01 – Alexander der Große

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Griechische Geschichte III: Der Hellenismus

01 – Alexander der Große

Alexander der Große war schon in der Antike eine hochumstrittene Figur und ist es noch heute in der Forschung. Im Folgenden möchte ich nur kurz auf die Ereignisgeschichte eingehen. Stattdessen rücke ich zwei Fragenkomplexe in den Mittelpunkt der heutigen Betrachtungen, die uns eine Annäherung an diese enigmatische Figur erleichtern sollen. Zum einen betrifft dies die alte Frage, ab welchem Zeitpunkt Alexander die Weltherrschaft ins Auge gefasst hat. Hier werde ich zwischen Maximalisten und Minimalisten einen vermittelnden Standpunkt einnehmen.
Die zweite Frage wurde in den letzten Jahren von Hans-Joachim Gehrke angestoßen, der Alexanders Handlungen aus einer ritualtheoretischen Perspektive deutet, ein sehr fruchtbarer Ansatz, wie ich meine. Innerhalb dieses Problemkreises weist Gehrke zu Recht auf die Neigung Alexanders hin, immer wieder Grenzen zu überschreiten. Die Sehnsucht (griechisch: pothos) nach überragenden, ja übermenschlichen Leistungen bestimmte in ganz essentieller Weise Alexanders Denken und Handeln. Diesen Gedankengang möchte ich hier ein wenig weiterverfolgen.
Die Grundlagen für Alexanders Erfolg hat sein Vater Philipp II. von Makedonien gelegt. Philipp hinterließ Alexander ein relativ stabiles Makedonien mit einer für damalige Verhältnisse modernen Infrastruktur. Philipp konnte den makedonischen Adel domestizieren, äußere Feinde dauerhaft abwehren, die Armee reformieren und bedeutende Territorialgewinne erzielen. Als Lehrer und Erzieher für seinen Sohn Alexander holte er den Philosophen Aristoteles an seinen Hof, mit dem Alexander v.a. die Ilias, die drei großen attischen Tragiker, Herodot und Pindar las, Bildungsanregungen, die für den jungen Alexander prägend werden sollten. Von Aristoteles stammt auch Alexanders Interesse an Geographie und Botanik, Wissensgebiete, die Alexander während seines Zuges nach Osten von mitgeführten Wissenschaftlern erweitern ließ.
Alexander trat erstmals in der Schlacht von Chaironeia (338), damals war er erst 18 Jahre alt, aus dem Schatten seines Vaters heraus. Als Befehlshaber der Reiterei rieb er die Elitetruppe der Thebaner, die Heilige Schaar der Dreihundert auf. Nach Gründung des Korinthischen Bundes durch Philipp gab dieser die neue Stoßrichtung für eine aggressive Außenpolitik vor, nämlich die Invasion Persiens, ein Vorhaben, das auch dazu dienen sollte, die Griechen nach Innen zu vereinen. Kurz vor dem Übersetzen nach Kleinasien wurde Philipp bei einer Hochzeitsfeier 336 v. Chr. in aller Öffentlichkeit ermordet. Die Drahtzieher des Attentates sind bis heute nicht bekannt, Philipp hatte viele Feinde und musste um sein Lebens stets fürchten, doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass Alexander und seine Mutter Olympias handfeste Motive hatten, um Philipp zu beseitigen. Philipp hatte kurz vorher eine Makedonin geheiratet, eine Tochter des Attalos, während Olympias Epirotin war. Ein Sohn aus dieser neuen Ehe hätte Alexanders Herrschaftsanspruch untergraben können. Noch wichtiger scheint mir aber, dass Alexander den geplanten Feldzug nach Asien selbst leiten wollte, von Anfang an, und nicht weiter gewillt war, im Schatten seines Vaters zu stehen. Ich behaupte hier nicht, dass Alexander und seine Mutter hinter dem Attentat standen, doch spielte der Tod Phillips Alexander zu einem sehr günstigen Zeitpunkt in die Hände.
Alexander eröffnet 334 v. Chr. den Feldzug mit einer hochsymbolischen Handlung: Bevor er als erster vom Schiff ans Land springt, schleudert er seinen Speer an die Küste Kleinasiens und markiert so das Land von vornherein als speererworben. Damit erhebt er einen Besitzanspruch. Die Kriegsziele sind zu diesem Zeitpunkt für uns noch völlig unklar. Die persische Armee erwartet Alexander schon am Fluss Granikos, östlich der Troas. Die Perser wählen den Ort günstig, dort wo sich ihre Reiterei am besten entfalten kann. Trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit erringt Alexander hier in einer Reiterschlacht einen ersten fulminanten Sieg. Durch sein unstrategisches, ja hochriskantes Verhalten (er griff sofort den stärksten Punkt der Gegner persönlich an) hatte er sein Leben gefährdet, aber gerade dadurch enormen Ruhm erworben. Alexander verkündet nun die Freiheit der Griechenstädte an der kleinasiatischen Küste, die seit dem Königsfrieden 386 v. Chr. fest in das Perserreich integriert waren. Alexander marschiert weiter nach Osten, überquert den Taurus und will sich die südkilikischen Hafenstädte sichern. Der Großkönig Dareios muss Alexander nun persönlich entgegentreten. Er massiert seine Truppen in günstigem Gelände, bei Issos, das bis heute nicht sicher identifiziert ist.
Wieder attackiert Alexander sofort das Zentrum, den gut abgeschirmten Dareios. Dieser ist von dieser Aktion so geschockt, dass er in Panik gerät und flieht. Damit war nun auch diese Schlacht für Alexander gewonnen, eine ungeheure Schmach für den Großkönig, der Feigheit zeigte und noch dazu infolge der Schlacht seinen ganzen Tross inklusive seines Harems verlor (bei Damaskus), in dem sich auch seine Hauptfrau befand. Alle phönizischen Küstenstädte öffnen Alexander die Tore bis auf Tyros und Gaza, die von ihm erobert und grausam bestraft werden. Anstatt nun weiter nach Osten zu ziehen und dem Großkönig auf den Fersen zu bleiben, geht Alexander nach Ägypten. Er gründet dort Alexandria, das als Handelszentrum Tyros ersetzen sollte, und zieht, auch aus Gründen der Religiosität, zum hoch angesehenen Orakelheiligtum von Siwa, wo ihn die Priester als Pharao und als Sohn des Sonnengottes Amun Re begrüßen. Da die Griechen Amun Re mit Zeus gleichsetzten, rückte Alexander nun also in göttliche Sphären auf und konnte als Sohn des Zeus verstanden werden, was durch Alexanders fiktive Abstammung von Herakles (über die Familie der Argeaden) ohnehin schon angedeutet war.
Doch schließlich muss sich Alexander Dareios im Osten stellen, der seine Rüstungsanstrengungen noch verstärkt hatte. Bei Gaugamela nun setzte der Großkönig die berühmten Sichelwagen und Kriegselefanten ein. Dareios bereitete das Gelände sogar mit Annäherungshindernissen vor, doch Alexander eröffnete die Schlacht am 1.10.331. Weil er zahlenmäßig nun weit unterlegen war, wählte er wieder die gleiche Strategie wie bei Issos, nämlich den Großkönig sofort und direkt anzugreifen. Wieder floh Dareios, Alexander konnte ihn nicht verfolgen, weil Parmenion mit seinen thessalischen Reitern erheblich unter Druck geraten war und Alexander ihm zu Hilfe eilen musste. Das Ergebnis von Issos war eindrücklich bestätigt worden. Noch auf dem Schlachtfeld wurde Alexander zum König von Asien ausgerufen.
Alexander legt Wert darauf, diesen Sieg als einen panhellenischen zu verkaufen, doch damit reibt sich sein Verhalten, das mehr und mehr die Züge eines persischen Großkönigs annahm. Und hier stellten sich die makedonischen Truppen schon die Frage, warum sie gegen den Großkönig kämpfen mussten, nur um wieder einem neuen Großkönig untertan zu sein. Diese Spannungen im Heer, die Alexander durch sein orientalisierendes Verhalten auslöste, gipfelten schließlich in der Auseinandersetzung um die Proskynese, den Kniefall, den Alexander verlangen wollte, den er aber nicht durchsetzen konnte, sowie in mehreren Verschwörungen, auf die wir hier nicht eingehen können. Alexander entledigt sich der Widersacher, auch enger Freunde, mit äußerster Brutalität und erstickt somit jede Kritik an seinen Herrschaftsformen schon im Keim.
Nach Gaugamela nimmt Alexander die großen Städte Babylon, Susa und Persepolis in Besitz. In Susa besteigt Alexander den Thron der Achaimeniden. In Persepolis lässt er den Großpalast von seinen Leuten plündern. Warum dieser Palast dann in Flammen aufging (330), lässt sich bis heute nicht schlüssig beantworten, vielleicht handelt es sich um Brandstiftung, die Alexander und seine Freunde in völliger Trunkenheit begingen. Ekbatana, die Sommerresidenz des Großkönigs, konnte dann friedlich eingenommen werden. Dareios hatte sich mit einigen Getreuen noch weiter nach Osten zurückgezogen. Er wird, als Alexander schon ganz nahe ist, von seinen eigenen Leuten umgebracht.
