Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Werner Rieß
Lizenz: CC-BY-NC-SA
Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit
04 – Der Untergang Mykenes, Troja
Um 1200 sehen wir die mykenische Welt im Niedergang begriffen. Dabei passiert nicht alles gleichzeitig, Pylos wird beispielsweise früher zerstört als Tiryns und Mykene. Der Niedergang ist ein langwieriger Prozess, der sich über 150 Jahre lang hinzieht und ist auf jeden Fall multikausal zu verstehen. Früher war man der Meinung, dass Eindringlinge von außen, die Dorer die Zerstörungen verursachten, und tatsächlich greifen wir mancherorts Neuankömmlinge. Zudem geht zeitgleich auch das Hethiterreich unter; es finden also tatsächlich große Bevölkerungsbewegungen im östlichen Mittelmeerraum statt.
Sie leiten die sogenannten Dunklen Jahrhunderte ein. Die archäologischen Befunde sind alles andere als einheitlich. Es gab Zerstörungen, das Auflassen von Siedlungen (z. B. Gla, Krisa), aber auch immer wieder Neuanfänge. Lefkandi scheint in dieser Zeit geradezu zu wachsen. Wahrscheinlich richten zuerst die Seevölker, die im Alten Testament als Philister auftauchen, die ersten Zerstörungen an und ziehen dann weiter. Es fällt auf, dass man auf den Kykladen keine Zerstörungshorizonte aus dieser Zeit findet. Waren die Kykladen also die Basis der Seevölker? Danach stoßen indoeuropäische Neuankömmlinge in das Machtvakuum vor. Wir sollten hier noch nicht gleich von Dorern sprechen, denn die Ethnogenese findet wohl erst in Griechenland statt. Das Verhältnis der Neuankömmlinge zu den Mykenern ist schwierig zu fassen. Zum Teil gab es kriegerische Auseinandersetzungen, auch Umgruppierungen der bestehenden Bevölkerung sind möglich. Mancherorts bleibt die mykenische Kultur unberührt, wie z. B. in Attika. Erst jetzt bilden sich die späteren griechischen Dialekte heraus. Die mykenische Staats- und Gesellschaftsstruktur löst sich auf, und mit ihr verschwindet auch Linear B. Wie lassen sich nun die großen Bevölkerungsbewegungen bzw. der starke Bevölkerungsrückgang in manchen Gebieten erklären? Messenien verliert in jener Zeit rund 90% seiner Einwohner. Wahrscheinlich gab es Naturkatastrophen, wie Erdbeben, und Ernteausfälle aufgrund von Dürren. Aufgrund knapper werdender Nahrungsmittelressourcen muten innere Auseinandersetzungen plausibel an, also Aufstände der unterdrückten Bevölkerung gegen die Palasteliten, bürgerkriegsähnliche Szenarios und natürlich auch Kriege zwischen den mykenischen Herrschaftsbereichen. Eindringlinge von außen sind ebenfalls nicht zu leugnen, sie profitierten wohl von der Schwäche der mykenischen Gemeinwesen. Doch auch diese Invasionstheorie wirft ihre eigenen Fragen auf: Warum waren die mykenischen Streitwagenkämpfer den Angreifern aus dem Norden dauerhaft unterlegen? Brachten die Männer aus dem Norden wirklich eine neue Kampftechnik mit, die das Hethiterreich zu Fall brachte und sogar Ägypten in Bedrängnis brachte? Man wird sich eine komplexe Gemengelage von Gründen vorstellen müssen, mit mehreren Einwanderungsschüben, die mehr oder weniger kriegerisch verliefen und die mykenischen Herrschaftsgebilde aufgrund deren struktureller Schwäche zum Kollabieren brachte. Dabei müssen wir regional mit stark divergierenden Tendenzen rechnen. Die Katastrophe kam also nicht plötzlich, sondern ist das Ergebnis einer lang anhaltenden Instabilität.
Noch eine Überlegung der Mykenologen zum Abschluss: Meist reagieren Menschen auf Bedrohungen von außen mit Trotz und Widerstandsfähigkeit. Man versucht, das Zerstörte wieder aufzubauen. Hier geschieht dies nicht mehr. Die Untertanen der mykenischen Reiche scheinen den Glauben an diese Herrschaftsform verloren zu haben; sie konnten sich wohl nicht mehr mit der Palastwirtschaft identifizieren. Was also verlorenging, war der gesamtgesellschaftliche Basiskonsens, damit war der Untergang dieses Systems dann besiegelt. Man diskutiert auch heute noch viel über die Brüche bzw. Kontinuitäten von der mykenischen zur späteren griechischen Welt. Und ganz sicher gibt es einige Kontinuitätslinien, gerade im Bereich der Sprache und der Religion. Insgesamt aber ist die Gesellschaft, die wir aus den Tontäfelchen rekonstruieren können, um 1200 untergegangen, die Folge war ein enormer Kulturabfall.
