Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Die Schlangengöttin
Leitfragen
1) Wie sieht die Statuette aus?
2) Welcher Kult verbindet sich mit der Schlangengöttin?
3) Warum trägt das Idol eine Schlange?
Kommentar:
Das Idol der hier abgebildeten und von Evans so genannten „Schlangengöttin“ entstammt einem Fund aus Knossos: Unter dem Fußboden eines Zimmers im südwestlichen, also dem kultischen, Teil des Palastes, wurden zwei Steinkisten gefunden, in denen eine große Anzahl verschiedener Gegenstände entdeckt wurden. In einer der beiden Kisten wurden zwei relativ gut erhaltene weibliche Figuren mit Schlangen gefunden, von denen eine die hier abgebildete Schlangengöttin ist. Neben den beiden Schlangengöttinnen befanden sich in den Steinkisten weitere Fayencefunde, wie Votivgürtel und -kleidungsstücke für die Figuren oder Modelle von Fischen und Muscheln. Der Fund datiert in das Ende der mittel-minoischen Periode, wie an Vasen, die ebenfalls in den Steinkisten gefunden wurden, nachgewiesen werden konnte.
Die Statuette der Schlangengöttin ist aus Fayence, einer Metallmischung aus gestoßenem Quarzkristall. Sie ist etwa 35 cm groß. Die Schlangengöttin hält eine kleine Schlange in der Hand des ausgestreckten rechten Armes. Ihr linker Arm sowie ihr Kopf sind abgebrochen. Die Figur trägt einen bodenlangen Volantrock. Um ihre Taille hängt eine Schürze und ihre Brüste sind freigelegt.
Wie so oft in der minoischen Kultur, stellt sich bei menschlichen Gestalten wie der Fayencestatuette der Schlangengöttin die Frage, ob sie Götter oder menschliche Verehrer darstellen oder gar Priesterinnen oder Königinnen sind, die Götter imitieren. Möglich ist auch, dass hier eine Epiphanie gezeigt wird, wobei die Gottheit im Körper der Schlange erscheint. Meist wurde jedoch aufgrund der erhobenen Arme der Figur angenommen, dass es sich bei dem Idol um die Göttin selbst handelt. Die in der Hand gehaltene Schlange könnte dabei auf einen übermenschlichen Status hinweisen.
Fraglich ist, in welchem genauen Zusammenhang die Schlangengöttin zur minoischen Religion stand. Zwar existieren keine architektonischen Überreste eines Heiligtums, jedoch gehört das Schlangenidol dem Fundort nach zu urteilen einem Kult an, der in Häusern vonstattenging. Die minoische Religion pflegte Kulträume in den Palästen und Häusern und kannte keine Tempel. Ausgrabungen und Funde haben gezeigt, dass der Kultraum dabei eine gewisse Grundausstattung hatte: So war es etwa üblich, dass neben anderen Kulteinrichtungen (unterschiedliche Kultgefäße und ein in die Mitte gestellter Dreifußtisch) eine Bank aus Stein oder Lehm an der Hauswand stand, auf welcher wichtige oder heilige Gegenstände aufgestellt waren. So könnte auch unsere Schlangengöttin für eine ähnliche Aufstellung gedacht gewesen sein. Dieser Art Idole wurden lediglich in Hausheiligtümern gefunden. Die neben der Schlangengöttin entdeckten Fayencefunde in den Steinkisten könnten demnach ihre Kultausstattung gewesen sein. Die detailreiche Ausgestaltung der Funde zeigt uns darüber hinaus übrigens auch, dass das kretische Handwerk von besonders hohem technischen Niveau gewesen ist.
Interessant ist zudem die Frage, warum die Figur eine Schlange in der Hand hält (bzw. zwei Schlangen, da sie vermutlich in der anderen Hand ebenfalls eine Schlange hält) und insofern auch, in welchem Zusammenhang Hauskult und Schlange standen. Eine Vermutung ist, dass die Schlange symbolisch als Wächterin des Hauses fungierte. Die Schlange, seit je her ein angsteinflößendes Tier, könnte dieser Erklärung nach als Abschreckung und Schutz vor Bösem und Fremdem dienen. Kleine Futternäpfchen, die man in Knossos gefunden hat, wurden deshalb dahingehend interpretiert. Eine andere Deutung erkennt in dem weiblichen Idol eine Herrin der Tiere. Wenn man die Schlange mit der Erde und der Unterwelt in Verbindung bringt, wie es einige Forscher für die minoische Religion angenommen haben, so könnte die weibliche Figur als Göttin der Erde angesprochen werden. Weilbliche Idole in Verbindung mit Fischen (besonders Delphinen) oder Vögeln, können den Herrschaftsbereich Meer und Himmel abdecken. Die Fayencefunde, die neben der Schlangengöttin in Knossos entdeckt wurden, können dieser Interpretation zur Folge auch den Herrschaftsbereich der Göttin repräsentieren. Eine weitere These ist es, dass in der Schlange, die sich immer wieder häutet, ein Symbol von Heilung und Wiedergeburt zu erkennen ist.
Die Vielfalt der unterschiedlichen Erklärungsmodelle zeigt, dass eine abschließende Klärung der Frage nach der Bedeutung der Schlange jedoch nicht möglich ist.