Alexander geriert sich nun als direkter Nachfolger, lässt Dareios mit allen Ehren bestatten und tötet die Mörder. Spätestens hier sehen wir nun, dass es Alexander um noch mehr als um die Eroberung des Perserreiches ging, denn die war ja spätestens mit dem Tod des Großkönigs abgeschlossen. Alexander wollte nun zu den Enden der damals bekannten Welt, zu den Grenzen der Oikumene. Unter größten Strapazen überwindet Alexander mit seinen Truppen 329 den Hindukusch. Ständige Kämpfe gegen Bergvölker, die einen Guerilla-Krieg führen, schwächen die Truppen Alexanders. Schließlich gelangt Alexander nach Indien, wo einige Radjas ihm sofort huldigen, andere nicht. Es kommt noch einmal zu einer großen Schlacht (326), gegen König Poros, die Alexander trotz großer eigener Verluste gewinnt. Am Fluss Hyphasis schließlich wollen Alexanders Soldaten nicht mehr weiter, sie meutern, zum ersten Mal. Alexander, dem großen Ziel vermeintlich zum Greifen nah, ist schockiert und tief verletzt, seine Soldaten hätten ihn nun, im entscheidenden Moment im Stich gelassen. Drei Tage zieht er sich schmollend in sein Feldherrnzelt zurück, bevor er den Rückzug befiehlt. Man baut ca. 2000 Schiffe und Kähne und segelt den Hydaspes, dann den Indus hinunter. An der Küste denkt Alexander, er hat den Okeanos, den Weltenrand doch noch erreicht. Um auf Nummer sicher zu gehen, fährt er aufs Meer hinaus, bis er kein Land mehr sieht. Dort opfert er Poseidon Stiere und goldene Gerätschaften, wie es das Orakel in Siwa vielleicht von ihm verlangt hatte. Man erkannte nun, dass der Indus leider doch nicht in den Nil mündete, daher wollte man sowohl die Küstenlinie als auch das Landesinnere erforschen. Zu diesem Zweck teilte Alexander das Heer. Die Flotte sollte an der Küste entlang nach Westen fahren, Alexander selbst suchte den Weg zurück durch die Gedrosische Wüste. Er wusste, was ihm bevorstehen würde, angeblich waren die babylonische Königin Semiramis und Kyros der Große an diesem Unternehmen gescheitert, also eine Herausforderung, gerade groß genug für Alexander, der mit dieser Entscheidung völlig bewusst tausende seiner Soldaten in den Tod trieb. Die meisten verdursteten oder wurden bei starken Regenfällen in den Wadis weggeschwemmt. Nach ca. 60 Tagen erreichte ein kläglicher Rest die Hauptstadt von Gedrosien. Als die Flotte in der Straße von Hormus war, konnte sie mit Alexander im Inland Kontakt aufnehmen. Flotte und Fußtruppen vereinigten sich schließlich in Susa, der Indienfeldzug war abgeschlossen. Alexander plant nun von Babylon aus einen großen Feldzug nach Arabien, um sein Reich nach Süden hin zu arrondieren. Kurz vor dem Aufbruch bekam Alexander hohes Fieber, wahrscheinlich Malaria. Rasch verschlechterte sich sein Zustand. Dem Leibwächter Perdikkas übergibt Alexander seinen Siegelring, ohne die Nachfolge wirklich zu klären. Nach drei Tagen Bewusstlosigkeit stirbt Alexander am 10. Juni 323 im Alter von 32 Jahren. Er hinterließ ein noch wenig gefestigtes Weltreich, das auch infrastrukturell nicht erschlossen war.
Doch es stellt sich die Frage, wann Alexander das Maximalziel der Welteroberung ins Auge fasste, ob es von Anfang an geplant war, so die Maximalisten Droysen, Tarn und Schachermeyer oder ob er nur von Erfolg zu Erfolg dachte und die Ziele immer höher schraubte, sich also das Konzept der Herrschaft über die Oikumene erst peu à peu herausbildete. Diesen Standpunkt nehmen die Minimalisten, wie etwa Hampl, Beloch oder Wilcken ein.
Meines Erachtens liegt der Dreh- und Angelpunkt dieser Frage in den Verhandlungen mit Dareios während der Belagerung von Tyros. Der Briefwechsel zwischen Alexander und dem Großkönig ist bei Arrian erhalten, wenn auch in seiner Historizität stark umstritten. Interessant ist die zweite Verhandlungsrunde, in der Dareios Alexander enorme Zugeständnisse machte, indem er ihm das Reich westlich des Euphrat inklusive Ägypten und seine Tochter zur Ehefrau anbot. Alexander lehnte auch dieses Angebot ab, spätestens jetzt ging es ihm ums Ganze. Ganz gleich, wie man die Glaubwürdigkeit Arrians und seiner Überlieferung einschätzen möchte, Verhandlungen zwischen Alexander und dem Großkönig werden irgendwann vor Gaugamela stattgefunden haben. Vielleicht war der Zug nach Ägypten ein retardierendes Moment, ein gewisses Zögern, sich nicht gleich nach Osten zu wenden. Vielleicht fiel die Entscheidung in der Oase Siwa, bestärkt durch ein günstiges Orakel, das Alexander möglicherweise die Weltherrschaft verhieß. Das ist natürlich reine Spekulation, aber nach dem Besuch der ägyptischen Orakelstätte weiß Alexander, was er zu tun hat und geht energisch nach Osten. Wenn also die Welteroberungspläne nicht von vornherein klar waren, so sind sie spätestens während des Besuches in der Oase Siwa gereift, mit oder ohne Verhandlungen mit dem Großkönig. Wenn dies zutrifft, so würde dem Amun Re-Heiligtum eine ganz besondere Rolle im Leben und Wirken Alexanders zukommen. Darauf könnte auch hindeuten, dass Alexander am Ende der damals bekannten Welt, im Indischen Ozean, Riten vollzog, die offenbar auf Siwa rekurrierten.
Das Weiterdenken eines zweiten Problemkreises, der Aspekt der bewussten Grenzüberschreitungen führt uns ebenfalls tiefer in die Mentalität und den egomanen Herrschaftsanspruch Alexanders hinein. Alexander liebt es, immer wieder Grenzen zu überschreiten, wenn möglich solche, die noch kein Mensch vorher überwunden hat und ihn daher in eine übermenschliche, göttliche Sphäre rücken. Alexander überschreitet als Jugendlicher die Donau, wirft den Speer nach Asien hinüber, durchquert die Kilikische Pforte, den Hindukusch sowie indische Flüsse. Er wagt sich zuletzt auf den Okeanos hinaus und zieht durch die Gedrosische Wüste zurück, um sich mit Semiramis und Kyros dem Großen zu messen. Dass dabei tausende seiner Männer ums Leben kommen, tut für ihn nichts zur Sache und unterstreicht nur seine Rücksichtslosigkeit in der bedingungslosen Verfolgung seiner Ziele.
Wer aber in der griechischen Mentalität Grenzen überschreitet, gerade auch von Gott gesetzte oder solche, die von sozialen Normen definiert waren, begeht Hybris, ein nicht sehr positiver Charakterzug. Hybris ist Arroganz, überzogenes Selbstbewusstsein im Übermaß, die andere Menschen erniedrigt, schädigt und damit zu Opfern macht. Der typische Hybristes für die Griechen ist der Tyrann. Sein Wort ist Gesetz, er nimmt sich alle Freiheit, seine Untertanen zu berauben, nach Belieben sexuelle Gewalt gegen Männer und Frauen zu üben, in Häuser einzudringen und damit Schwellen und Schranken zu überschreiten, in anderen Worten, Tabus zu brechen. Die Griechen, die unter Tyrannen zu leiden hatten, hassten diese und suchten sie zu töten. Tyrannenmord war gerechtfertigt. Auf der anderen Seite war der Begriff natürlich auch schillernd. Selbst konnte man sich gut vorstellen, ein Tyrann zu sein und absolut zu herrschen. Ein Tyrann wurde also gefürchtet, gehasst, aber auch beneidet. Und genau diese Gefühle konnte man auf Alexander projizieren. Man fürchtete, hasste und beneidete ihn. Von ihm ging alle Gewalt aus, er konnte töten und begnadigen, sein Wort war Gesetz. Aber Alexander wurde nicht nur ein Ober-Tyrann im rechtlichen und sozialen Sinne. Seine Hybris war viel umfassender. Er konkurrierte mit den Göttern selbst, sah sich über seine Mutter als Nachfahre des Achilles, über seinen Vater als Nachfahre des Herakles, nach Siwa sogar als Sohn des Zeus. Seine Hybris war also von den Göttern legalisiert, als Sohn des Zeus konnte man sich leisten, was sich Sterbliche eben nicht leisten konnten.
Alexander sah sich sicher nicht als Hybristes oder Tyrann im herkömmlichen Sinn, sondern als einen Menschen jenseits der menschlichen, in einer göttlichen Sphäre, für den menschliche Begrenzungen keine Bedeutung mehr hatten. Losgelöst von menschlichen Schranken gewinnt vor dem Hintergrund des Hybris-Begriffes und seiner Umdeutung durch Alexander der pothos-Begriff, also die Sehnsucht nach Leistung, die ihm von Aristoteles früh eingepflanzt wurde, eine ganz andere, viel grundlegendere Bedeutung.