Die materielle Verarmung ist archäologisch zu greifen, Linear B gerät in Vergessenheit, es folgt eine lange schriftlose Periode bis ca. 800/750 v. Chr. Diesen Zeitraum nennen wir die Dunklen Jahrhunderte.
Wir kommen zum nächsten großen Abschnitt der Vorlesung, Troja – alte und neue Kämpfe.
Der Trojanische Krieg gehört zum Grundbestand europäischer Mythenerzählungen und europäischen Bildungsgutes sowie zu unserem kulturellen Gedächtnis. Seine höchst umstrittene Historizität und die damit zusammenhängenden Fragen sind aktueller denn je, wie die Berichterstattung in den Medien gerade seit 2001 deutlich zeigt.
Ich möchte zunächst in einem ersten Schritt auf Troja eingehen, die Stadt und v.a. die Geschichte ihrer Ausgrabung. In einem zweiten Schritt möchte ich dann auf Homer und seine Dichtung und ihre spezifischen Probleme eingehen. In einem dritten Schritt möchte ich dann versuchen, diese beiden Ebenen zusammenzubringen. Sie werden sehen, dass dies nicht gelingen wird. Die Gründe hierfür werden lehrreich sein und die neueren Debatten um die Stellung und Bedeutung der Stadt am Skamander und die Herkunft Homers in einen größeren Kontext stellen. Um es vorweg zu sagen: Weder aus Sicht der Altphilologie noch aus Sicht der Archäologie oder Alten Geschichte kann von einem historischen Trojanischen Krieg die Rede sein. Vielleicht ist der Kern der Sage ein viel unspektakulärer Einwanderungsvorgang von Griechen in der Troas ab dem 11. Jh.
Zur Forschungs- bzw. Grabungsgeschichte:
Seit dem 11. Jh. n. Chr. suchten europäische Reisende Troja in den Ruinen von Alexander Troas bzw. Sigeion. Ab 1750 suchten Engländer unter dem Einfluss der Ilias-Übersetzung von Alexander Pope den Ort. Graf Choiseul-Gouffier ließ als französischer Gesandter an der Hohen Pforte die ersten Karten der Troas anfertigen. 1785 glaubte Jean-Baptiste Lechevalier, den Ort der Sage auf der Anhöhe Balli Dag gefunden zu haben, beim Dorf Pinarbasi. 1801 wies schließlich Edward Clarke aufgrund von Münzfunden nach, dass der Hügel Hisarlik, 4,5km von den Dardanellen entfernt, das antike Ilion war. 1822 kam Charles Maclaren, ein schottischer Verleger und Hobbyarchäologe, zum gleichen Ergebnis. Mit seinen Schriften inspirierte Maclaren den jüngsten Sohn der Familie Calvert, welcher der Hügel gehörte, zu eigenen Forschungen. 1863-1865 nahm Frank Calvert die ersten Probegrabungen vor und war überzeugt, Troja in Hisarlik gefunden zu haben. 1868 kam dann Heinrich Schliemann in die Troas. Er war Kaufmann, kein ausgebildeter Archäologe und kannte den damaligen Forschungsstand nicht. Frank Calvert machte ihn schließlich auf Hisarlik aufmerksam.
Schliemann entfaltete nun, zwischen 1870 und 1890, eine rastlose Ausgrabungstätigkeit, bei der er auch viel zerstörte, weil er schnell zum Felsen, zu den ältesten Schichten vordringen wollte. Allerdings muss man ihm zugutehalten, dass es noch keine Vorbilder gab, die Feldforschung noch in den Kinderschuhen steckte, und er auch im Laufe der Zeit besser wurde, wie seine Tagebücher zeigen. Schliemann war ein Meister der Selbstinszenierung und liebte kühne und voreilige Schlussfolgerungen. Er hielt die zweite Schicht für das Troja Homers und glaubte, den Schatz des Priamos gefunden zu haben.
Heute wissen wir, dass diese Schicht rund 1000 Jahre älter ist als die Schicht, in der ein vermeintlicher Trojanischer Krieg stattgefunden haben könnte. Nach dem Tod Schliemanns übernahm Wilhelm Dörpfeld die Grabung. Auch für Dörpfeld war die Historizität des Trojanischen Krieges nicht hinterfragbar. Er identifizierte aber Troja VI als die entscheidende Schicht. 1932-1938 gruben dann die Amerikaner unter Leitung von Carl Blegen von der University of Cincinnati. Insgesamt unterscheiden wir heute neun bzw. zehn Schichten mit ca. 50 Bauphasen als Untergliederungen. 1988 nahm der Tübinger Prähistoriker Manfred Korfmann die Grabungen wieder auf, in Zusammenarbeit mit der University of Cincinnati.
