Ein Siegelring mit Baumheiligtum


Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Ein Siegelring mit Baumheiligtum

Leitfragen:

1) Was ist auf dem Siegelring zu sehen?
2) Was könnte sich in dieser Szene am Baumheiligtum abspielen?
3) Welche Bedeutung hatte der Baum?

Kommentar:

Dass Bäume eine große Rolle in der minoischen Religion spielten, zeigt ihr häufiges ikonographisches Auftreten in Verbindung mit Kultszenen. Vor allem auf Goldringen, wie unserer Quelle, sind kultische Handlungen in Verbindung mit Bäumen abgebildet. Anders als die Palastruinen oder geschützte Höhen-Heiligtümer, sind die Baumheiligtümer archäologisch jedoch schwer nachzuweisen. Möglich ist, dass sie im freien Land angesiedelt waren, weil sie weder auf Bergen noch in Palastarealen gefunden wurden. Anders als dieser Siegelring, der eine Pflanze am Boden der Darstellung zeigt, weisen manche Abbildungen allerdings auch einen gepflasterten Boden auf. Dies könnte auf ein gebautes Areal mit offiziellem Charakter deuten, was zeigt, dass Baumheiligtümer auch einen hohen oder offiziellen Status des Kultes gehabt haben können. Dafür spräche auch, dass meist die wertigen Goldringe die Bildträger der Baumheiligtümer sind.

Die Darstellung auf dem Goldring aus Candia zeigt uns wahrscheinlich eine Szene während einer kultischen Handlung an einem Baumheiligtum. An den äußeren Rändern der Darstellung sind rechteckige Konstruktionen abgebildet, aus denen jeweils ein mit Früchten beladener Baum (vielleicht auch nur Zweige) herauswachsen. Auffällig ist, dass auch auf anderen Abbildungen von Baumheiligtümern die Bäume nicht auf natürlichem Grund wachsen, sondern ebenfalls in oder auf solch stein- oder holzartigen Umhegungen stehen, die deswegen als Altäre oder Schreine gedeutet werden können. Die hier abgebildeten Schreine sind verhältnismäßig simpel. Es könnte sein, dass im rechten Schrein eine kurze freistehende Säule zu erkennen ist. Der linke Schrein vermittelt den Eindruck einer geschlossenen Tür. Zwischen den Baumheiligtümern befinden sich drei weibliche Figuren. Alle drei Figuren tragen den gleichen bodenlangen Volantrock. Ihre Oberkörper sind nackt. Die Haare tragen sie nach oben gesteckt, und eine Kette aus Perlen, die im Haar festgemacht zu sein scheint, hängt den Rücken herunter. Die rechte Figur umfasst mit gesenktem Kopf den Stamm des Baumes und scheint diesen zu Schütteln. Die mittlere Figur steht dem Betrachter frontal gegenüber. Sie ist etwas erhöht abgebildet, sodass der Eindruck entsteht, sie würde schweben. Ihr rechter Arm ist angewinkelt und ihre erhobene Hand wird von der linken Figur berührt, auf die sie herabblickt. Die linke Figur steht dabei mit dem Rücken zum linken Baumschrein und hebt beide Arme in die Höhe. Ihre Handflächen sind geöffnet und berühren die ausgestreckte Hand der mittleren Figur.

Bei den dargestellten Figuren könnte es sich um Adorantinnen, also Kultteilnehmerinnen, handeln, die eine rituelle Handlung am Baumheiligtum vollführen. Typisch für diese Rituale scheint das Rütteln und Schütteln des Baumes zu sein. Viele Darstellungen von Szenen an Baumheiligtümern zeigen Verehrer, oder häufiger Verehrerinnen, die den Baum berühren, schütteln oder greifen. Die rechte Figur der Abbildung könnte eben dies tun. Die Interaktion der beiden anderen hier dargestellten Figuren gibt jedoch Rätsel auf. Es besteht zum einen die Möglichkeit, dass sie einen kultischen Tanz vollführen. Die Körperhaltung der Figuren könnte dabei auf die Ausführung eines Tanzes verweisen. Ähnliche Haltungen nehmen Adorantinnen auf anderen Goldringen oder Siegeln ein. Oft wurde angenommen, dass die häufig dynamisch wirkenden Bewegungen ähnlicher Darstellungen von starken Gefühlsregungen zeugen, was zu der Vermutung geführt hat, dass der Kult ein ekstatischer oder orgiastischer war. Eine Interpretation der Figuren als Tanzende liegt dieser These zu Folge nahe, weil der Tanz im Kult oft ekstatischen Charakter hat.

Andererseits könnte die zentrale Figur auch als eine herabschwebende Gottheit angesprochen werden, die von der linken Figur angebetet wird. Nach dieser Interpretation würde der Goldring eine Epiphanie, die Erscheinung einer Göttin unter Menschen, darstellen. Vielleicht handelt es sich hier also um eine Naturgöttin, die im Baumkult entstanden ist und von weiblichen Kultteilnehmerinnen verehrt wird. Dafür spräche, dass die mittlere Figur eine zentrale und erhöhte Stellung in der Darstellung einnimmt. Dagegen spricht wiederrum, dass alle Figuren ungefähr gleich groß sind und sich die mittlere Figur auch optisch nicht von den anderen beiden Figuren unterscheidet. Die Entscheidung darüber, ob es sich also um eine Epiphanie handelt, ob ein kultischer Tanz dargestellt ist oder aber eine andere rituelle Handlung ausgeführt wird, die wir aufgrund mangelnder Quellen nicht nachvollziehen können, kann hier nicht klar getroffen werden.

Abschließend bleibt die Frage nach der Heiligkeit der Bäume selbst. Waren sie heilig, weil sie in einem besonderen Götterheiligtum standen oder weil sie eine bestimmte Naturgottheit verkörperten? Oder waren sie vielleicht um ihrer selbst willen heilig? Waren sie überhaupt heilig? Eine abschließende Antwort auf diese Fragen kann auch hier nicht gegeben werden. Grundsätzlich zeigt uns dieser Goldring aus Candia aber, dass der Baum mit seinem Stamm und seinen Ästen in der minoischen Religion ein bedeutendes Kultobjekt gewesen sein muss. An ihm zeigt sich erneut (wie an den Gipfel- und Höhlenheiligtümern) die Verbindung der minoischen Religion zur Natur. Offenbar wurden Bäume intensiv verehrt. Ihnen scheint eine besondere Energie inne gewohnt zu haben, die sich darin zeigt, dass die Minoer die Bäume in Schreinen oder Altären platzierten, sie vielleicht mit ekstatischen Riten und Tänzen verehrten und ihre heiligen Zweige berührten und schüttelten.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Minoer“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
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