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05 – Die athenische Demokratie

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Griechische Geschichte II: Die Klassik

05 – Die Athenische Demokratie

Wir wollen heute in aller Kürze die wichtigsten Verfassungsreinrichtungen der athenischen Demokratie besprechen, die Volksversammlung, die Volksgerichte, den Rat der Fünfhundert (die sogenannte Boule) und den Areopag. Die athenische Demokratie war keine repräsentative Demokratie. Alle Staatsgewalt ging direkt vom Volke aus, das sich regelmäßig zur Volksversammlung traf. Sie war der unumstrittene Souverän. Synonym zum Wort ekklesia, Volksversammlung, wird auch Demos, Volk, gebraucht. Die Teilnehmer an einer Sitzung der Volksversammlung verstehen sich also als Repräsentanten des gesamten Volkes. Es gibt ca. 40 Treffen pro Jahr, 6000 Bürger müssen anwesend sein, damit die Volksversammlung beschlussfähig ist. D.h. ca. alle zehn Tage trifft sich rund 1/5 der Bevölkerung, um Beschlüsse zu fassen, eine Partizipationsrate, die so in der Weltgeschichte nie mehr erreicht wurde. Zu Beginn der Demokratie traf man sich wohl auf der Agora, bald jedoch wird ein separater Versammlungsplatz, der Hügel Pnyx, ausgewiesen und im Laufe der Zeit umgebaut und erweitert. Es gibt drei Bauphasen. Bauphase I: 460-400, wo die Teilnehmer noch auf dem Boden sitzen, Pnyx II: 400-340 und schließlich Pnyx III ab 340. Entscheidend ist, dass aus für uns unbekannten Gründen die Blickrichtung von Pnyx I zu Pnyx II umgedreht wurde, was die Verschiebung von gewaltigen Erdmassen bedingte. Die Teilnehmer schauen jetzt von Norden nach Süden, hinaus aufs Meer.
In der dritten Bauphase, wahrscheinlich der lykurgischen Ära, wird die Fläche bedeutend vergrößert und auch monumentalisiert, so dass von einem Abflauen des Interesses an der Demokratie im 4. Jh. keine Rede sein kann. Zugelassen war jeder männlicher Bürger, der im Alter von 20 Jahren seinen Ephebendienst abgeschlossen hatte. Frauen, Metöken, Sklaven und atimoi, Ehrlose, waren ausgeschlossen, Ausländer durften jedoch als Gäste zuhören. Die Prytanen, also die Vertreter der diensthabenden Phyle, beriefen die Sitzungen ein und machten vorher die Tagesordnungspunkte schriftlich am Monument der Phylenheroen auf der Agora bekannt. Die Sitzungen begannen im Morgengrauen und konnten bis abends dauern. Doch oft war man schon um die Mittagszeit fertig, weil viele Routineangelegenheiten rasch erledigt werden konnten. Mogens Hansen konnte zeigen, dass es Ähnlichkeiten zwischen Sitzungen der athenischen Volksversammlung und denen mancher schweizerischer Landsgemeinden gibt. Ab dem 4. Jh. erlässt die Volksversammlung keine Gesetze mehr (nomoi), das ist nun Aufgabe der Nomotheten, sondern fällt nur noch Beschlüsse oder Dekrete, sogenannte psephismata. Diese Beschlüsse werden im Rat der 500 vorbereitet. Es gibt dabei offene und konkrete Vorbeschlüsse (probouleumata). Die offenen werden zur Diskussion gestellt, über die konkreten konnte in der Volksversammlung sofort abgestimmt werden.
Im 4. Jh. schränkt die Volksversammlung ihre Rechte selbst ein, um weniger Fehler durch tagesbedingte Emotionen zu machen. Allerdings behält die Volksversammlung immer das Heft in der Hand und kann als Souverän Dinge sofort wieder an sich ziehen, so dass auch die Einschränkungen der Kompetenzen der Volksversammlung ihrerseits wieder eingeschränkt sind. Im 5. Jh. leitete der Vorsitzende der Prytanen, also der Vorsitzende der diensthabenden Phyle, auch die Sitzungen der Volksversammlung. Diese Personalunion hat man im 4. Jh. unterbunden. Die neun nicht diensthabenden Phylen stellen neun Prohedroi; ihr Vorsitzender übernimmt nun den Vorsitz in der Volksversammlungssitzung. Die Leitung der Volksversammlung ist nun also von der Leitung der Prytanie getrennt. Ziel war es wohl, Bestechungen weiter unmöglich zu machen, was auf großes Misstrauen gegeneinander schließen lässt. Die Trennung von Dekreten und Gesetzen haben wir schon angesprochen. Aber die Volksversammlung entscheidet immer noch, wann die Nomotheten aktiv werden sollen. Die Initiative der Gesetzgebung liegt also nach wie vor bei der Volksversammlung. Die Dekrete müssen ferner den Gesetzen entsprechen. Die Gesetze, die nomoi, sind auch höherrangig als Dekrete, doch die Außenpolitik, das Hauptbetätigungsfeld der Volksversammlung, wird über Dekrete gesteuert. Die Verteilung staatlicher Gelder erfolgt über einen gesetzlich festgelegten Verteilungsschlüssel, den merismos, aber die Volksversammlung kann jederzeit zusätzliche Steuern beschließen und per Dekret den merismos ändern.
Um 355 verliert die Volksversammlung alle jurisdiktionellen Kompetenzen, d.h. die gesamte Rechtsprechung, auch die politische, findet nun in den Volksgerichten statt. Alles muss weiterhin vom Rat vorbereitet werden, aber die Volksversammlung kann den Rat jederzeit beauftragen, eine Angelegenheit auf die Tagesordnung zu setzten, also auch hier behält die Volksversammlung das Initiativrecht. Gegen jedes Dekret der Volksversammlung konnte per graphe paranomon vor dem Volksgericht vorgegangen werden, aber da die Volksversammlung mehr als 400 Dekrete pro Jahr verabschiedet, gingen die meisten Dekrete wohl glatt durch. Wir sehen also, dass die Abgabe von Kompetenzen selbst also wieder eingeschränkt war und somit die Volksversammlung der Souverän blieb.
Das Volksgericht, das wichtigste Organ neben der Volksversammlung, besteht aus mehreren Geschworenenhöfen, dikasteria genannt. Obwohl es weder Berufsjuristen noch professionelle Ankläger, Verteidiger und Richter gab, standen die Gerichte in größtem Ansehen, weil die Geschworenenrichter über dreißig Jahre alt und vereidigt waren. Die Abstimmung erfolgte über Stimmsteine, war also verlässlicher als die Schätzung der Handzeichen in der Volksversammlung; außerdem stand mehr Zeit zur Verfügung als in der Volksversammlung. Neben der Anhörung von Streitfällen, Tötung kam vor den Areopag bzw. die Epheten, bestand die Hauptaufgabe der Volksgerichte in der Kontrolle der Volksversammlung, der Kontrolle der Magistrate und in der Urteilsfällung in politischen Prozessen.
Alle Geschworenengerichte umfassten mehrere hundert Personen, die Leitung lag bei den Thesmotheten, es gab keinen staatlichen Ankläger, jeder musste persönlich auftreten. Voraussetzung um Richter zu werden, war, dass man über dreißig Jahre alt, aus 6000 Bürgern vorgelost war und dass man den Heliasteneid abgelegt hatte. Dann wurden, zumindest im 4. Jh., in einem komplizierten Verfahren mit Hilfe einer Losmaschine (kleroterion) die Richter den einzelnen Gerichtshöfen zugewiesen, somit war Bestechung quasi unmöglich. Die Gerichte tagten öfter als die Volksversammlung und dann den ganzen Tag. Man unterschied Privatprozesse (dikai idiai) von öffentlichen Verfolgungen (dikai demosiai oder auch graphai genannt), also von Übergriffen, die, auch wenn sie sich auf eine Privatperson bezogen, als öffentliche Angelegenheit betrachtet werden konnten. Bei dikai konnte nur die verletzte Person klagen, bei graphai jedermann. Eine graphe bedingte auch mehr Richter, ein ganzer Tag stand zur Verfügung, während pro Tag immer mehrere dikai behandelt und abgeschlossen wurden. Die Abstimmung erfolgte immer mit Stimmsteinen, es gab keine Diskussion vor der Urteilsfindung unter den Geschworenenrichtern.
Am athenischen Recht fällt v.a. seine prozedurale Vielfalt auf. Beispielsweise konnte ein bestochener Magistrat auf sieben verschiedene Arten zur Rechenschaft gezogen werden. Die Wahl des Verfahrens vermittelte bereits wichtige symbolische Botschaften an die versammelten Richter und die Öffentlichkeit.
Die Volksgerichte spielen auch eine wichtige politische Rolle. In der graphe paranomon konnte jedermann gegen den Antragsteller eines Dekretes klagen. Die eisangelia ging gegen Verrat und Bestechung vor, meist gegen Strategen. Vor Beginn ihrer Amtszeit mussten sich Magistrate einer kleinen, zur reinen Formsache erstarrten Eignungsprüfung unterziehen, der dokimasia. Am Ende ihrer Amtszeit mussten alle Magistrate vor dem Volksgericht einen Rechenschaftsbericht vorlegen, die euthynai. Mit diesen Kompetenzen fungiert das Volksgericht also auch gewissermaßen als Verfassungsgericht.
Der Rat der Fünfhundert, die sogenannte Boule, basiert auf den 10 Phylen. Jeder der 139 Demen, Dörfer, entsendet Mitglieder in diesen Rat. Er repräsentiert Athen nach außen, empfängt ausländische Gesandte und hat die Finanzaufsicht. Er kontrolliert auch, ähnlich wie das Volksgericht, die anderen Magistrate. Die Boule bereitet die Sitzungen der Volksversammlung mit offenen und konkreten probouleumata vor und führt ihre Beschlüsse aus. Die Boule kontrolliert desweiteren die Heiligtümer, richtet religiöse Feiern aus, inspiziert die öffentlichen Gebäude, die Mauern und den Piräus, ist verantwortlich für die Marine, die Werften, den Bau neuer Schiffe sowie die Ausrüstung von Flotten. Sie hat die Oberaufsicht über die Reiterei, verwaltet die öffentlichen Gelder und gestaltet die Außenpolitik. Um diese Aufgabenfülle zu bewältigen, setzt der Rat auch Ausschüsse ein. In begrenztem Umfang beteiligt sich der Rat auch an der Rechtsprechung.
Der Areopag ist schließlich das älteste und angesehenste Organ der athenischen Verfassung. Im 6. Jh. war er wohl die wichtigste politische Institution, bis seine Kompetenz durch die Reform des Ephialtes 462 auf Tötungsdelikte beschränkt wurde, sofern die getöteten Opfer athenische Bürger waren. Der Name leitet sich vom Areopagos her, einem kleinen Hügel ganz in der Nähe der Agora. Erstaunlicherweise wurden die Rechte des Areopag im 4. Jh. dann wieder erweitert. Er galt als Garant einer gemäßigten Demokratie, die wieder nach der imaginären patrios politeia Solons streben solle. Die Mitglieder des vornehmen Rates waren ehemalige Archonten, die auf Lebenszeit im Areopag dienten, meist ca. 150 Personen aus wohlhabenden Kreisen. Sie durften parallel auch andere Ämter innehaben. Da sie über dreißig Jahre alt sein mussten und durch die Bekleidung des Archontats erhebliche politische Erfahrung aufwiesen, galten sie als weise, und der Areopag daher als bester und oberster Gerichtshof. Ab 403 war der Areopag nun auch für die Aufsicht über die Gesetze, die Magistrate und das Verhalten der Bürger zuständig. Ab 352 war er gemeinsam mit der Boule für die Überwachung der Heiligtümer verantwortlich.
Um 340 oder 348 brachte Demosthenes ein Dekret durch, das es dem Areopag ermöglichte, jeden Bürger für jedes Fehlverhalten abzuurteilen, also ein umfassendes Aburteilungsrecht, was sicher auch Ausdruck der großen Krise vor der Schlacht von Chaironeia war.

