Zu den krummen Urteilen

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Hesiod
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Hes. Erg. 240-273 – Original:

[240] πολλάκι καὶ ξύμπασα πόλις κακοῦ ἀνδρὸς ἀπηύρα,
ὅς κεν ἀλιτραίνῃ καὶ ἀτάσθαλα μηχανάαται.
τοῖσιν δ᾽ οὐρανόθεν μέγ᾽ ἐπήγαγε πῆμα Κρονίων
λιμὸν ὁμοῦ καὶ λοιμόν: ἀποφθινύθουσι δὲ λαοί.
οὐδὲ γυναῖκες τίκτουσιν, μινύθουσι δὲ οἶκοι
[245] Ζηνὸς φραδμοσύνῃσιν Ὀλυμπίου: ἄλλοτε δ᾽ αὖτε
ἢ τῶν γε στρατὸν εὐρὺν ἀπώλεσεν ἢ ὅ γε τεῖχος
ἢ νέας ἐν πόντῳ Κρονίδης ἀποαίνυται αὐτῶν.
ὦ βασιλῆς, ὑμεῖς δὲ καταφράζεσθε καὶ αὐτοὶ
τήνδε δίκην: ἐγγὺς γὰρ ἐν ἀνθρώποισιν ἐόντες
[250] ἀθάνατοι φράζονται, ὅσοι σκολιῇσι δίκῃσιν
ἀλλήλους τρίβουσι θεῶν ὄπιν οὐκ ἀλέγοντες.
τρὶς γὰρ μύριοί εἰσιν ἐπὶ χθονὶ πουλυβοτείρῃ
ἀθάνατοι Ζηνὸς φύλακες θνητῶν ἀνθρώπων:
οἵ ῥα φυλάσσουσίν τε δίκας καὶ σχέτλια ἔργα
[255] ἠέρα ἑσσάμενοι, πάντη φοιτῶντες ἐπ᾽ αἶαν.
ἡ δέ τε παρθένος ἐστὶ Δίκη, Διὸς ἐκγεγαυῖα,
κυδρή τ᾽ αἰδοίη τε θεῶν, οἳ Ὄλυμπον ἔχουσιν.
καί ῥ᾽ ὁπότ᾽ ἄν τίς μιν βλάπτῃ σκολιῶς ὀνοτάζων,
αὐτίκα πὰρ Διὶ πατρὶ καθεζομένη Κρονίωνι
[260] γηρύετ᾽ ἀνθρώπων ἄδικον νόον, ὄφρ᾽ ἀποτίσῃ
δῆμος ἀτασθαλίας βασιλέων, οἳ λυγρὰ νοεῦντες
ἄλλῃ παρκλίνωσι δίκας σκολιῶς ἐνέποντες.
ταῦτα φυλασσόμενοι, βασιλῆς, ἰθύνετε †δίκας
δωροφάγοι, σκολιέων δὲ δικέων ἐπὶ πάγχυ λάθεσθε.
[265] οἷ γ᾽ αὐτῷ κακὰ τεύχει ἀνὴρ ἄλλῳ κακὰ τεύχων,
ἡ δὲ κακὴ βουλὴ τῷ βουλεύσαντι κακίστη.
πάντα ἰδὼν Διὸς ὀφθαλμὸς καὶ πάντα νοήσας
καί νυ τάδ᾽, αἴ κ᾽ ἐθέλῃσ᾽, ἐπιδέρκεται, οὐδέ ἑ λήθει,
οἵην δὴ καὶ τήνδε δίκην πόλις ἐντὸς ἐέργει.
[270] νῦν δὴ ἐγὼ μήτ᾽ αὐτὸς ἐν ἀνθρώποισι δίκαιος
εἴην μήτ᾽ ἐμὸς υἱός: ἐπεὶ κακὸν ἄνδρα δίκαιον
ἔμμεναι, εἰ μείζω γε δίκην ἀδικώτερος ἕξει:
ἀλλὰ τά γ᾽ οὔ πω ἔολπα τελεῖν Δία μητιόεντα.
Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Hugh G. Evelyn-White
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