Seit Korfmanns Tod im Jahre 2005 steht die deutsche Grabung unter Leitung von Ernst Pernicka. Korfmanns Hauptbefund war, dass Troja VI eine große Untersiedlung im Süden und Osten der Zitadelle gehabt habe, eine Hypothese, die v.a. von Frank Kolb, Professor für Alte Geschichte in Tübingen, heftig angezweifelt wurde und noch immer wird. Bevor wir auf diese Kontroversen etwas näher eingehen, möchte ich in aller gebotenen Kürze die neun Schichten Trojas kurz vorstellen. Ich lehne mich hier an die Schriften des Kölner Archäologen Dieter Hertel an.
Troja I aus der 1. Hälfte des 3. Jahrtausends war ein kleines Dorf, das dem ägäisch-westanatolischen Kulturkreis angehörte.
Troja II weist mehrere Megara auf. Eine Untersiedlung war von einer Palisade umgeben. Hier fand sich der berühmte Schatz des Priamos.
Troja III-V ist dann weniger wohlhabend, in der Zitadelle sind die Häuser dicht gedrängt. In Troja III war die Mauer von Troja II wohl immer noch in Gebrauch. Troja IV weist nun eine Fläche auf, die sich im Vergleich zu den vorherigen Schichten verdoppelt hat. In Troja V wächst die Stadt weiter, es finden sich minoische Importe. Die Schichten III-V wurden von Schliemann stark zerstört. Diese fünf ältesten Schichten gehören der frühen Bronzezeit an. Die mittlere und spätere Bronzezeit umfasst die Schichten VI bis VIIb2 (1700-1020).
Troja VI ist dabei die größte und prächtigste Stadt, in der wir acht Bauphasen greifen können. Dörpfeld hielt Troja VI für das homerische Troja, das Troja der Ilias. Kern von Troja VI ist die Burg, die die Vorgängerbauten in den Schatten stellt. Die gewaltige Befestigungsmauer ist 550 Meter lang und hat einen Durchmesser von 220 Metern. Die Anlage im Inneren ist terrassenförmig. In der Mitte der Zitadelle gab es einen Palast und einen Kultbezirk. Die Häuser waren sehr groß. Die Häuser außerhalb der Mauer, die aber nah an die Mauer herangebaut waren, waren kleiner als die Häuser in der Zitadelle. Je näher man also an der Macht wohnte, desto größer wurden die Häuser. Korfmann glaubte in dieser Schicht eine Unterstadt bzw. Untersiedlung entdeckt zu haben.
Kolb stellt sich dieses Umland eher als Gartenland vor mit einzelnen Gehöften. Diverse Gräben und Mauerreste wurden von Korfmann zunächst als Annäherungshindernisse bzw. als weitere Stadtmauern gedeutet, eine These, die sich nicht halten ließ. Es ist schwierig, die Bevölkerungszahl von Troja VI zu berechnen, manche Forscher gehen heute von ca. 7000 aus. Korfmann wollte diese Stadt als orientalische Metropole verstanden wissen, als Residenzstadt und Handelszentrum. Doch ein Vergleich mit der Hethiterhauptstadt Hattusa lässt dies nicht zu. Vor allem fehlt in Troja der Beleg für buchhalterische Tätigkeit, Archive und Magazinierungspolitik. Troja muss also ein viel bescheidenerer Fürstensitz gewesen sein.
Obgleich die Architektur anatolisch ist, scheinen die Bande zwischen Troja und dem Hethiterreich nur schwach ausgeprägt gewesen zu sein. Fazit ist also: Troja VI war keine altorientalische Residenzstadt, kein spätbronzezeitliches Zentrum des Welthandels, sondern nur ein regionaler Mittelpunkt. Troja VI ging in einem Großbrand unter, allerdings finden sich keine Waffen. Die Stadt wurde wohl durch ein Erdbeben zerstört. Der Untergang datiert sich zwischen 1300 und 1250. Die Trojaner bauen nach dem Brand Troja wieder auf, Troja VIIa entsteht. Die Häuser sind nun allerdings kleiner, die Wände dünner als vorher. Die Besiedlung ist insgesamt dichter als in Troja VI. Es gibt keinen Kulturbruch, aber alles verläuft auf einem niedrigeren kulturellen Niveau. Auch Troja VIIa wird durch einen Brand zerstört (wohl um 1190/80), aber nur wenig deutet auf eine kriegerische Zerstörung hin. Es ist aber möglich, dass Feinde von außen, vielleicht die Seevölker, die Stadt niederbrannten. Leute aus dem Balkan ließen sich offensichtlich in Troja VIIb 1 nieder. Die Zäsur zur nächsten Schicht ist scharf. Blegen und Korfmann hielten übrigens Troja VIIa für das homerische Troja, eine These, die auch heute noch Anhänger findet. Beide Schichten von Troja VIIb zeigen eine neue, primitive Keramik, d.h. Menschen von außen müssen zugezogen sein, wahrscheinlich aus dem thrakisch-illyrischen Raum. Beide VIIb Schichten gingen in Bränden unter, die wieder nicht als kriegerisch verursacht einzustufen sind.