Wie lässt sich die athenische Demokratie insgesamt in wenigen Stichworten charakterisieren? Es war eine direkte, keine repräsentative Demokratie. Aufgrund der Volksversammlung als Souverän kann man auch von Versammlungsdemokratie sprechen. Die Athener kennen keine politischen Parteien. Mittel der Politik ist die Überredung, peitho, die mit rhetorischen Mitteln erreicht wird.
Man vertraut dem mündigen Bürger, der sich freiwillig beteiligt. Durch ein hoch kompliziertes Geflecht von checks and balances prozeduraler Art versucht man, Demagogie, Massenhysterie, zu große Emotionalität und Spontaneität einzuschränken, was im 4. Jahrhundert aufgrund der schlimmen Erfahrungen des 5. Jahrunderts im Wesentlichen recht gut gelang. Politik übte man immer nebenberuflich aus, die Athener lehnten Professionalisierung grundsätzlich ab. Politiker unterlagen permanenten Kontrollen ihrer Amtsführung. Der Grad an Öffentlichkeit und Partizipation war so hoch, dass er nie mehr in der Weltgeschichte erreicht wurde. Das Rotationsprinzip bei der Bekleidung politischer Ämter bedingte, dass jeder vierte Erwachsene einmal in seinem Leben „Präsident“ von Athen war, wenn auch nur für einen Tag. Die Bürger wurden zur Partizipation motiviert durch Diätenzahlungen, aber auch durch Ehrungen.
Diese Grobeinschätzung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass große Gruppen der Bevölkerung von dieser politische Teilhabe ausgeschlossen waren, nämlich Frauen, Metöken und Sklaven. Ihre Teilhabe lag jenseits des Denkhorizonts der Zeit. Manche Forscher vermuten, dass nur die Sklaven es den athenischen Bürgern ermöglichten, so viel Zeit für die Politik aufzubringen.
Trotz dieser gravierenden Defizite müssen wir uns heute, gerade auch in unseren Debatten über Demokratie und über den Grad der Bürgerbeteiligung, mit der ersten Demokratie der Weltgeschichte intensiv auseinandersetzen.

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04 – Der Peloponnesische Krieg

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Griechische Geschichte II: Die Klassik

