Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Fresko eines Barden
Leitfragen
1) Was stellt das Fresko dar?
2) Welche Funktion hatte der Barde am pylischen Hof?
3) Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Fresko und der Überlieferungsgeschichte der homerischen Epen?
Kommentar:
Dieses Fresko stammt aus dem mykenischen Palast in Pylos, der auf Grundlage des legendären Königs Nestor des „sandigen Pylos“ bei Homer unter dem Namen „Palast des Nestor“ bekannt geworden ist. Der Palast hatte nur kurz Bestand: Er wurde wohl um 1300 v. Chr. erbaut, brannte jedoch um 1200 v. Chr. nieder. Das hier abgebildete Fresko entstammt der östlichen Ecke des Thronsaales (Megarons) des Palastes. Es zeigt eine männliche Figur ohne Kopfbedeckung vor rotem Hintergrund, deren gelocktes Haar auf seine Schultern fällt. Der Mann trägt ein weißes, bodenlanges Gewand und spielt auf einer fünfsaitigen Lyra, einer antiken Leier. Der Lyra-Spieler sitzt auf einem mit blauen und roten Mustern verzierten Felsen.
In den Thronräumen mykenischer Paläste wurden vermutlich religiöse Rituale oder auch festliche Bankette veranstaltet. Dass das Fresko an die Wand des Megaron des Palastes gemalt wurde, führt zu der Vermutung, dass hier ein Barde abgebildet ist, der bei einem zeremoniellen Bankett für die anwesende Festgesellschaft sang, wie es bei solchen Festbanketten im Megaron vielleicht üblich war. Schon Jahrhunderte vor der Entwicklung des griechischen Alphabets, das wohl zu Beginn des 8. Jh. v. Chr. entstand, besaßen die mykenischen Griechen eine Wortkunst. Diese wurde im Medium der Mündlichkeit realisiert. Das Fresko des Barden zeugt von dieser Mündlichkeit. Vielleicht handelte es sich bei dem abgebildeten Barden um einen Vorgänger der sogenannten Aoiden, Dichtern aus vorhomerischer und auch homerischer Zeit, welche mythische Stoffe von Göttern oder Helden vortrugen. Heldenepik wurde von Aoiden aus einem großen Repertoire traditioneller Geschichten und Sagen memoriert und rezitiert. Im Mittelpunkt standen aristokratische Ideale und Lebensweisen. Es ist deswegen denkbar, dass die Sänger ihre Gedichte vorrangig an Königshöfen, wie etwa im Palast von Pylos, vortrugen. Es sind aber auch religiöse Feste oder Dichteragone als Anlass für die Sagenkunst denkbar.
In den Epen Ilias und Odyssee stehen aristokratische Ideale und Lebensweisen im Mittelpunkt. Es ist insofern ist nach Ansicht der älteren Forschung, etwa Latacz, denkbar, dass die beiden homerischen Epen auf die oben beschriebene Art mündlich improvisierter Heldendichtung zurückgehen. Die Bewahrung sprachhistorisch älterer Merkmale sowie bestimmte Erzählschemata, die sehr alt sind und bis auf die mykenische Zeit zurückgehen, zeugen von einer Tradition der mündlichen Überlieferung. Insbesondere die formelhafte Sprache der Epen, die sprachliche Einheit und Zusammenhalt schaffen, seien Indizien dafür, dass man in der Lage gewesen sei, die Texte über Jahrhunderte hinweg mündlich zu tradieren. Vielleicht nahmen die homerischen Texte also ihren Ursprung tatsächlich in der mykenischen Heldenepik, die von Aoiden in mykenischen Palästen vorgesungen wurde, und sind dann im Laufe der Jahrhunderte durch eine Anpassung an die je aktuelle Zeit verändert worden. Probleme wirft dieser These jedoch auf, wenn man berücksichtigt, dass es sich bei den homerischen Epen um die einzigen tradierten Texte von so großem Umfang und so großer Qualität handelt. Zudem hat sich gezeigt, dass mündliche tradierte Erinnerungen meist nicht weiter als drei Generationen zurückreichen. Insofern ist nach Ansicht der neueren Forschung viel eher denkbar, dass die Ilias und die Odyssee das Werk eines Dichters sind, der zwar auf eine kulturspezifische Sagentradition zurückgreift, jedoch nur der unmittelbar vorausgehenden drei bis vier Generationen.
Sehen Sie zu diesem Beitrag auch den Kommentar zum Megaron in Pylos.