Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Werner Rieß
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Griechische Geschichte II: Die Klassik
03 – Die Kleisthenischen Reformen / Athenische Außenpolitik des 5. Jhs. v. Chr.
Athen hatte die Auseinandersetzung mit den Persern auch deshalb gewonnen, weil es sich innenpolitisch, modern gesprochen, durch eine grundlegende Verfassungsreform neu aufgestellt hatte. Im innerathenischen Machtkampf zwischen Isagoras, der von Sparta unterstützt worden war, und Kleisthenes, hatte sich Kleisthenes durchgesetzt, indem er eine größere Partizipation athenischer Bürger an den Staatsgeschäften anvisierte. Die Vorgeschichte und sogar der eigentliche Zweck der kleisthenischen Reformen liegen bis heute im Dunkeln und sind daher in der Forschung nach wie vor heiß umstritten. Wenn Kleisthenes mit seinen demokratischen Reformen die anderen Adelsfamilien schwächen und seine eigene Familie und Machtposition stärken wollte, so ist dieses Vorhaben fehlgeschlagen. Mit diesen Reformen, die die Macht des Adels weitgehend brachen, sägte Kleisthenes im Grunde am Ast, auf dem er selbst saß, zumindest hören wir nach den Reformen von 508/7 nichts mehr von ihm. Dass er als alter Aristokrat wirklich eine Demokratie herbeiführen wollte, darf bezweifelt werden, doch das Ergebnis lief dahin hinaus. Was wir jedoch sehr wohl tun können, ist, die Maßnahmen in ihrer Interdependenz zu beschreiben und ihre Folgen einzuschätzen: Nach Tyrannenmanier löste Kleisthenes die vier alten Phylen auf und gründete zehn neue. Das Dezimalsystem sollte das zugrunde liegende Prinzip der Rationalität unterstreichen. Durch diese Neugliederung war die Machtbasis des Adels im Wesentlichen gebrochen. Attika wurde in drei Teile geteilt. Es gab eine Region Stadt, eine Region Küste und eine Region Binnenland. Jeder der drei Teile bestand wiederum aus zehn Teilen. Diese 30 Trittyen bildeten den gesamten Bürgerverband. Jede der zehn neuen Phylen wurde aus drei Trittyen zusammengesetzt, eine Trittye Stadt, eine Trittye Küste, eine Trittye Binnenland. Es wurden also Bevölkerungsteile zusammengespannt, die überhaupt nicht zusammen wohnten, die neue Ordnung war also sehr künstlich, aber offenbar funktional. Kleisthenes stattete die neuen Phylen sofort mit neuen Kulten und Phylenheroen aus, um den Zusammenhalt zu stärken. Die unterste Einheit bildeten nach wie vor die rund 100 Dörfer, die sogenannten Demen. Soweit wir also sehen können hatte die Reform folgende Ziele:
Die Schaffung von 10 bzw. 30 gleich großen Teilen der Bevölkerung für politische und militärische Zwecke.
Eine volksnahe Selbstverwaltung in den Demen.
Die Verhinderung regionaler Parteibildungen, wie Athen sie schon mehrfach erlebt und sie Peisistratos sich zu Nutzen gemacht hatte und das
Aufbrechen der alten adeligen Hausmachten.