04 – Der Peloponnesische Krieg

Am athenisch-spartanischen Dualismus entzündete sich schließlich ein Flächenbrand, der fast die ganze griechische Welt, ja sogar das persische Kleinasien erfassen sollte und der als Peloponnesischer Krieg in die Geschichte eingegangen ist. Wir lassen ihn traditionell 431 v. Chr. beginnen und 404 enden. Den Zeitgenossen waren diese Zäsuren nicht bewusst, denn es gab sowohl vorher als auch nachher kriegerische Auseinandersetzungen mit Sparta. Die Bezeichnung geht wohl auf athenische Autoren des 4. Jahrhunderts zurück; der Begriff rührt von athenischer Perspektive her. Der Krieg gliedert sich in drei sehr distinkte Phasen:
Die erste Phase ist der Archidamische Krieg, der 421 mit dem Nikias Frieden abgeschlossen wurde. Benannt ist er nach dem spartanischen General Archidamos, der fast jedes Jahr in Attika einfiel.
Die zweite Phase umschreibt die Sizilische Expedition, die als verheerende Niederlage für die Athener gewissermaßen den Wendepunkt im Krieg markiert.
Die dritte und letzte Phase ist dann der sogenannte Dekeleische Krieg von 413-404. Diese Schlussphase ist geprägt von der Intervention Persiens und dem Aufstieg Spartas zur Seemacht. Dekeleia ist eine Festung im Norden Attikas, die die Spartaner besetzt hielten und von der aus sie immer wieder Einfälle nach Attika machten. Unser Gewährsmann für den Peloponnesischen Krieg ist Thukydides, mit dem gemeinhin die kritische Geschichtsschreibung beginnt. Thukydides schreibt aus persönlicher Betroffenheit heraus und mit größtem Ernst. Seine Darstellung gehört zu den pessimistischsten Werken der Weltliteratur. Thukydides analysiert alle Parameter des Krieges in paradigmatischer Weise, wie etwa Bürgerkrieg, Massenpsychosen, den Verlust aller Hemmschwellen, so dass seine Darstellung zu einem Besitz für immer werden soll, wie er selbst schreibt. Der Peloponnesische Krieg ist nicht nur wichtig, weil dies der antike Krieg ist, den wir durch Thukydides am besten kennen, sondern auch weil er eine tiefe Zäsur in der griechischen Geschichte darstellt. Die Kriegsparteien waren in Folge dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzungen so erschöpft, dass das stets labile Kräftegefüge der griechischen Poleis im 4. Jahrhundert noch instabiler wurde, was letztlich Makedonien begünstigte. Ohne den Peloponnesischen Krieg hätte es also wahrscheinlich auch keinen Alexander und keinen Hellenismus gegeben. Herausragende Passagen im Werk des Thukydides, die zur Weltliteratur gehören, sind z. B. die Beschreibung der Pest in Athen 430 (2,47ff.) und der Bürgerkrieg auf Korkyra 427 (3,70-83). Thukydides unterscheidet ganz klar die äußerlichen Anlässe und die vorgeschobenen Beweggründe von den tieferliegenden, eigentlichen Ursachen, nämlich das zunehmende Misstrauen Spartas gegenüber der Hegemonialmacht Athen.
Zur unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges gehört der Konflikt zwischen Korinth und Korkyra sowie zwischen Athen und Poteidaia. In diesem Rahmen kann hier nicht genauer auf diese Konflikte eingegangen werden, wichtig ist jedoch, dass Korinth hier zweimal von den Athenern ausgestochen wurde. Viel diskutiert wurde in der Forschung auch das megarische Psephisma, also die Handelsblockade Athens gegen die Nachbarstadt Megara und die Rolle, die Perikles dabei spielte. Das Handelsembargo schließt Megara vom Piräus, von der Agora und von den Häfen des Seebunds aus. Das war zwar keine Hungerblockade, aber doch eine empfindliche Schädigung des Handels, auf den Megara angewiesen war. Letzten Endes ist die Frage unlösbar, inwieweit Perikles mit dem megarischen Psephisma den Kriegsausbruch provozierte, indem es Sparta direkt auf den Plan rief. Bis zuletzt gab es noch Verhandlungen, doch es ging nur noch darum, dem Gegner, propagandistisch wirksam, die Schuld am Kriegsausbruch zuzuweisen.
Als erste Kampfhandlung überfällt Theben Plataiai, ein offener Bruch des alten Friedensvertrages und eine Aktion, die so wohl gar nicht mit Sparta abgesprochen war. Eine Schuldzuweisung ist unmöglich; alle Akteure hatten mehrmals die Chance, deeskalierend zu wirken, agierten aber stattdessen aggressiv. Auf beiden Seiten gab es Kriegsbefürworter und Kriegsgegner, aber die Kriegstreiber setzten sich auf beiden Seiten durch mit ihren dauernden Hinweisen auf, modern gesprochen, die Symbolik der Macht und den Gesichtsverlust, den Nachgiebigkeit bedeutet hätte. Das symbolische Kapital, das man bei Entspannungspolitik zu verlieren glaubte, wog schwer und zog schließlich beide Parteien in den großen Krieg hinein.
Beide Kriegsparteien versuchten, ihre jeweiligen Stärken auszuspielen. Archidamos verwüstete Jahr für Jahr Attika, Perikles vermied die offene Feldschlacht gegen die Spartaner ganz bewusst, weil hier die athenischen Hopliten unterlegen gewesen wären. Stattdessen zog sich die Landbevölkerung hinter die Langen Mauern Athens zurück und musste von dort aus mitansehen, wie ihre Höfe in Flammen aufgingen. Die Athener kreuzen mit ihrer Flotte vor der Peloponnes und verwüsten Küstenstriche. Diese Strategie des Perikles verschonte die Athener vor größeren Verlusten, brachte aber für Athen keinen Durchbruch. Aufgrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse hinter den Langen Mauern brach sehr bald die Pest aus, der auch Perikles selbst 429 zum Opfer fiel. Die medizinisch exakte Pestbeschreibung des Thukydides gehört zur Weltliteratur. Die medizinhistorische Forschung konnte bis heute nicht ergründen, um welche Krankheit es sich genau handelte. Offenbar sind die Erreger ausgestorben. Viel wichtiger ist jedoch, was Thukydides mit dieser Schilderung bezwecken will: Die Pest ist letzten Endes eine Metapher für den Verfall jeglicher sozialer und moralischer Ordnung und damit zugleich auch eine Metapher für die Vorgänge in einem Krieg generell. Die um sich greifende, ja ansteckende Brutalität und Verrohung in menschlichen Ausnahme- und Extremsituationen, wie sie vielleicht nur im Krieg vorkommen, konnte im Bild der Pest auf eine höhere, allgemeingültigere Ebene gehoben werden. Der Krieg war eine schwere Krankheit, die eines Arztes bedurfte, der aber nicht da war. Bedeutsam ist, dass Thukydides die Pestbeschreibung unmittelbar auf den Epitaphios Logos folgen lässt, Perikles‘ Gefallenenrede auf die Kriegstoten des ersten Kriegsjahres, auch dies ein Gipfelpunkt der Weltliteratur. Die Gefallenenrede ist eine Idealisierung, man könnte auch sagen, ein glänzendes Propagandastück für das perikleische Athen des 5. Jahrhunderts, das Thukydides untergehen sah. Geschrieben wohl 404, beschwört Thukydides noch einmal den Glanz Athens aus der Retrospektive. Gleich danach lässt er die Pestbeschreibung folgen, als wolle er ausdrücken, dass idealisierende Propaganda von der grausamen Realität immer eingeholt werde.
424 gelang den Athenern ein großer Coup, die Gefangensetzung vieler spartanischer Hopliten auf Sphakteria bei Pylos, die von nun an Athens Geiseln waren. Bald kam es auch zu Stellvertreterkriegen in vielen griechischen Poleis, also zu Bürgerkriegen zwischen demokratisch Gesinnten, die bei Athen bleiben bzw. in den athenischen Machtblock hinein wollen, und oligarchisch Gesinnten, die im Peloponnesischen Bund bleiben bzw. aus dem Delisch-Attischen Seebund austreten wollen. Selbstverständlich überlagern sich hier politische und soziale Konflikte in den jeweiligen Poleis. Die schlimmste Auseinandersetzung dieser Art fand auf Korkyra statt (427-425), wo sich die Bevölkerung im Richtungsstreit gegenseitig geradezu zerfleischte. Mehrmals gewann eine Seite die Oberhand. Die schlimmsten Greueltaten wurden immer dann verübt, wenn eine der beiden Großmächte mit einer Flotte vor Ort war, so dass eine Seite massiv unterstützt werden konnte. Schließlich setzten sich die Demokraten durch, die Oligarchen wurden alle niedergemetzelt. Thukydides schreibt hier seine sogenannte Pathologie des Krieges (3,69-84); Korkyra steht so exemplarisch für die Geschehnisse in Bürgerkriegen, quer durch alle Epochen und Kulturen. Bei den staseis und den Kampfhandlungen zwischen den Kontrahenten wurden zunehmend auch religiöse Tabus gebrochen. In noch nie dagewesener Häufigkeit kam es zu Massenabschlachtungen gegen alle Gesetze und Normen. Eine allgemeine Verrohung griff um sich.
Als auf athenischer Seite Kleon und auf spartanischer Seite Brasidas vor Amphipolis fielen, kam es 421 zum Nikias-Frieden, der den Archidamischen Krieg abschloss. Darin wurde der territoriale Besitzstand vor dem Krieg festgeschrieben. Nun betrat aber der ehrgeizige Alkibiades die politische Bühne Athens und tat alles, um den ohnehin brüchigen Frieden zwischen Athen und Sparta zu hintertreiben. Schon bald kam es auf der Peloponnes wieder zu Kampfhandlungen, der Friede war nach kurzer Zeit nur noch Makulatur. Vielleicht ist Alkibiades auch verantwortlich für das brutale Vorgehen Athens gegen die kleine und neutral gebliebene Kykladeninsel Melos (416/15). Hier schiebt Thukydides den berühmten Melier-Dialog ein, in dem arrogante Macht höhnisch und zynisch gegen Recht und Moral argumentiert. Die Melier, so die Athener, hätten gar keine andere Wahl als zu kapitulieren. Als sie dies nicht tun, töten die Athener alle Männer und versklaven die Frauen und Kinder einer vormals freien und neutralen griechischen Insel.
Um diese Zeit definierte Alkibiades Sizilien als athenische Einflusssphäre. Sizilien war die ganze Antike hindurch eine Getreidekammer. Wenn man es beherrschte, konnte man die Peloponnesier von der Getreidezufuhr abschneiden und zudem Korinth schädigen. Alkibiades stellte den Athenern auch große Reichtümer vor Augen und mag vielleicht Sizilien als Sprungbrett nach Karthago verstanden haben. Auf alle Fälle versprach er sich selbst bei einem Sieg über Sizilien eine herausragende Stellung in Athen. Warnende Stimmen wurden in Athen nicht gehört, die Unterstützung von Verbündeten auf der Insel überschätzt. Insgesamt geriet das gesamte Unternehmen zum Fiasko, zumal Alkibiades, in Athen wegen des Mysterienfrevels angeklagt, zum Feind übergelaufen war und in Sparta massiv gegen Athen Stimmung machte, indem er die athenischen Kriegsziele maßlos übertrieb. Das Scheitern der Sizilischen Expedition markierte die Peripatie in diesem Krieg. Mehr als 45.000 Athener und Bundesgenossen fielen, 160 Trieren waren verloren. Von diesem demographischen Aderlass sollte sich Athen auch im 4. Jh. nicht mehr erholen.
Dennoch ging der Krieg noch Jahre weiter, konnten die Athener durch ihre Energie, die dynamis, die Thukydides immer wieder hervorhebt, noch so manche Erfolge verbuchen. 406 gelingt den Athenern noch ein Sieg bei den Arginusen unter schweren eigenen Verlusten, doch aufgrund eines aufziehenden Sturmes können viele Athener, die noch im Wasser treiben, nicht mehr gerettet werden, was den Generälen zur Last gelegt wurde. Im berühmten Arginusenprozess verurteilten die Athener nach bewegten Debatten sechs Strategen zum Tode, ein kapitaler Justizirrtum, denn nun hatten sich die Athener selbst ihrer militärischen Führung beraubt. Ein Jahr später kam es schließlich zur Katastrophe. Weil die Athener beim Nahrungsholen unvorsichtig waren und ihre Schiffe nicht genügend bewachten, konnte sich Lysander bei Aigospotamoi der ganzen athenischen Flotte bemächtigen, ohne dass es überhaupt zu einer Seeschlacht gekommen wäre. Athen konnte nun eingeschlossen werden und musste schließlich im Mai 404, am Ende seiner Kräfte, kapitulieren. Die Friedensbedingungen sind hart und für Athen demütigend. Unter anderem kommt es jetzt mit spartanischer Unterstützung zu einem oligarchischen Staatsstreich: Die sogenannten Dreißig Tyrannen beseitigen die Demokratie und errichten eine Schreckensherrschaft in Athen, die allerdings nicht lange dauert. Mit thebanischer Hilfe gelingt es den Athenern, die Demokratie wieder herzustellen. Aufgrund von Feinjustierungen in der Verfassung, die in Zukunft das Volk vor Massenpsychosen und massiven Fehlurteilen schützen sollten, erfuhr die athenische Demokratie als Verfassung ihre volle Ausprägung. Mit dem Funktionieren der Organe dieser Verfassung werden wir uns im nächsten Podcast beschäftigen.

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03 – Die Kleisthenischen Reformen / Die athenische Außenpolitik des 5. Jahrhunderts

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Werner Rieß
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Griechische Geschichte II: Die Klassik

03 – Die Kleisthenischen Reformen / Athenische Außenpolitik des 5. Jhs. v. Chr.