Einige halten aber VIIb 1 für das homerische Troja. Mit Troja VIIb 2, das sich nicht wesentlich von VIIb 1 unterscheidet, endet die Bronzezeit um 1020. Im Schutt von Troja VIIb, eine nähere Zuordnung ist leider nicht möglich, fand man ein luwisches Bronzesiegel, woraus Korfmann und der Klassische Philologe Latacz folgerten, dass man in Troja Luwisch sprach, also eine Sprache, die dem Hethitischen verwandt ist. Dies kann, muss aber nicht sein, denn das Siegel kann auch von außen nach Troja gelangt sein. Vielleicht darf man in Troja durchaus Mehrsprachigkeit annehmen, da es ja am Schnittpunkt von Kulturen lag.
Für Troja VI bis VIIb 2 liegt kein Hinweis auf eine mykenische Eroberung vor, es finden sich weder Rampenreste noch Schiffslagerbefestigungen an der Küste. Nur Troja VIIa könnte von Seevölkern oder Dardanern aus dem Balkan zerstört worden sein, nichts deutet auf ein mykenisches Koalitionsheer hin. Allerdings konnte Hertel zeigen, dass die Griechen den Untergang von VIIb 2 nutzten, um selbst auf Hisarlik zu siedeln. Troja VIII ist dann bereits eine griechische Stadt und markiert ab 950 den Beginn der Eisenzeit. Die Einheimischen wohnen nun mit Griechen zusammen. Altes steht neben Neuem. Die Mauer von Troja VI diente weiterhin als Bollwerk; den Griechen muss diese Mauer gewaltig vorgekommen sein.
Dies begünstigte natürlich die Sagenbildung. Troja IX ist dann die römische Stadt. Noch im 9. Jh. war die Stadt ein byzantinischer Bischofssitz (Troja X), bis ins 13. Jh. war sie bewohnt, dann wurde sie aufgelassen und verfiel.
Hertel stellt sich nun den Kern des Troja-Stoffes so vor: Griechen aus Mittelgriechenland versuchten im 11. oder 10. Jh. Troja VIIb 2 zu erobern, aber erfolglos. Die große, unüberwindbare Mauer blieb ihnen in dauerhafter Erinnerung. Erst durch ein Erdbeben waren die Trojaner dann so geschwächt, dass sie den Griechen nicht mehr Widerstand leisten konnten, die sich nun neben der einheimischen Bevölkerung niederlassen.
Ein leicht anderes Szenario ist ebenso plausibel: Es gab überhaupt keinen griechischen Angriffsversuch, weil die Mauern als unüberwindbar galten. Erst die Naturkatastrophe erlaubte eine weitgehend friedliche Landnahme der Griechen, die sich dann einen aitiologischen Mythos für die Landnahme schufen und diese heroisierten, also kriegerisch überhöhten. So könnte es natürlich gewesen sein, doch spricht dem entgegen, dass die Griechen Homers Troja zwar zerstören, dann aber gerade nicht dort siedeln, sondern wieder nach Hause fahren. Eine Landnahme ist mit den Epen gerade nicht zu erklären! Vielfach wurde angenommen, dass es mehrere mykenische Beutezüge in die Troas gegeben habe, die Homer dann zu einem einzigen Krieg kondensierte, so zuletzt von Korfmann geäußert.
Abgesehen davon, dass damit die Historizität des Trojanischen Krieges wieder vom Tisch ist, würde dieses Szenario voraussetzen, dass Troja für die Mykener ein lohnendes Ziel war, aber nach all dem, was wir heute wissen, war es das gerade nicht. Troja war gerade kein exponiertes, reiches und strategisch wichtiges Ziel. Gerade die jüngsten archäologischen Forschungen scheinen also die Historizität eines Trojanischen Krieges in noch weitere Ferne als je zuvor gerückt zu haben.