Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Tyrtaios
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Original
οὔτ᾽ ἂν μνησαίμην οὔτ᾽ ἐν λόγῳ ἄνδρα τιθείμην
οὐδὲ ποδῶν ἀρετῆς οὔτε παλαιμοσύνης,
οὐδ᾽ εἰ Κυκλώπων μὲν ἔχοι μέγεθός τε βίην τε,
νικῴη δὲ θέων Θρηΐκιον Βορέην,
οὐδ᾽ εἰ Τιθωνοῖο φυὴν χαριέστερος εἴη,
πλουτοίη δὲ Μίδεω καὶ Κινύρεω μάλιον,
οὐδ᾽ εἰ Τανταλίδεω Πέλοπος βασιλεύτερος εἴη,
γλῶσσαν δ᾽ Ἀδρήστου μειλιχόγηρυν ἔχοι,
οὐδ᾽ εἰ πᾶσαν ἔχοι δόξαν πλὴν θούριδος ἀλκῆς:
οὐ γὰρ ἀνὴρ ἀγαθὸς γίγνεται ἐν πολέμῳ,
εἰ μὴ τετλαίη μὲν ὁρῶν φόνον αἱματόεντα
καὶ δηίων ὀρέγοιτ᾽ ἐγγύθεν ἱστάμενος.
ἥδ᾽ ἀρετή, τόδ᾽ ἄεθλον ἐν ἀνθρώποισιν ἄριστον
κάλλιστόν τε φέρειν γίγνεται ἀνδρὶ νέῳ.
ξυνὸν δ᾽ ἐσθλὸν τοῦτο πόληϊ τε παντί τε δήμῳ,
ὅστις ἂν εὖ διαβὰς ἐν προμάχοισι μένῃ
νωλεμέως, αἰσχρῆς δὲ φυγῆς ἐπὶ πάγχυ λάθηται,
ψυχὴν καὶ θυμὸν τλήμονα παρθέμενος,
θαρσύνῃ δ᾽ ἔπεσιν τὸν πλησίον ἄνδρα παρεστώς.
οὗτος ἀνὴρ ἀγαθὸς γίγνεται ἐν πολέμῳ:
αἶψα δὲ δυσμενέων ἀνδρῶν ἔτρεψε φάλαγγας
τρηχείας, σπουδῇ δ᾽ ἔσχεθε κῦμα μάχης:
[…]
Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung: J. M. Edmonds
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Übersetzung
I would neither call a man to mind nor put him in my tale for prowess in the race or the wrestling, not even had he the stature and strength of a Cyclops and surpassed in swiftness the Thracian Northwind, nor were he a comelier man than Tithonus and a richer than Midas or Cinyras, nor though he were a greater king than Pelops son of Tantalus, and had Adrastus‘ suasiveness of tongue, nor yet though all fame were his save of warlike strength; for a man is not good in war if he have not endured the sight of bloody slaughter and stood nigh and reached forth to strike the foe. This is prowess, this is the noblest prize and the fairest for a lad to win in the world; a common good this both for the city and all her people, when a man standeth firm in the forefront without ceasing, and making heart and soul to abide, forgetteth foul flight altogether and hearteneth by his words him that he standeth by. Such a man is good in war; he quickly turneth the savage hosts of the enemy, and stemmeth the wave of battle with a will;
Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Agnes von der Decken
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Leitfragen:
1) Worum geht es in dem Ausschnitt dieses tyrtäischen Fragments?
2) Welche Absicht verfolgt Tyrtaios mit seinem Gedicht?
3) Was kann das Gedicht über den Zusammenhang von Hoplitenphalanx und gesellschafts-politischen Entwicklungsprozessen in Sparta sagen?
Kommentar:
Der archaische Dichter Tyrtaios, der Mitte des 7. Jh. v. Chr. in Sparta lebte und wirkte, verfasste dieses Gedicht in einer Zeit, in der sich Sparta in einem Krieg mit seinem westlichen Nachbarn Messenien befand. In diesem sogenannten Zweiten Messenischen Krieg mussten die Spartaner sich gegen die im Ersten Messenischen Krieg unterworfenen Messenier wehren, die nun einen Aufstand gegen ihre Unterdrücker initiierten. In dem obigen Fragment spricht Tyrtaios, der möglicherweise als eine Art Feldherr fungierte, zu den spartanischen Soldaten und vermittelt ihnen die für ihn wichtigen Werte im Kampf. Dabei betont der Dichter, dass ein Kämpfer nicht wegen seiner Geschicklichkeit im Ringkampf, seiner Kraft, Größe und Schnelligkeit, nicht wegen seines Reichtums oder seiner Wortgewandtheit achtenswert und erinnerungswürdig sei, sondern allein aufgrund seiner Bewährung im Gefecht. Diese zeige sich, wie Tyrtaios fortfährt zu erklären, in der Standhaftigkeit im Kampf, in dem Mut, dem Feinde ins Angesicht zu blicken und in der Bereitschaft, dem Gefährten im Kampf zur Seite zu stehen. Dadurch erlange der Soldat nicht nur den Stolz der Stadt und des Volkes, was der schönste Preis eines Jünglings sei, sondern erreiche auch die Flucht der feindlichen Truppen.
