Der Virginia-Prozess

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Diodor
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Diod. XII, 24,1-4 – Original

ἐπ᾽ ἄρχοντος δ᾽ Ἀθήνησι Λυσανίου Ῥωμαῖοι πάλιν δέκα ἄνδρας νομοθέτας εἵλοντο, Ἄππιον Κλώδιον, Μάρκον Κορνήλιον, Λεύκιον Μινύκιον, Γάιον Σέργιον, Κόιντον Πόπλιον, Μάνιον Ῥαβολήιον, Σπόριον Οὐετούριον. [2] οὗτοι δὲ τοὺς νόμους οὐκ ἠδυνήθησαν συντελέσαι. εἷς δ᾽ ἐξ αὐτῶν ἐρασθεὶς εὐγενοῦς παρθένου πενιχρᾶς, τὸ μὲν πρῶτον χρήμασι διαφθεῖραι τὴν κόρην ἐπεβάλετο, ὡς δ᾽ οὐ προσεῖχεν αὐτῷ, ἐπαπέστειλε συκοφάντην ἐπ᾽ αὐτήν, προστάξας ἄγειν εἰς δουλείαν. [3] τοῦ δὲ συκοφάντου φήσαντος ἰδίαν αὑτοῦ εἶναι δούλην καὶ πρὸς τὸν ἄρχοντα καταστήσαντος δουλαγωγουμένην, προσαγαγὼν κατηγόρησεν ὡς δούλης. τοῦ δὲ διακούσαντος τῆς κατηγορίας καὶ τὴν κόρην ἐγχειρίσαντος, ἐπιλαβόμενος ὁ συκοφάντης ἀπῆγεν ὡς ἰδίαν δούλην. [4] ὁ δὲ πατὴρ τῆς παρθένου παρὼν καὶ δεινοπαθῶν, ὡς οὐδεὶς αὐτῷ προσεῖχε, παραπορευόμενος κατὰ τύχην παρὰ κρεοπώλιον, ἁρπάσας τὴν παρακειμένην ἐπὶ τῆς σανίδος κοπίδα, ταύτῃ πατάξας τὴν θυγατέρα ἀπέκτεινεν, ἵνα μὴ τῆς ὕβρεως λάβῃ πεῖραν, αὐτὸς δ᾽ ἐκ τῆς πόλεως ἐκπηδήσας ἀπῆλθε πρὸς τὸ στρατόπεδον τὸ ἐν τῷ Ἀλγίδῳ καλουμένῳ τότε ὑπάρχον.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung: C. H. Oldfather
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Übersetzung

When Lysanias was archon in Athens, the Romans again chose ten men as lawmakers: Appius Clodius, Marcus Cornelius, Lucius Minucius, Gaius Sergius, Quintus Publius, Manius Rabuleius, and Spurius Veturius. [2] These men, however, were not able to complete the codification of the laws. One of them had conceived a passion for a maiden who was penniless but of good family, and at first he tried to seduce the girl by means of money; and when she would have nothing to do with him, he sent an agent to her home with orders to lead her into slavery. [3] The agent, claiming that she was his own slave, brought her, serving in that capacity, before the magistrate, in whose court Appius charged her with being his slave. And when the magistrates had listened to the charge and handed the girl over to him, the agent led her off as his own slave.
[4] The maiden’s father, who had been present at the scene and had complained bitterly of the injustice he had suffered, since no attention had been paid to him, passed, as it happened, a butcher’s shop, and snatching up the cleaver lying on the block, he struck his daughter with it and killed her, to prevent her experiencing the violation which awaited her; then he rushed out of the city and made his way to the army which was encamped at the time on Mount Algidus, as it is called.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Falk Wackerow
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Leitfragen:

1) Worin bestand die Aufgabe der Decemviri?

2) Was verrät die Stelle über römische Tugenden und Moralvorstellungen?

3) Wie ist sie in den historischen Kontext einzuordnen?

Kommentar:

Der griechische Geschichtsschreiber Diodor (zur Unterscheidung häufig Diodorus Siculus) lebte in der ersten Hälfte des ersten Jhdts. v. Chr. Sein bedeutendstes, wenn auch häufig kritisiertes Werk ist die Βιβλιοθήκη ἱστορική, zu deutsch meist „Weltgeschichte” genannt, aus dem obiges Zitat stammt. Diodor zufolge werden die Decemviri, von denen er nur sieben nennt, mit der Gesetzgebung betraut. Sie sollen einen Codex nach griechischem Vorbild schaffen. Bevor dies jedoch zur Vollendung kommt, begehrt ein namentlich nicht genannter Decemvir (nach Livius war es Appius Claudius) die Tochter des Decimus Virginius. Er versucht, die aus armen, aber achtbaren Verhältnissen stammende Jungfrau mit Geld zu kaufen, anstatt ihren Vater um ihre Hand zu bitten, wie es üblich ist. Hier stellt Diodor römische Tugenden, nämlich die Sittsamkeit und Unbestechlichkeit der Virginia, dem unrömischen Verhalten des Claudius gegenüber, der mit unlauteren Mitteln versucht, sich eine ehrbare Frau gefügig zu machen. Als seine Avancen nicht fruchten, lässt er sie illegalerweise entführen und vor Gericht als entlaufene Sklavin anklagen. Leider ist nicht überliefert, wie die Richter ihre Entscheidung, Claudius stattzugeben, begründen. Das Urteil ist ein solch schwerer Makel für die Familienehre, dass der Vater der jungen Frau keine andere Möglichkeit sieht, als sie zu töten und somit die Schmach reinzuwaschen und noch größere Entehrungen seiner Tochter zu verhindern. Diese Erzählung bietet einen interessanten Einblick in die römischen Vorstellungen von Ehre und Tugend. Sowohl Tochter als auch Vater verhalten sich, wie es nach Aussage der Geschichtsschreiber wahren Römern gebührt, während der Übeltäter Appius Claudius das despotische Gebaren eines Mitglieds der dekadenten Oberschicht an den Tag legt. Damit bietet sich hier eine schöne Parallele zur Zeit der späten Republik, in der Diodor lebte und die auch Livius prägte, als Aristokraten immer mehr Macht an sich rissen und sich schließlich die Monokratie des Prinzipats gegen die gescheiterte Senatsherrschaft durchsetzte. Möglicherweise haben sich hier Ereignisse aus der Entstehungsphase der Quelle mit den Überlieferungen aus älterer Zeit gemischt. Die Empörung, die Tötung der Tochter und die anschließende Flucht des Decimus Virginius führen zur Revolte der Soldaten auf dem Mons Algidus und einem weiteren Konflikt zwischen Plebejern und Patriziern, insbesondere mit den aus ihren Reihen hervorgehenden Decemvirn.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Das Zeitalter der Ständekämpfe“. Um einen breiteren Einblick in die Zeit der Römischen Republik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte I – Republik“.
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