Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Agnes von der Decken
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Stiersprungfresko aus Knossos
Leitfragen
1) Was ist auf dem Fresko zu sehen?
2) Was genau passierte beim Stiersprung und wer nahm teil?
3) Welche Funktion kann der Stiersprung gehabt haben?
Kommentar:
Dieses Stiersprung-Fresko stammt aus dem Ostflügel des Palastes von Knossos und ist, wie nahezu alle Fresken, in der Spätphase der jüngeren Paläste, also etwa 1600-1400 v. Chr., entstanden. Auch in diesem Fresko sind lediglich kleinere und größere Verputzbrocken erhalten, die zu einem Gesamtbild rekonstruiert werden mussten. Dank der Rekonstruktion ist die Szene, die das Fresko darstellt, aber deutlich erkennbar: Ein sich im Sprung befindender Stier wird von einer vor dem Stier stehenden männlichen Figur an den gesenkten Hörern gepackt. Über den Rücken des Stieres vollzieht eine weitere männliche Figur gleichzeitig einen Handstandüberschlag. Hinter dem Stier steht eine dritte männliche Figur, die die Arme in Richtung Stier ausstreckt. Das Motiv eines solchen Stiersprungs hat dabei in der Forschung großes Interesse geweckt, weil es in der minoischen Kultur allgegenwärtig ist.
Arthur Evans, der den Palast von Knossos Ende des 19. Jahrhunderts ausgrub, war der erste, der versuchte, den Akt des Stiersprunges zu rekonstruieren. Er vermutete, dass es sich bei der Darstellung um einen Sprung handelt, bei dem ein Springer den Stier bei den Hörnern greift, sich an diesen hochschwingt, einen Salto über den Stier macht, auf dessen Rücken landet und am Ende abspringt. Laut Evans handelt es sich bei den drei männlichen Figuren also um ein und den selben Mann in unterschiedlichen Stadien des Sprunges. Diese Rekonstruktion des Sprunges wird heute jedoch als undurchführbar abgetan. Viel eher sehen wir hier einen Springer, der im Begriff ist, einen Handstandüberschlag über den Rücken des Tieres zu vollziehen und der dabei von zwei anderen Männern assistiert wird (ein Mann verlangsamt den Stier durch den Griff an die Hörner, der andere sorgt beim Absprung für Hilfestellung). Dafür spricht auch die unterschiedliche Farbgebung der Figuren: Die springende Figur ist rot, die anderen beiden sind weiß.
Der auf diesem Fresko dargestellte Stiersprung ist eine rein männliche Angelegenheit. Das Geschlecht der Figuren lässt sich hier anhand ihrer Kleidung und anatomischer Merkmale wie der Penistasche, der fehlenden weiblichen Brust oder der Bein- und Bauchmuskulatur eindeutig bestimmen. Ob auch Frauen an Stiersprüngen teilnahmen, ist umstritten aber nicht sehr wahrscheinlich. Unbestritten ist hingegen, dass die Akteure, die dieses Fresko zeigt, jungen Alters und edler Abstammung waren. Dies zeigen ihre Physis, ihr gepflegtes und elegantes Aussehen sowie der edle Schmuck, den sie tragen. Die Größe des Stieres ist dabei wohl keine künstlerische Übertreibung – Knochenfunde beweisen, dass auf Kreta der bos primigenius lebte, der riesige Vorfahre der heutigen Stiere. Dieser wurde vermutlich gefangen und eine Zeit lang am Hof oder in Gutshöfen gehalten, bis er dann für das Spektakel geholt wurde. Hierbei wurde er so lange gereizt und provoziert, bis der Sprung über das heranrasende Tier möglich war.
Wo die Stiersprünge aufgeführt wurden, ist nicht eindeutig bestimmbar. In Erwägung gezogen wurden freie Plätze in der Stadt oder in Palastnähe oder sogar die Zentralhöfe der minoischen Paläste. Dies erscheint jedoch unwahrscheinlich, weil die Gefahr der Verletzung für Stier und Springer durch die Pflastersteine in den Höfen zu groß gewesen sein muss. Zudem hätte ein Zentralhof aufgrund seiner Größe die Anzahl an Zuschauern deutlich beschränkt, was in Anbetracht der Tatsache, dass der Stiersprung vermutlich der ganzen Gemeinde zugänglich gemacht werden sollte, kaum sinnvoll erscheint. Weil aber anzunehmen ist, dass in den Zentralhöfen Rituale abgehalten wurden, soll nicht ausgeschlossen werden, dass hier Stieropfer vollzogen wurden. Das Spektakel der Stiersprünge ist hingegen eher an einem Ort mit weichem, erdigen Boden zu verorten.
Die Bedeutung des Stiersprunges zeigt sich durch die enorme Signifikanz des Motives und seinen palatialen Charakter. Nicht nur in unzähligen Reliefs und Fresken in Knossos, sondern auch auf Goldringen, Siegeln, Steingefäßen oder Reliefverzierungen begegnet das Motiv des Stiersprungs. Dabei ähneln sich die Darstellungen und zeigen eine stereotype Sequenz. Alles spricht daher dafür, dass die Stiersprünge kultischen Charakter hatten. Dies ist auch deswegen anzunehmen, weil der Stier eine zentrale Rolle im Kult der Minoer spielte. Nicht nur hatte Zeus sich in einen Stier verwandelt, um die Europa nach Kreta zu entführen, sondern auch Minos, König von Knossos, ließ sich von Poseidon einen Stier schenken, der zusammen mit Minos‘ Frau Pasiphae den berühmten Minotauros zeugte. Ob der Stier im Anschluss an die Stiersprünge geopfert wurde, ist fraglich.
Es ist möglich, dass es sich bei dem Stiersprung um Teil eines Ernte- oder Vegetationsfestes handelte: Der Stier galt auch in der ägyptischen Religion als Symbol der Fruchtbarkeit. Denkbar ist auch, dass die gefährliche Begegnung zwischen Mensch und Tier – der Stier stand symbolisch für Stärke und Potenz – ein Initiationsritual minoischer Eliten war. Junge Adlige stellten ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten unter Beweis. Einige Fresken zeigen dabei einen städtischen Kontext sowie Zuschauer, die dem Spektakel beiwohnen und verweisen damit auf das städtische Kollektiv, das am Ritualgeschehen teilnahm.
Schlussendlich kann keine klare Unterscheidung zwischen Sport, Spiel und Ritual vorgenommen werden. Dass der Stiersprung dabei jedoch eine hohe kulturelle Bedeutung hatte, ist nicht von der Hand zu weisen.