[240] Often even a whole city suffers for a bad man who sins and devises presumptuous deeds, and the son of Cronos lays great trouble upon the people, famine and plague together, so that the men perish away, and their women do not bear children, and their houses become few, [245] through the contriving of Olympian Zeus. And again, at another time, the son of Cronos either destroys their wide army, or their walls, or else makes an end of their ships on the sea. You princes, mark well this punishment, you also, for the deathless gods are near among men; and [250] mark all those who oppress their fellows with crooked judgements; and heed not the anger of the gods. For upon the bounteous earth Zeus has thrice ten thousand spirits, watchers of mortal men, and these keep watch on judgements and deeds of wrong [255] as they roam, clothed in mist, all over the earth. And there is virgin Justice, the daughter of Zeus, who is honored and reverenced among the gods who dwell on Olympus, and whenever anyone hurts her with lying slander, she sits beside her father, Zeus the son of Cronos, [260] and tells him of men’s wicked heart, until the people pay for the mad folly of their princes who, evilly minded, pervert judgement and give sentence crookedly. Keep watch against this, you princes, and make straight your judgements, you who devour bribes; put crooked judgements altogether from your thoughts. [265] He does mischief to himself who does mischief to another, and evil planned harms the plotter most. The eye of Zeus, seeing all and understanding all, beholds these things too, if so he will, and fails not to mark what sort of justice is this that the city keeps within it. [270] Now, therefore, may neither I myself be righteous among men, nor my son—for then it is a bad thing to be righteous—if indeed the unrighteous shall have the greater right. But I think that all-wise Zeus will not yet bring that to pass.
Text zum downloaden

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Tobias Nowitzki
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Hes. Erg. 240-273

Leitfragen:

1) Wie beschreibt Hesiod hier die Rechtssprechung seiner Zeit?

2) Wieso hat er seine Meinung in Form dieses Gedichtes verfasst?

3) Welche Rückschlüsse lässt die Quelle auf die Gesellschaftsordnung in Hesiods Zeit zu?

Kommentar:

Hesiod stellt eine der frühesten schriftlichen Quellen dar, die wir auf Griechisch haben. Der böotische Autor aus dem späten 8. oder frühen 7. Jahrhundert hat uns mehrere Lehrgedichte überlassen und gilt oft als Begründer dieser Literaturgattung. Eines davon sind die erga kai hemera (Werke und Tage), in denen er seinen Bruder Perses über rechte Lebensführung berät.

In diesem Abschnitt beschreibt Hesiod die Rechtsprechung seiner Zeit in Mahnungen. Er dringt darauf, dass Herrscher beim Fällen von Urteilen gerecht sein und sich nicht bestechen lassen sollten. Denn andernfalls wäre das Ergebnis ein „krummes Urteil“; diese Formulierung gehört zu den bekanntesten Auszügen aus Hesiods Werk. Solche Urteile würden den Charakter einer gesamten Gemeinschaft verderben, so Hesiod, und seien demnach höchst gefährlich, auch für den Richter selbst.

Dies bringt uns direkt zu der Frage nach Hesiods Motivation, eine so deutliche Kritik an der Rechtsprechung seiner Zeit in dieser Form zu verfassen. Zuerst muss man sich fragen, wieso es ein Lehrgedicht sein sollte. Auch wenn die Antwort darauf selbstverständlich vielfältig ist, so besteht ein Hauptgrund darin, dass alle frühen Texte, zu denen auch die homerischen Epen zählen, in Versform abgefasst waren. Längere Prosatexte kommen erst später auf. Ein Grund hierfür war wahrscheinlich, dass Texte in Versform besser memoriert werden konnten, und es somit den reisenden Rhapsoden möglich war, diese aus dem Gedächtnis vorzutragen. Gleichzeitig fällt der große Apparat an Göttern auf, den Hesiod auffährt, um seine Kritik zu verdeutlichen. Die Existenz der Götter nährt die Hoffnung, dass es über den parteiischen, korrupten und ungerechten Aristokraten noch eine Macht gibt, die auch diese straft – ein philosophisches Problem, mit dem sich im Grunde jede Religion der Welt befasst. Die Götter fungieren hier also auch als eine Drohung an die Oberschichten, dass auch für sie Konsequenzen existieren, die verheerend sein können. Die Menschen der Antike sahen alle Arten von Unheil als göttliche Strafen, weshalb auf einen Richter dieses Gedicht seine Wirkung nicht verfehlt haben dürfte.

Wir lernen auch einiges über die Gesellschaft in hesiodischer Zeit: Die Justizgewalt lag in den Händen weniger Aristokraten. Gleichzeitig wird deutlich, dass es eine wohlhabende Schicht gab, die es sich leisten konnte, diese Elite für günstige Urteile zu bestechen – und das offensichtlich auch häufig tat. Und noch eine dritte Sache lernen wir: Es war anscheinend möglich, diese Personen offen zu kritisieren. Nichts anderes als Kritik ist diese Schrift Hesiods an dieser Stelle und scheinbar war ihre Verbreitung erlaubt.

Text zum downloaden

Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Krise und Entstehung der Polis“. Um einen breiteren Einblick in die Archaik zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Griechische Geschichte I – Archaik“.
Hier geht’s zum Podcast

 

Siehe zur archaischen Rechtssprechung auch die Schildbeschreibung aus der Ilias und die Kodifikation des Rechtes durch Solon.