Stierkopf Rhyton

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Stierkopf Rhyton

Leitfragen

1) Was ist ein Rhyton?

2) Wozu wurde das Rython verwendet?

3) Welche Bedeutung hat die Stierkopf-Form?

Kommentar:

Hier zu sehen ist ein sogenanntes Rhyton in Form eines Stierkopfes. Ein Rhyton ist ein Trinkgefäß, das meist oben offen ist und an seinem unteren Ende in einem Kopf oder Protom eines Tieres endet. Am Boden des Gefäßes, also im Maulbereich, befindet sich ein kleines Loch, aus der Flüssigkeit, die in eine Öffnung im Nacken des Tieres eingegossen wird, austreten kann. Dies erklärt auch den Namen des Gefäßes, da sich der Begriff Rhyton von ῥυσις/rhýsis = „Strom“ ableitet.
Dieses Stierkopf-Rython, das in die jüngere Palastzeit datiert, ist das beste und vollständigste Beispiel dieser Art Gefäß aus minoischer Zeit. In der ersten Hälfte des 15. Jh. v. Chr. waren Rhyta überaus gängig: Zahllose Rhyta wurden in den Ruinen von Palästen und Häusern gefunden, die wohl im Zuge der Zerstörung der jüngeren Paläste zwischen 1500 und 1450 v. Chr. vernichtet wurden. Arthur Evans entdeckte das Stierkopf-Rhyton Anfang des 20. Jh. bei Ausgrabungen des sogenannten „Kleinen Palastes von Knossos“, der nordwestlich des großen Palastes liegt. Das aus schwarzem Speckstein gefertigte Rhyton zeichnet sich durch seinen detailgetreuen Stil aus und zeugt von großer handwerklicher Leistung bei seiner Herstellung. Die Hörner des Stiers, die rekonstruiert wurden, sind aus vergoldetem Holz, die Augen aus Bergkristall und die Schnauze aus Muschel. Detaillgetreu wurden Locken und zotteliges Fell eingraviert.

Die minoischen Rhyta sind von den späteren griechischen Rhyta zu unterscheiden. Letztere begegnen auf bildlichen Darstellungen vorrangig als Trinkgefäße. Dabei wurde vermutlich Wein oder ein anders Getränk in das Rhyton gegossen, was dann in einem Strom aus dem Loch im Boden des Gefäßes in den Mund floss. Die minoischen Rhyta sind hingegen wahrscheinlich primär im Kult verwendet worden. Allerdings ist ihre sakrale Verwendung nicht abschließend bewiesen, und es darf nicht ausgeschlossen werden, dass Rhyta in minoischer Zeit auch in alltäglichem Gebrauch waren. So könnten sie etwa als Behältnisse für Wein oder andere Getränke bei Festen oder Banketts gedient haben. Für eine sakrale Verwendung spricht jedoch das Fehlen einer für Trinkzwecke ausgebildeten Mündung oder Gefäßlippe. Auch waren die Rhyta – zumal, wenn sie wie hier aus Stein waren – oft sehr schwer, was einen alltäglichen Gebrauch eher ausschließt.

Dass das Rython die Form eines Stierkopfes hat, so wie viele andere Rhyta auch, verweist auf die besondere Rolle des Stieres in der minoischen Kultur und insofern auf den sakralen Charakter des Gefäßes. So könnte dieses Rhyton vor einem kultischen Hintergrund verwendet worden sein, um etwa das Blut von geopferten Stieren zu sammeln, das im Anschluss an die Opferung als Libation, also als Trankopfer, vergossen werden konnte. Eine interessante Theorie in Bezug auf die Verwendung des Stierkopf-Rython ist auch, dass das Rython Teil eines „re-enactment“ gewesen sein könnte, bei welcher es symbolisch für den geopferten Stier stand, der dabei noch einmal metaphorisch stirbt, während die Flüssigkeit aus dem Stierkopf tropft.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Die Minoer“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
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