitality, and armed with force brought ruin on me, and on himself no less —if you are men —when he worked his pleasure with me.”
[…]
[11] Taking a knife which she had concealed beneath her dress, she plunged it into her heart, and sinking forward upon the wound, died as she fell.
[…]
59. Brutus, while the others were absorbed in grief, drew out the knife from Lucretia’s wound, and holding it up, dripping with gore, exclaimed, “By this blood, most chaste until a prince wronged it, I swear, and I take you, gods, to witness, that I will pursue Lucius Tarquinius Superbus and his wicked wife and all his children, with sword, with fire, aye with whatsoever violence I may; and that I will suffer neither them nor any other to be king in Rome!”
Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Falk Wackerow
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Leitfragen:
1) Wie werden die dramatis personae von Livius charakterisiert?
2) Welchen historischen Hintergrund hat die Geschichte?
3) Wie glaubwürdig ist Livius‘ Darstellung?
Kommentar:
Für die Königszeit und die frühe Republik gibt es außer Livius nur sehr wenige Quellen. Die Vergewaltigung der Lucretia ist eine der bekannteren Erzählungen aus der Zeit des letzten Etruskerkönigs Lucius Tarquinius, später mit dem Beinamen Superbus, der Hochmütige, versehen. Dessen Sohn Sextus bedrängt und vergewaltigt in der obigen Stelle die Ehefrau des Lucius Tarquinius Collatinus, seines Mitfeldherrn. Livius stellt ähnlich wie in anderen Erzählungen (siehe „Virginiaprozess“) die Charakteristika der Hauptpersonen einander gegenüber, um ein moralisches Bild und beim Leser Sympathie für die Sache der Römer zu erzeugen. So schildert er Lucretia als Inbegriff weiblicher Tugenden, die bis spät in die Nacht hinein an ihren Webarbeiten sitzt und die fremden Gäste willkommen heißt und bewirtet. Diese Gastfreundschaft wird von ihrem Widerpart Sextus Tarquinius missbraucht, als er sie mit einem Schwert bedroht und sie zwingen will, ihn zu lieben. Lucretia hingegen bleibt standhaft und verteidigt selbst im Angesicht des Todes im Sinne der römischen Tugenden ihre Keuschheit. Schließlich droht Sextus damit, sie und anschließend seinen Sklaven zu töten, neben sie zu legen und ihren Tod somit wie die gerechte Strafe für Ehebruch aussehen zu lassen. Diese durchtriebene Idee bricht Lucretias Widerstand. Lieber wird sie geschändet, als dass man sie für eine Ehebrecherin hält. Beim Erscheinen des von ihr benachrichtigten Ehemannes und des späteren Helden der Republik, Lucius Iunius Brutus, berichtet sie von ihrem Schicksal, lässt die Männer Rache schwören und gibt sich anschließend dem ehrenhaften Freitod hin, um nicht in Schande weiterleben zu müssen. Die aus der Empörung ihres Mannes und Vaters entstehende Revolte führt schlussendlich zur Absetzung und Exilierung des Etruskerkönigs Tarquinius Superbus und seiner Familie.
Livius‘ Darstellung der Vergewaltigung der Lucretia fügt sich passend in die restliche Schilderung der Regentschaft der Tarquinier ein, die nach seinem Zeugnis eine Schreckensherrschaft war. Dabei gilt es zu beachten, wie die Römer zu Livius Zeiten die Könige sahen. Noch Jahrhunderte nach dem Sturz der Könige war das Wort „rex“ negativ konnotiert, sodass beispielsweise Caesar sich genötigt sah, sich von dem Titel und der Stellung zu distanzieren. Aus historischer Sicht lässt sich kein Detail der livianischen Erzählung verifizieren, es handelt sich wohl um eine spätere Erfindung zur Klärung der mythischen Frühzeit, die nicht auf schriftlichen, sondern mündlichen Überlieferungen fußt. So liest sich die obige Stelle wie eine Szene aus einem shakespearischen Drama. Die Figuren und deren Handlungen wirken überzeichnet, die Dialoge stammen wohl aus Livius‘ eigener Feder. Zudem wirkt das Ende konstruiert, da ausgerechnet Brutus, der an sich gar nicht direkt in die Sache involviert war, zuerst dem König Rache schwört, dann dessen Familie, jedoch ohne den eigentlichen Übeltäter Sextus beim Namen zu nennen. Dass dieser nach gelungenem Staatsstreich lediglich wie der Rest seiner Verwandtschaft exiliert und nicht hingerichtet wird, trägt nicht zur Plausibilität der livianischen Schilderung bei.