Thür, G., Das Gerichtswesen Athens […]

Leitfragen

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Josephine Jung
Lizenz: CC-BY-NC-SA

1) Thür erläutert die Grundzüge des athenischen Gerichtswesens zunächst in groben Zügen (Textsei-ten 30-36). Nennen Sie die antiken Quellen, die den Historikern Auskunft über das athenische Ge-richtswesen geben und beschreiben Sie diese:
a) Um was für Quellen handelt es sich?
b) Welche Auskünfte geben die Quellen?
c) Was ist bei der Interpretation der Quellen zu beachten?

2) Beschreiben Sie nach Thür die drei charakteristischen Züge des athenischen Gerichtswesen in eigenen Worten (Textseiten 36-37).

3) Thür erläutert zusammenfassend den Ablauf eines Gerichtstages im klassischen Athen (Textseiten 42-49). Lesen Sie diesen Abschnitt noch einmal und versuchen Sie, ein für sich verständliches Schaubild zu entwerfen, welches den Ablauf darstellt. Beschränken Sie sich dabei auf die drei we-sentlichen Elemente: Vorbereitung, Prozess, Urteil.

4) Reflektieren Sie das athenische System im Vergleich mit den Ihnen bekannten Formen demokra-tischer Gerichtswesen und Prozessführung sowie Urteilsfindung. Welche zwei Unterschiede sind für Sie am größten?

5) Erläutern Sie diese zwei besonderen Eigenarten des athenischen Systems mit Hilfe der Darstel-lung von Thür. Wie lassen sich diese Eigenheiten vor dem historischen Hintergrund in Ansätzen er-klären?

Kommentar

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Josephine Jung
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Forschungstradition des Autors

Prof. Dr. em. Gerhard Thür (* 1941 in Golling an der Salzach) ist promovierter Jurist. Sein Schwer-punkt liegt in der Rechtsgeschichte der Antike, wobei er sowohl in der griechischen als auch in der römischen Rechtsgeschichte gleichermaßen ausgewiesener Experte ist. Thür prägte die deutsche Rechtsgeschichte der Nachkriegszeit und ist einer der führenden Experten antiker Rechtsgeschichte. Er lehrte nach seiner Habilitation 1973, die er am Institut für Rechtsgeschichte in Wien erfolgte, an der Universität München (1976-1992). 1992 nahm er den Ruf der Karl-Franzens-Universität Graz an und wurde o. Univ.-Prof. für Römisches Recht.

Erläuterung missverständlicher, schwieriger und wichtiger Stellen für das Textverständnis

Thür leitet seine Erklärungen zum athenischen Gerichtssystem mit einem kurzem Forschungsüber-blick und einer Periodisierung nach Boegehold ein (Textseite 31). Er unterscheidet zwischen 1. (460-410 v. Chr.), 2. (410-340 v. Chr.) und 3. (340-322 v. Chr.). Um die folgenden Entwicklungen, die Thür schildert, besser nachvollziehen zu können, sei daher kurz ein Überblick über die wichtigsten historischen Ereignisse in dieser Zeit gegeben, die im Zusammenhang mit der Entwicklung des Ge-richtssystems stehen. Die erste Periode ist geprägt durch eine Entmachtung des Adelsrates Areopag. Das neu geschaffene Gericht Heliaia übernahm weitreichende Kompetenzen in der Straf- und Zivil-gerichtsbarkeit. Die Heliaia war ein großes Volksgericht, welches aus bis zu 6000 Geschworenen-richtern bestand. Auch große politische Prozesse (Eisangelie-Verfahren) wurden hier verhandelt (Textseite 34).