Athen hatte die Auseinandersetzung mit den Persern auch deshalb gewonnen, weil es sich innenpolitisch, modern gesprochen, durch eine grundlegende Verfassungsreform neu aufgestellt hatte. Im innerathenischen Machtkampf zwischen Isagoras, der von Sparta unterstützt worden war, und Kleisthenes, hatte sich Kleisthenes durchgesetzt, indem er eine größere Partizipation athenischer Bürger an den Staatsgeschäften anvisierte. Die Vorgeschichte und sogar der eigentliche Zweck der kleisthenischen Reformen liegen bis heute im Dunkeln und sind daher in der Forschung nach wie vor heiß umstritten. Wenn Kleisthenes mit seinen demokratischen Reformen die anderen Adelsfamilien schwächen und seine eigene Familie und Machtposition stärken wollte, so ist dieses Vorhaben fehlgeschlagen. Mit diesen Reformen, die die Macht des Adels weitgehend brachen, sägte Kleisthenes im Grunde am Ast, auf dem er selbst saß, zumindest hören wir nach den Reformen von 508/7 nichts mehr von ihm. Dass er als alter Aristokrat wirklich eine Demokratie herbeiführen wollte, darf bezweifelt werden, doch das Ergebnis lief dahin hinaus. Was wir jedoch sehr wohl tun können, ist, die Maßnahmen in ihrer Interdependenz zu beschreiben und ihre Folgen einzuschätzen: Nach Tyrannenmanier löste Kleisthenes die vier alten Phylen auf und gründete zehn neue. Das Dezimalsystem sollte das zugrunde liegende Prinzip der Rationalität unterstreichen. Durch diese Neugliederung war die Machtbasis des Adels im Wesentlichen gebrochen. Attika wurde in drei Teile geteilt. Es gab eine Region Stadt, eine Region Küste und eine Region Binnenland. Jeder der drei Teile bestand wiederum aus zehn Teilen. Diese 30 Trittyen bildeten den gesamten Bürgerverband. Jede der zehn neuen Phylen wurde aus drei Trittyen zusammengesetzt, eine Trittye Stadt, eine Trittye Küste, eine Trittye Binnenland. Es wurden also Bevölkerungsteile zusammengespannt, die überhaupt nicht zusammen wohnten, die neue Ordnung war also sehr künstlich, aber offenbar funktional. Kleisthenes stattete die neuen Phylen sofort mit neuen Kulten und Phylenheroen aus, um den Zusammenhalt zu stärken. Die unterste Einheit bildeten nach wie vor die rund 100 Dörfer, die sogenannten Demen. Soweit wir also sehen können hatte die Reform folgende Ziele:
Die Schaffung von 10 bzw. 30 gleich großen Teilen der Bevölkerung für politische und militärische Zwecke.
Eine volksnahe Selbstverwaltung in den Demen.
Die Verhinderung regionaler Parteibildungen, wie Athen sie schon mehrfach erlebt und sie Peisistratos sich zu Nutzen gemacht hatte und das
Aufbrechen der alten adeligen Hausmachten.

Vielleicht hat Kleisthenes auch den Ostrakismos, das Scherbengericht eingeführt. Die Boule, der ursprüngliche Rat der 400, musste nun mit 500 Mitgliedern neu geordnet werden, 50 aus jeder der zehn Phylen. Der Kampf um die Macht, den der Adel weiterhin unter sich führte, fand nun nicht mehr auf blutigem, sondern auf politischem Wege statt, mit dem Wort. Hier liegt der Grundstein der Rhetorik und unseres Politikverständnisses. Die Adeligen benutzten also die kleisthenische Ordnung als Werkzeug, um ihre Ziele zu erreichen, bis ihnen diese Verfassung die Machtgrundlage entzog. Die adeligen Machtkämpfe fanden also weiterhin statt, aber auf einer Bühne vor dem Volk, d.h. vor der Volksversammlung bzw. vor den Gerichten. Damit stieg das Selbstbewusstsein des Volkes, es fühlte sich nun als Souverän, der es ja auch war. Entscheidend ist, dass Athen das erste und einzige Staatswesen ist, das die wirtschaftliche und soziale Macht seiner Eliten von der politischen Macht abkoppelt. Die Adeligen wurden nicht enteignet, sie blieben kulturell und bildungsmäßig führend, aber sie haben schon bald nicht mehr politischen Einfluss als der normale Bürger. Aufgrund ihrer Bildung und ihres Vermögens eignen sie sich die Rhetorik an, sie ergreifen in Rat, Volksversammlung und in den Gerichten öfter das Wort, sie versuchen die Massen in ihrem Sinne zu beeinflussen, aber im Endeffekt entscheidet immer das Volk und eben nicht mehr eine kleine Elite.
Erstaunlicherweise hatte diese künstliche Ordnung, die sozusagen auf dem Reißbrett entstanden war, Bestand. Auch das Militär war nach den zehn Phylen gegliedert. Die Bewährungsprobe kam bald in den Perserkriegen. Die neue Phylenstruktur bewährte sich glänzend, und so bedurfte es keiner weiteren Reformen, um die neue Ordnung ganz anzunehmen, ja zu verinnerlichen.

Athens Außenpolitik ist nach der Schlacht von Salamis von vielfältigen Aktivitäten geprägt. Der Mann der Stunde ist nun der Aristokrat Kimon, der die Politik seiner Heimatstadt nun für zwei Jahrzehnte prägt, nicht etwa Themistokles, der Sieger von Salamis. Durch die Abwehr der Perser gewinnt Athen die Oberhoheit in der Ägäis. Um diese effektiv zu strukturieren, gründen die Athener 478/77 auf Delos den Delisch-Attischen Seebund mit antipersischer Stoßrichtung. Die Bündner, meist kleine Inselpoleis, suchen Schutz vor Persien und stellen Athens Dominanz nicht in Frage. Sparta überlässt Athen die Ägäis aufgrund des Mangels an eigenen maritimen Ressourcen. In den folgenden Jahren geht es Athen vorrangig um die Sicherung der Getreidezufuhr aus dem Schwarzmeergebiet und damit um die Kontrolle des Hellesponts und Thrakiens. Daneben versucht Athen immer wieder, nach Mittelgriechenland vorzudringen, um eine Pufferzone gegenüber dem Peloponnesischen Bund aufzubauen. Ich kann hier nur auf die wichtigsten Ereignisse zwischen 480, der Schlacht von Salamis, und 431, dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges eingehen. Es gibt weiterhin Konflikte mit Persien und auch bereits Scharmützel mit Sparta, so dass weder die Perserkriege eigentlich beendet sind, noch das Jahr 431 als Epochengrenze benutzt werden kann. Nun zu den bedeutsamsten Ereignissen: 475 überführt Kimon die Gebeine des Theseus von Skyros nach Athen, wo ein Theseion gebaut wird. Theseus galt als Stammesheros der Athener und Ionier. Das Theseion enthielt eine Darstellung der Amazonomachie und der Kentauromachie. Schon hier werden also die Perserkriege mythologisch gerahmt und überhöht und als Abwehr des Barbarentums generell stilisiert. 466-463 erhebt sich Thasos gegen Athen, Kimon kann den Aufstand niederschlagen.
464 ereignet sich ein furchtbares Erdbeben in Sparta, woraufhin ein Helotenaufstand losbricht. Die Spartaner fühlen sich so bedroht, dass sie 462 Athen um Hilfe ersuchen. Kimon, der noch in alter Aristokratenmanier denkt, kann sich gegen Ephialtes durchsetzen und führt selbst die athenische Hoplitenexpedition zur Unterstützung Spartas an. Während Kimons Abwesenheit kommt es auf Initiative des Ephialtes zu einem weiteren Demokratisierungsschub in Athen: Dem Areopag werden weitgehende Kompetenzen entzogen. Da die Spartaner die athenische Interventionstruppe auf der Peloponnes mit Misstrauen beobachteten, ja sogar befürchteten, die Athener könnten mit den Heloten gemeinsame Sache machen, schickten die Spartaner die Athener ohne Angabe von Gründen nach Hause. Kimon war damit düpiert und mit seiner aristokratisch gesinnten Sparta-Politik gescheitert.
459 verlegte der Delisch-Attische Seebund eine Flotte von 200 Schiffen von Zypern nach Ägypten, um dort einen Aufstand gegen die Perser zu unterstützen, eine fatale Entscheidung, denn Persien schlug den Aufstand nieder, die Flotte wurde vernichtet und Tausende verloren 454 das Leben. Diese athenische Niederlage markiert das Ende der griechischen Versuche, Persien zu attackieren. Athen hatte eindeutig seine Kräfte überspannt. Die Folgen dieser Katastrophe waren gravierend:
Die Bundeskasse des Seebundes wird von Delos auf die Akropolis in Athen verlagert, weil man nun auch mit persischen Angriffen in der Ägäis rechnen musste. Athen stellte erst einmal alle Offensivmaßnahmen ein, auch gegen Sparta. Viele Bündner fielen in dieser Situation von Athen ab, andere aber traten in den Seebund ein, d.h. die Verhältnisse in der Ägäis destabilisierten sich. Insgesamt aber organisierte Athen sein System besser und konsolidierte den Seebund nach der Katastrophe in Ägypten. Ab 454 kennen wir auch Tributquotenlisten der Symmachoi.
449/48 kommt es zum sogenannten Kallias-Frieden zwischen Athen und Persien, der in seiner Historizität umstritten ist. Diodor überliefert die Bedingungen: Die griechischen Poleis in Kleinasien bleiben autonom. Persische Truppen müssen drei Tagesmärsche Abstand halten. Persische Kriegsschiffe dürfen im Süden nicht über die Chelidonischen Inseln hinaus nach Westen fahren. Im Norden markiert der Eingang zum Bosporus eine entsprechende Demarkationslinie. Die Athener ihrerseits dürfen kein persisches Gebiet angreifen. Was auch immer vereinbart wurde, es muss wohl zumindest ein informelles Abkommen gegeben haben, denn in den Folgejahren sind keine Kampfhandlungen zwischen Athen und Persien belegt. Man kann also durchaus sagen, dass die Perserkriege erst 449/48 enden. 447 versuchte Athen, das westliche Böotien zu kontrollieren, scheiterte aber und verlor Böotien ganz in der Niederlage von Koroneia gegen Sparta.
Der Krieg zwischen Athen und Sparta wurde 446 mit einem dreißigjährigen Frieden beendet. Athen musste auf Mittelgriechenland verzichten, doch alles war vage formuliert und bot Interpretationsspielraum. Bei Streitigkeiten, mit denen man offenbar rechnete, sollte es zu keiner Kriegserklärung kommen, wenn eine Seite ein Schiedsverfahren vorschlagen sollte. Man wollte also der Diplomatie eine Chance geben, beide Seiten waren daran interessiert, den status quo beizubehalten. Obwohl Athen ab 443 Verwaltungsreformen im Seebund einleitet, um die Effizienz zu steigern, Distrikte anlegt, die phoroi-Zahlungen anhebt und neu regelt sowie das Zahlungssystem im ganzen Seebundgebiet auf attische Münzen, Maße und Gewichte umstellt, kann man von einer imperialistischen Herrschaftsweise erst ab den 420ern sprechen, also ab dem Peloponnesischen Krieg. Erst 413, also in Folge des Scheiterns der Sizilischen Expedition, brach die athenische Seeherrschaft zusammen. Perser und Spartaner stießen in das Machtvakuum in der Ägäis vor, bevor Athen dann einen zweiten Seebund im 4. Jh. aufbauen konnte, der dann aber unter ganz anderen politischen Vorzeichen und Rahmenbedingungen stand.