Vielleicht hat Kleisthenes auch den Ostrakismos, das Scherbengericht eingeführt. Die Boule, der ursprüngliche Rat der 400, musste nun mit 500 Mitgliedern neu geordnet werden, 50 aus jeder der zehn Phylen. Der Kampf um die Macht, den der Adel weiterhin unter sich führte, fand nun nicht mehr auf blutigem, sondern auf politischem Wege statt, mit dem Wort. Hier liegt der Grundstein der Rhetorik und unseres Politikverständnisses. Die Adeligen benutzten also die kleisthenische Ordnung als Werkzeug, um ihre Ziele zu erreichen, bis ihnen diese Verfassung die Machtgrundlage entzog. Die adeligen Machtkämpfe fanden also weiterhin statt, aber auf einer Bühne vor dem Volk, d.h. vor der Volksversammlung bzw. vor den Gerichten. Damit stieg das Selbstbewusstsein des Volkes, es fühlte sich nun als Souverän, der es ja auch war. Entscheidend ist, dass Athen das erste und einzige Staatswesen ist, das die wirtschaftliche und soziale Macht seiner Eliten von der politischen Macht abkoppelt. Die Adeligen wurden nicht enteignet, sie blieben kulturell und bildungsmäßig führend, aber sie haben schon bald nicht mehr politischen Einfluss als der normale Bürger. Aufgrund ihrer Bildung und ihres Vermögens eignen sie sich die Rhetorik an, sie ergreifen in Rat, Volksversammlung und in den Gerichten öfter das Wort, sie versuchen die Massen in ihrem Sinne zu beeinflussen, aber im Endeffekt entscheidet immer das Volk und eben nicht mehr eine kleine Elite.
Erstaunlicherweise hatte diese künstliche Ordnung, die sozusagen auf dem Reißbrett entstanden war, Bestand. Auch das Militär war nach den zehn Phylen gegliedert. Die Bewährungsprobe kam bald in den Perserkriegen. Die neue Phylenstruktur bewährte sich glänzend, und so bedurfte es keiner weiteren Reformen, um die neue Ordnung ganz anzunehmen, ja zu verinnerlichen.
Athens Außenpolitik ist nach der Schlacht von Salamis von vielfältigen Aktivitäten geprägt. Der Mann der Stunde ist nun der Aristokrat Kimon, der die Politik seiner Heimatstadt nun für zwei Jahrzehnte prägt, nicht etwa Themistokles, der Sieger von Salamis. Durch die Abwehr der Perser gewinnt Athen die Oberhoheit in der Ägäis. Um diese effektiv zu strukturieren, gründen die Athener 478/77 auf Delos den Delisch-Attischen Seebund mit antipersischer Stoßrichtung. Die Bündner, meist kleine Inselpoleis, suchen Schutz vor Persien und stellen Athens Dominanz nicht in Frage. Sparta überlässt Athen die Ägäis aufgrund des Mangels an eigenen maritimen Ressourcen. In den folgenden Jahren geht es Athen vorrangig um die Sicherung der Getreidezufuhr aus dem Schwarzmeergebiet und damit um die Kontrolle des Hellesponts und Thrakiens. Daneben versucht Athen immer wieder, nach Mittelgriechenland vorzudringen, um eine Pufferzone gegenüber dem Peloponnesischen Bund aufzubauen. Ich kann hier nur auf die wichtigsten Ereignisse zwischen 480, der Schlacht von Salamis, und 431, dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges eingehen. Es gibt weiterhin Konflikte mit Persien und auch bereits Scharmützel mit Sparta, so dass weder die Perserkriege eigentlich beendet sind, noch das Jahr 431 als Epochengrenze benutzt werden kann. Nun zu den bedeutsamsten Ereignissen: 475 überführt Kimon die Gebeine des Theseus von Skyros nach Athen, wo ein Theseion gebaut wird. Theseus galt als Stammesheros der Athener und Ionier. Das Theseion enthielt eine Darstellung der Amazonomachie und der Kentauromachie. Schon hier werden also die Perserkriege mythologisch gerahmt und überhöht und als Abwehr des Barbarentums generell stilisiert. 466-463 erhebt sich Thasos gegen Athen, Kimon kann den Aufstand niederschlagen.
464 ereignet sich ein furchtbares Erdbeben in Sparta, woraufhin ein Helotenaufstand losbricht. Die Spartaner fühlen sich so bedroht, dass sie 462 Athen um Hilfe ersuchen. Kimon, der noch in alter Aristokratenmanier denkt, kann sich gegen Ephialtes durchsetzen und führt selbst die athenische Hoplitenexpedition zur Unterstützung Spartas an. Während Kimons Abwesenheit kommt es auf Initiative des Ephialtes zu einem weiteren Demokratisierungsschub in Athen: Dem Areopag werden weitgehende Kompetenzen entzogen. Da die Spartaner die athenische Interventionstruppe auf der Peloponnes mit Misstrauen beobachteten, ja sogar befürchteten, die Athener könnten mit den Heloten gemeinsame Sache machen, schickten die Spartaner die Athener ohne Angabe von Gründen nach Hause. Kimon war damit düpiert und mit seiner aristokratisch gesinnten Sparta-Politik gescheitert.
