Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Übersetzung: Hermann Friedrich Müller
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Übersetzung
[3,4,2] Und von dieser Seele gilt hauptsächlich der Ausspruch: „alles was Seele ist, waltet über das Unbeseelte“; von den Einzelseelen gilt er in verschiedener Weise. „Sie durchwandert den ganzen Himmel bald in dieser, bald in jener Form“ d.h. entweder im empfindenden oder denkenden oder in der bloß vegetativen Form. Denn der herrschende Theil derselben thut das ihm Zukümmliche, die anderen Theile sind unthätig, denn sie sind ausserhalb. Im Menschen aber herrscht nicht das Schlechtere, sondern es ist zugleich mit vorhanden, freilich auch nicht stets das Bessere, sondern auch das Andere nimmt einen gewissen Raum ein. Deshalb [sind auch die Menschen nicht bloss denkende, sondern] auch empfindende Wesen. Sie haben ja auch Organe der Empfindung; auch erinnert vieles in ihnen an die Pflanzen, denn der Körper wächst und erzeugt. Alle Theile wirken also zusammen, nach dem Bessern aber wird die ganze Form als Mensch bezeichnet. Wenn nun die Seele den Körper verlässt, so wird sie das was sie in überwiegendem Maasse war. Deshalb muss man zu dem Höheren seine Zuflucht nehmen, um nicht zur sensitiven Seele zu werden, indem man den Bildern der sinnlichen Wahrnehmung folgt, noch zur vegetativen, indem man dem Zeugungstriebe und der sinnlichen Begier nach Speise folgt, sondern hinan zum Intellektuellen, zum Geist, zu Gott. Diejenigen welche den Menschen bewahrt haben, werden wieder Menschen; die welche bloss in sinnlicher Empfindung gelebt haben, Thiere. War ihre sinnliche Empfindung mit Zorn gepaart, werden sie wilde Thiere, und der hierbei stattfindende Unterschied bedingt den Unterschied dieser Thiere; war sie von Begierde begleitet, von sinnlicher Lust am Begehren, so werden sie die unmässigen und gefrässigen Thiere. Bildete aber nicht einmal die Empfindung im Verein mit diesen Trieben den Grund ihres Lebens, sondern gesellte sich Trägheit der Empfindung hinzu, so werden sie gar Pflanzen; denn dieser vegetative Theil war bei ihnen allein oder doch vorwiegend thätig, ihre Sorge war darauf gerichtet, Bäume zu werden. Diejenigen welche die Musik liebten, im übrigen aber lauter waren, lässt Plato zu Singvögeln werden; die welche als Könige unvernünftig regierten, zu Adlern, wenn nicht andereweitige Schlechtigkeit ihnen anhaftet; die welche sich mit ihren Gedanken in die Lüfte versteigen und sich ohne vernünftige Einsicht stets zum Himmel erheben, zu hochfliegenden Vögeln. Wer die bürgerliche Tugend besitzt, wird Mensch; wer sie aber in ungenügendem Grade besitzt, wird ein geselliges Thier, eine Biene oder dergleichen.
Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Tobias Nowitzki
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Plot. Enn. 3,4,2
Leitfragen:
1) Wie vollzieht sich nach Plotin der Abstieg der Seele?
2) Auf welcher Philosophie beruht Plotins Denkmodell?
3) In welchem Verhältnis steht diese Philosophie zu anderen religiös-philosophischen Phänomenen der Spätantike?
Kommentar:
Plotin, ein griechischer Philosoph des 3. Jahrhunderts n. Chr., kam wahrscheinlich aus Ägypten. Er gilt allgemein als einer der ersten und wichtigsten Vertreter des sogenannten Neuplatonismus, einer in der Spätantike sehr wichtigen philosophischen Strömung, die auf der Auslegung von Platons Werken beruht.
In diesem Abschnitt seiner Enneaden beschreibt Plotin, wie sich der Abstieg der Seele vollzieht. Nach ihm war die Seele Teil eines Kreislaufes von Wiedergeburten, an deren Ende idealerweise die Einheit mit Gott, dem reinen Intellekt, steht oder aber der Abstieg zu einem niederen Lebewesen, wie Tieren oder Pflanzen. Plotin sieht die Ursache der jeweiligen Wiedergeburt im Verhalten der Seele im vorhergehenden Leben. Stets seien alle drei Aspekte der Seele (intellektueller, sinnlicher und vegetativer) vorhanden. Wenn ein Mensch im Wesentlichen nach dem Intellekt gelebt habe, so werde er als Mensch wiedergeboren. Sollte er sich den Sinnen und der sinnlich wahrnehmbaren Welt verschrieben haben, so wird er als Tier wiedergeboren, jeweils passend zu den Emotionen, denen er am meisten verschrieben war. Wenn ein Mensch aber nur auf Fortpflanzung und damit die vegetative Funktion der Seele gezielt habe, so werde er nach Plotin gar als Pflanze wiedergeboren.
Dieses Denkmodell beruht eindeutig auf Platons Theorie der Seelenwanderung und der Ideenlehre. Letztere besagt, dass wir, dies entstammt dem Höhlengleichnis, nur Abbilder der Wirklichkeit mit unseren Sinnen wahrnehmen; lediglich der reine Intellekt könne das Wahre erkennen. Die Seelenwanderungslehre Platons beinhaltet ebenfalls diesen Kreislauf, allerdings ist er in der Politeia noch nicht so ausführlich dargestellt wie bei Plotin.
Der Neuplatonismus fügt sich in eine ganze Reihe religiös-philosophischer Strömungen der Spätantike. Denn die Idee der Seelenwanderung und des Ab- und Aufstiegs von Seelen ist nicht weit entfernt von den Gedanken der Gnostiker oder auch der christlichen Idee der fleischlichen Auferstehung, sowie der Vorstellung von Himmel und Hölle. In der christlichen Vorstellung führt ein sündhaftes Leben in die Hölle, ein tugendhaftes in den Himmel – im Neuplatonismus führen die Triebe zur Wiedergeburt als Tier, der Intellekt zur Erlösung durch Aufstieg. Erlösungsreligionen und -philosophien hatten in der Spätantike geradezu Hochkonjunktur, und der Neuplatonismus fügt sich gut in die anderen Theorien und Glaubensrichtungen ein.
Vergleiche zur Religion in der Spätantike auch die Sol-Invictus-Münze oder den Bericht zum Konzil von Nicäa.