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02 – Die Perserkriege

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Griechische Geschichte II: Die Klassik

02 – Die Perserkriege

508/07 hatte Kleisthenes in Athen seine Reformen durchgeführt, die zur Demokratie führten. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass diese Neuordnung bald einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt sein würde und zwar von außen. Mit dem Ausgreifen der Perser nach Westen waren die kleinasiatischen Griechen, die sog. Ionier, unter persische Oberhoheit geraten, die die lydische ablöste. Die Griechenstädte an der kleinasiatischen Westküste wurden immer unzufriedener mit den von den Persern gestützten Tyrannen, d.h. mächtigen Aristokraten, die sich mit persischer Hilfe an der Macht hielten.
Aristagoras von Milet, dem Herodot das persönliche Motiv zuschreibt, eine führende Stellung in Ionien einnehmen zu wollen, wird den Protest wohl gebündelt haben. Die Aufstandsbewegung, wir sprechen vom Ionischen Aufstand, erfasste schließlich die Küste vom Hellespont im Norden bis in den Süden Kleinasiens. Auch Zypern und Karien waren mit von der Partie. Bedeutsam ist, dass auch Athen und Eretria auf Euböa die Bewegung unterstützten. Damit waren nun auch griechische Städte des Mutterlandes in den Kampf gegen Persien involviert. Die Griechen erzielen einen Anfangserfolg, indem sie 498 die Unterstadt und das Kybele-Heiligtum von Sardis niederbrennen, doch das Blatt wendet sich schnell, als die Perser ihre gewaltige Kriegsmaschinerie in Bewegung setzen. Sie erobern Zypern zurück und schlagen das Gesamtaufgebot der Griechen 494 bei Milet. Die Stadt wird zerstört, auch die anderen abgefallenen Städte werden eingenommen. Doch um Ruhe einkehren zu lassen, erhöht der persische Satrap Artaphernes den Tribut bewusst nicht, werden in den Städten keine Tyranneis mehr eingerichtet, sondern gemäßigte Oligarchien. Die Athener und Eretrier wussten aber, dass Schlimmeres kommen und Persien sich auf alle Fälle an ihnen rächen würde. Mardonios, ein Schwiegersohn des Dareios, unternahm 492 den ersten Zug gegen Griechenland. Seine Aktion war wohl sehr begrenzt: Ihm schwebte wohl nicht einmal eine Strafaktion gegen Athen und Eretria vor, sondern lediglich die Sicherung von Thrakien und Makedonien. Bei der Umsegelung des Athos-Gebirges erlitt die persische Flotte Schiffbruch, angeblich ertranken 20.000 Matrosen. Wahrscheinlich hatte Mardonios jedoch zu diesem Zeitpunkt sein Kriegsziel schon erreicht. Erst aus späterer Perspektive machten die Athener daraus einen gescheiterten Angriffsversuch auf Athen. Herodot kann mit diesem ersten Zug einen Spannungsbogen aufbauen und den Schiffbruch als schlechtes Omen deuten.
Um diese Zeit war der Philaide Militiades von der Chersones nach Athen heimgekehrt. Er setzte sich mit seiner Landstrategie gegen Themistokles durch, der schon zu jener Zeit die Flottenrüstung favorisierte. Den Athenern war klar, dass nach den Vorbereitungen des Mardonios nun bald die Strafaktion gegen ihre Stadt und Eretria erfolgen würde. Die Perser fuhren mit einer großen Flotte langsam über die Ägäis und behandelten Städte und Inseln sehr unterschiedlich, um den Athenern zu zeigen, dass es noch Zeit war, sich Persien zu beugen. Während Naxos erobert und der Tempel niedergebrannt wurde, wurde Delos bewusst geschont. Eretria ereilte das Schicksal zuerst. Die Stadt wurde geplündert, die Überlebenden nach Innerpersien verschleppt. Dann ging ein Teil der persischen Landstreitkräfte in der Ebene von Marathon an Land. Der Ort war bewusst gewählt. Die Ebene bot der persischen Reiterei günstiges Gelände. Außerdem siedelten bei Marathon traditionell die Anhänger der Peisistratiden. Man hatte den alten Hippias mit dabei und hoffte, dass die Bewohner Marathons sich für Hippias und damit die persische Sache einsetzen würden. Doch man hatte sich getäuscht. Als klar war, wo genau die Perser landeten, zog die athenische Hoplitenarmee den Persern sofort entgegen. Man schickte einen Schnellläufer nach Sparta, um Hilfe anzufordern. Doch aus religiösen Gründen konnten die Spartaner nicht unmittelbar aufbrechen. Wir wissen nicht, wie es zur Schlacht kam, ob die Griechen oder die Perser die Initiative ergriffen, auch über den Schlachtverlauf wissen wir nur sehr wenig, doch gelang es den Griechen, die Perser zu ihren Schiffen zurückzudrängen. Offensichtlich war die schwer bewaffnete Hoplitenphalanx den leicht bewaffneten persischen Truppen überlegen. Die Perser konnten sich so geordnet zurückziehen, dass sie Attika umfuhren und Athen nun direkt angreifen wollten. Die Athener liefen also buchstäblich zurück und waren zur Stelle, bevor die Perser an Land gehen konnten. Unverrichteter Dinge kehren die Feldherren Datis und Artaphernes nach Asien zurück, was zeigt, dass die Perser auf eine längere Belagerung überhaupt nicht eingestellt waren. Den Marathonlauf hat es wohl nie gegeben, er ist eine spätere Legende. Von nun an leben die Athener in einer Art Neurose vor den Persern, die Begriffe Perser- und Tyrannenfreund werden synonym.
Es ist daher kein Zufall, dass das Scherbengericht, der Ostrakismos, wohl kurz später eingeführt wurde und genau gegen diese Gruppen gerichtet war. Die Gefallenen von Marathon wurden zu Helden stilisiert, das Selbstbewusstsein der Athener erreichte einen noch nie da gewesenen Höhepunkt. Die Athener interpretierten die wohl begrenzte Strafaktion gegen sie und Eretria nun als einen Gesamtangriff auf Hellas, den sie fast ganz alleine abgewehrt hätten. Wieder war klar, dass Schlimmeres folgen würde, dass Persien diese Niederlage nicht auf sich sitzen lassen würde. Persien unternimmt nun neue Anstrengungen und rüstet in einem noch nie gekannten Ausmaß auf.
486 stirbt Dareios und Xerxes übernimmt die Kriegsziele seines Vorgängers, muss sich jedoch gegen Rivalen erst einmal durchsetzen und einen Aufstand in Ägypten niederschlagen, so dass sich der große Angriff auf Griechenland verzögert. 483 wird Silber im Laureion-Gebirge gefunden, mit dem Themistokles nun daran geht, eine athenische Flotte zu bauen, die bald die stärkste in ganz Griechenland sein würde. Die Perser bauen eine schwimmende Brücke über den Bosporus und durchstechen die Athos-Halbinsel mit einem Kanal, um mit der überlegenen Ingenieurskunst der persischen Pioniere die Griechen tief zu beeindrucken. Den Griechen war klar, dass sie der überlegenen Streitmacht der Perser auf Land nichts entgegenzusetzen hatten.
Die Griechen treffen sich zweimal zu Kongressen am Isthmos von Korinth, um ein konzertiertes Vorgehen zu vereinbaren, doch gehen die strategischen Vorstellungen insbesondere der Athener und der Spartaner weit auseinander. Immerhin werden die internen Fehden beendet, man gründet den sogenannten Hellenischen Bund, Gesandte werden ausgeschickt, um andere Griechenstädte um Hilfe zu bitten, doch diese Mission bleibt erfolglos. Sparta bekommt den Oberbefehl zu Wasser und zu Lande – Athen nimmt sich hier diplomatisch zurück – und man leistet einen Eid, dass man alle Städte zerstören würde, die sich den Persern anschlössen.
Auf dem zweiten Kongress am Isthmos einigt man sich auf zwei Verteidigungslinien, die Nordlinie ThermopylenKap Artemision und die Südlinie Isthmos – Salamis. Während die Athener natürlich die Nordlinie besonders sichern wollten, priorisierten die Peloponnesier die Südlinie, was natürlich auf Seiten Athens Verbitterung hervorrief. Auf alle Fälle reichten die Truppen an den Thermopylen nicht aus. Warum Sparta nur 300 Hopliten schickte ist unklar, vielleicht wollte man die Perser auf dem Marsch nach Süden nur zeitlich aufhalten. Vielleicht waren auch Verstärkungen angedacht. Insgesamt standen an den Thermopylen einige Tausend Mann, was definitiv zu wenig war. Man sieht, wie sehr es die Peloponnesier scheuten, große Truppenkontingente so weit im Norden einzusetzen, und welche logistischen Schwierigkeiten damit verbunden waren, diese Truppen auch zu versorgen. Als Xerxes schließlich den Angriff befiehlt, konnte die persische numerische Überlegenheit sich im 20 Meter engen Pass nicht entfalten. Zwei Tage lang rannten die Perser erfolglos gegen die griechische Phalanx an, sogar die Elitegarde der sogenannten Unsterblichen. Herodot führt nun ein tragisches Motiv ein, Verrat, ein gewisser Ephialtes hätte den Persern einen Umgehungspfad gezeigt, der sie schließlich in den Rücken der Spartaner führte. Leonidas wusste natürlich von diesem Pfad und hatte ihn von Phokern bewachen lassen, doch flüchteten sie, als sie im Morgengrauen von den Persern überrumpelt wurden. Damit war nun der Untergang des Leonidas besiegelt. Keine Niederlage der Weltgeschichte wurde propagandistisch so ausgeschlachtet wie diese. Paradoxerweise begründete gerade diese Niederlage den Nimbus der spartanischen Unbesiegbarkeit. Für die Perser war nun der Weg nach Mittelgriechenland frei, das mittlerweile bereits evakuierte Athen fiel kurze Zeit später.
Angeblich fand zeitgleich zur Schlacht an den Thermopylen die Seeschlacht von Artemision statt. Beide Seiten hatten hohe Verluste zu verzeichnen, doch lernten die Griechen strategisch viel für die nächste Seeschlacht bei Salamis.
Die Nordlinie war nun aber verloren, es ging nun um die Verteidigung der Südlinie auf der Höhe Salamis und Isthmos. Themistokles hatte die Frauen, Kinder und Alten nach Troizen, Salamis und Ägina in Sicherheit gebracht, ein geschickter Schachzug, denn damit zwang er die Athener, vor Salamis die Entscheidung zu suchen. Ein weiteres Zurückweichen hätte die Preisgabe der athenischen Familien an die Perser bedeutet. Auch die anderen griechischen Flottenverbände mussten bleiben, denn wären sie abgesegelt, wäre Athen aus dem Hellenenbund sicher ausgetreten und hätte alleine gekämpft. Die anderen Griechen wussten jedoch, dass ihnen nur der Hellenenbund relative Sicherheit bot.
So wagten die Griechen schließlich gemeinsam die Seeschlacht bei Salamis, wobei Themistokles wusste, dass die Enge den Griechen zum Vorteil gereichen würde. Wieder ist über den Schlachtverlauf wenig bekannt, die Schlacht scheint den ganzen Tag über angedauert zu haben, bis zum Abend waren die meisten persischen Schiffe von den griechischen gerammt worden und gesunken. Xerxes sah sich gezwungen, die Flotte abzuziehen. Das Landheer war jedoch noch völlig intakt, doch machte ein Angriff auf den Isthmos ohne Flotte keinen Sinn, zudem war das Jahr schon zu weit fortgeschritten. Die persische Heeresmacht zog also nach Norden und überwinterte unter Mardonios in Thessalien. Von dort aus wurde der Angriff im folgenden Frühjahr geplant. Als Mardonios 479 angriff, war sein Versuch, die Griechen diplomatisch zu spalten, fehlgeschlagen. Den Griechen war es gelungen, bei Plataiai ein großes Koalitionsheer aufzubieten. Und obgleich es wieder Unstimmigkeiten unter den griechischen Generälen gab, trugen die Griechen in der Schlacht von Plataiai den Sieg davon, hauptsächlich auch deshalb, weil Mardonios fiel und die Perser damit führungslos waren. Die unmittelbare Bedrohung durch die Perser war nun abgewendet, die Griechen hatten das schier Unglaubliche geschafft, die zahlenmäßig weit überlegene persische Großmacht abzuwehren. Eine natürliche Folge dieses Sieges war nun die athenische Expansion in die Ägäis, um den Persern nachzusetzen.
Die Spartaner waren dazu nicht in der Lage und zogen sich freiwillig aus dem maritimen Geschäft zurück. Die Athener besaßen nun die größte Flotte Griechenlands und völlige Bewegungsfreiheit in der Ägäis, was bald zur Gründung des Delisch-Attischen Seebundes führen sollte. Mit diesem Herrschaftsinstrument war nun Athen, als Folge der Perserkriege, zur Hegemonialmacht in Griechenland aufgestiegen.