459 verlegte der Delisch-Attische Seebund eine Flotte von 200 Schiffen von Zypern nach Ägypten, um dort einen Aufstand gegen die Perser zu unterstützen, eine fatale Entscheidung, denn Persien schlug den Aufstand nieder, die Flotte wurde vernichtet und Tausende verloren 454 das Leben. Diese athenische Niederlage markiert das Ende der griechischen Versuche, Persien zu attackieren. Athen hatte eindeutig seine Kräfte überspannt. Die Folgen dieser Katastrophe waren gravierend:
Die Bundeskasse des Seebundes wird von Delos auf die Akropolis in Athen verlagert, weil man nun auch mit persischen Angriffen in der Ägäis rechnen musste. Athen stellte erst einmal alle Offensivmaßnahmen ein, auch gegen Sparta. Viele Bündner fielen in dieser Situation von Athen ab, andere aber traten in den Seebund ein, d.h. die Verhältnisse in der Ägäis destabilisierten sich. Insgesamt aber organisierte Athen sein System besser und konsolidierte den Seebund nach der Katastrophe in Ägypten. Ab 454 kennen wir auch Tributquotenlisten der Symmachoi.
449/48 kommt es zum sogenannten Kallias-Frieden zwischen Athen und Persien, der in seiner Historizität umstritten ist. Diodor überliefert die Bedingungen: Die griechischen Poleis in Kleinasien bleiben autonom. Persische Truppen müssen drei Tagesmärsche Abstand halten. Persische Kriegsschiffe dürfen im Süden nicht über die Chelidonischen Inseln hinaus nach Westen fahren. Im Norden markiert der Eingang zum Bosporus eine entsprechende Demarkationslinie. Die Athener ihrerseits dürfen kein persisches Gebiet angreifen. Was auch immer vereinbart wurde, es muss wohl zumindest ein informelles Abkommen gegeben haben, denn in den Folgejahren sind keine Kampfhandlungen zwischen Athen und Persien belegt. Man kann also durchaus sagen, dass die Perserkriege erst 449/48 enden. 447 versuchte Athen, das westliche Böotien zu kontrollieren, scheiterte aber und verlor Böotien ganz in der Niederlage von Koroneia gegen Sparta.
Der Krieg zwischen Athen und Sparta wurde 446 mit einem dreißigjährigen Frieden beendet. Athen musste auf Mittelgriechenland verzichten, doch alles war vage formuliert und bot Interpretationsspielraum. Bei Streitigkeiten, mit denen man offenbar rechnete, sollte es zu keiner Kriegserklärung kommen, wenn eine Seite ein Schiedsverfahren vorschlagen sollte. Man wollte also der Diplomatie eine Chance geben, beide Seiten waren daran interessiert, den status quo beizubehalten. Obwohl Athen ab 443 Verwaltungsreformen im Seebund einleitet, um die Effizienz zu steigern, Distrikte anlegt, die phoroi-Zahlungen anhebt und neu regelt sowie das Zahlungssystem im ganzen Seebundgebiet auf attische Münzen, Maße und Gewichte umstellt, kann man von einer imperialistischen Herrschaftsweise erst ab den 420ern sprechen, also ab dem Peloponnesischen Krieg. Erst 413, also in Folge des Scheiterns der Sizilischen Expedition, brach die athenische Seeherrschaft zusammen. Perser und Spartaner stießen in das Machtvakuum in der Ägäis vor, bevor Athen dann einen zweiten Seebund im 4. Jh. aufbauen konnte, der dann aber unter ganz anderen politischen Vorzeichen und Rahmenbedingungen stand.