Dieses Gedicht des Tyrtaios, welches er den Soldaten möglicherweise unmittelbar vor dem Kampf vortrug, ist eines von vielen sogenannten kampfparänetischen Gedichten des Tyrtaios. Bei der Kampfparänese geht es darum, mangelnde Kampfbereitschaft aufzuheben oder bestehende Kampfbereitschaft zu verstärken. Eben dies will Tyrtaios hier mit seinen Worten erreichen: Er möchte die Soldaten auf den bevorstehenden Kampf gegen die Messenier einschwören. Dabei will er die Soldaten jedoch nicht davon überzeugen, überhaupt in den Krieg zu ziehen, sondern sie vielmehr zu einer bestimmten Verhaltensweise im Kampf motivieren. Wie oben beschrieben, geht es Tyrtaios dabei hauptsächlich darum, standhaft im Verbund der Schlachtenreihe zu bleiben. Das höchste Lob erhalten diejenigen, die als Hopliten in der Schlachtenreihe Zuverlässigkeit und Verantwortungsgefühl gegenüber ihren Mitstreitern zeigen. Bei Tyrtaios finden sich damit erstmals in Form literarischer Überlieferung wesentliche Aussagen zur Phalanxtaktik.
Auffällig ist, dass Tyrtaios in diesem Fragment klar zwischen individuellen Ambitionen im Kampf und der Nützlichkeit für die gesamte Mannschaft unterscheidet. Nicht derjenige, der adlige Vorzüglichkeitsmerkmale im Kampf aufweist, sondern derjenige, der aufopferungsvoll für die Gemeinschaft und die heimatliche Polis zu sterben bereit ist, zählt zu den wahren agathoi, den Guten. Tyrtaios bewertet hier also die Eigenschaften und das Verhalten eines Mannes nach „bürgerlichem“ Maßstab und seinem Nutzen für die Polis. Dieses Gedankengut muss aus dem gesellschaftlichen Umfeld, in welchem sich Tyrtaios Mitte des 7. Jh. v. Chr. in Sparta befand, erwachsen sein. Dabei steht offenbar nicht mehr die Ehre des einzelnen Helden im Zentrum, wie vielfach noch bei Homer, sondern das Individuum als fester Bestandteil der Polisgemeinschaft. In dem tyrtäischen Fragment wird damit der gesellschafts- und geistesgeschichtliche Umbruch widergespiegelt, der sich im archaischen Griechenland im 7. Jh. v. Chr. vollzog: Durch die Entwicklung eines aus Polisbürgern zusammengesetzten Hoplitenheeres in Phalanxformation erfuhr der einzelne Hoplit eine neue Bedeutung. Jeder einzelne Soldat der Phalanx war nun tragendes Element des Bürgerheeres, weil innerhalb dieser neuen Kampfformation alle aufeinander angewiesen waren. Dadurch stieg die Bedeutung des einzelnen Hopliten auch in gesellschaftlicher Hinsicht, während die der adligen Heerführer sank. Aus der militärischen Gleichheit erwuchs damit eine politische Gleichheit. Gleichzeitig entwickelte sich ein neues ethisches Prinzip, das in der Pflicht des Einzelnen gegenüber dem Staat bestand. Die neue Kampfesweise führte also zu einer Neuerung in der sozialen Ethik sowie im politischen System, weswegen die Polisentwicklung häufig mit der gleichzeitigen Entwicklung der Hoplitenphalanx in Verbindung gebracht wird. In der Forschung wird dieser Zusammenhang jedoch nach wie vor kontrovers diskutiert und sicherlich muss insgesamt von einer heterogenen Entwicklung ausgegangen werden, bei welcher zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Erneuerungsprozesse in Gang gesetzt wurden. Nichtsdestoweniger greifen wir in den Versen des Tyrtaios durch die Betonung der Wichtigkeit des einzelnen Hopliten im Gesamtverbund erstmals eine neue Vorstellung von Polisgemeinschaft.