Die zweite Periode beginnt mit der Herrschaft der 30 Tyrannen (404-403 v. Chr.). Nachdem das demokratische System wieder hergestellt worden war, wurde das Gerichtssystem im-mer ausgefeilter. Es entstand ein Gremium von vierzig Amtsträgern, die Aufgabengebiete der 9 Ar-chonten übernahmen. Die Vierzig leiteten die Vorverfahren in Privatprozessen und konnten bereits Einigungen erzielen und einen Prozess vermeiden (Textseite 36). In der letzten Phase erlangte das Los-System im Gerichtsprozess seine vollendete Form (Textseiten 39-49). Korruption und Beste-chung konnte an mit Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

Auf der Textseite 33 spricht Thür von neun Archonten. Der Begriff „Archon“ meint ursprünglich nur einen einzigen, den höchsten, Amtsträger im Staat. Der Stadtstaat entwickelte sich jedoch weiter, insbesondere auch das Gerichtswesen. Das System wurde feingliedriger, sodass die Aufgaben von verschiedenen Amtsträgern, die noch immer Archon hießen, übernommen wurden. Die neun Archo-ten hießen: Archon Eponymus, Archon Basileus, Archon Polemarchos und die übrigen sechs nannte man Thesmotheten. Nachdem diese neun ihre Amtszeit bewältigt hatten, waren sie auf Lebenszeit Mitglied im höchsten Rat Athens, dem Areopag. Dieser Adelsrat bestand bis zu Solon, einem ein-flussreichen Politiker der Archaik, als einziges politisches Organ in Athen. Die Etablierung eines weiteren Rates – Rat der Vierhundert – wird auf Solon zurückgeführt, wobei man in der Forschung teilweise meint, dass diese Entwicklung sicher Vorläufer hatte.

Auf Textseite 34 erwähnt Thür, dass die Prozessbeteiligten in der Vorverhandlung den jeweiligen Kontrahenten zur Folter seiner Sklaven basanos auffordern konnten, um weitere Informationen zu erhalten. Wichtig ist zu wissen, dass im Gegensatz zu griechischen Bürgern und Fremden eine Zeu-genaussage vonseiten eines Sklaven nur dann im Prozess verwendbar war, wenn sie unter Folter er-klärt wurde. Diesem Thema hat sich Thür in seiner Habilitation mit dem Titel Beweisführung vor den Schwurgerichtshöfen Athens. Die Proklesis zur Basanos gewidmet. Er legte anhand der Analyse der griechischen Gerichtsreden erstmals dar, dass es sich bei der Sklavenfolterung nachweislich lediglich um ein rhetorisches Mittel in einem Prozess gehandelt hatte. In keiner einzigen Rede wurde die Sklavenfolterung zur Erlangung einer rechtsgültigen Aussage angewandt.

Auf den Textseiten 36 bis 37 erklärt Thür das Prozesssystem der Athener im Vergleich mit dem Rö-mischen Gerichtswesen. Er erörtert, dass ein Prozess in Athen zunächst immer in einem Vorverfah-ren verhandelt wurde. In diesem Verfahren konnte bereits eine Einigung gefunden werden. Geleitet wurde dieses Verfahren durch bestimmte Amtsträger. Der Prozess selbst wurde aber immer vor ei-nem Gremium an Richtern verhandelt. Rein von der technischen Ebene betrachtet findet man diese Verhandlungsformen, eine Verhandlung vor einem Amtsträger oder vor einem Gremium an Richtern, auch in Rom. Jedoch wurden dort nicht alle Prozesse vor einem Richterkollegium abgehalten. In der römischen Kaiserzeit etablierte sich vermehrt die cognitio extra ordinem, ein außerordentliches Ge-richtsverfahren, welches an weniger starre Vorgaben gebunden war und z.B. in der Provinz vom Statthalter vollzogen wurde. Dahingehend ist das athenische Vorverfahren vor dem Archon mit der cognitio extra ordinem vergleichbar; beide wurden vor einem Amtsträger verhandelt. Inhaltlich be-trachtet handelt es sich jedoch um zwei völlig verschiedene Ebenen des Gerichtssystems, nämlich um einen rechtsgültigen Prozess und ein Vorverfahren zu einem möglichen Prozess.

Text zum downloaden

 

Vergleichen Sie hierzu auch die Sekundärtexte „Was ist Demokratie“ und „Drakons Gesetz„.