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01 – Einführung in die Klassik

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Griechische Geschichte II: Die Klassik

01 – Einführung in die Klassik

In dieser Vorlesung beschäftigen wir uns mit der klassischen Periode Griechenlands, also dem 5. und 4. Jh. v. Chr. Diese Zeit markiert den kulturellen und geistigen Höhepunkt des Griechentums. Sie beginnt am Ausgang der Archaischen Zeit mit den Reformen des Kleisthenes in Athen, die zur Demokratie hinführten und den Perserkriegen, in denen sich diese Reformen bewährten, und der Sieg über die Perser zu einem bislang unbekannten Selbstbewusstsein führte. Die natürliche Folge der siegreichen Perserkriege war die Gründung des Delisch-Attischen Seebundes durch die Athener, die damit die durch ihre Flotte im Ägäisraum gewonnene Vormachtstellung institutionell zementierten und den Bund allmählich zu einem Herrschafts- und Machtinstrument Athens ausbauten. Diese enorme Machtentfaltung Athens wurde von der zweiten Hegemonialmacht, der Landmacht Sparta, mit großer Sorge verfolgt; ein Dualismus zwischen diesen beiden Mächten bildete sich heraus, der schließlich in die Katastrophe des Peloponnesischen Krieges mündete. Die ca. 50 glücklichen Jahre Athens zwischen der Schlacht von Salamis 480 v. Chr. und dem Ausbruch des Peloponnesischen Krieges 431 v. Chr., die man als Pentekontaetie bezeichnet, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch in dieser Zeit zu ständigen Auseinandersetzungen mit Persien und zu Scharmützeln mit Sparta kam.
Dennoch ist es richtig, dass die athenische Kunst, insbesondere die Architektur, denken wir an die Akropolis, und die attische Tragödie, in diesem Zeitraum ihren unerreichten Höhepunkt erreichte. Der Peloponnesische Krieg veränderte dann die griechische Welt dauerhaft. Zwar gelang es Athen noch einmal, im 4. Jh. einen Seebund zu gründen, doch die alte Suprematie war dahin. Keine griechische Polis konnte dauerhaft eine Hegemonie ausüben, wie Sparta und Athen es im 5. Jh. vermochten. Die Kräfte waren zersplittert. Der Aufstieg Thebens nach der Schlacht von Leuktra war nur von kurzer Dauer.
Im Schatten der dauernden Kämpfe zwischen den griechischen Stadtstaaten mit ständig wechselnden Koalitionen gelang es dem randständigen Makedonien im 4. Jh. aufzusteigen. Philipp von Makedonien gelang es, mit Brutalität und Rücksichtlosigkeit eine Vormachtstellung in Griechenland aufzubauen, die dann sein Sohn Alexander als Grundlage für die Errichtung seines Weltreiches nutzen sollte. Im unruhigen 4. Jh. erreicht jedoch die athenische Demokratie ihre volle Ausgestaltung, erlebt die athenische Literatur in Gestalt der attischen Redner einen weiteren Höhepunkt.
Nach diesen einleitenden Worten möchte ich kurz in das letzte Jahrhundert der archaischen Zeit in Athen zurückblenden, in das 6. Jh., in dem wir die Probleme der Archaik wie in einem Brennspiegel sehen. Nur die Rückschau in die Archaik kann uns vielleicht helfen, den Sonderweg Athens schon in einer frühen Phase zu greifen. Welche Faktoren ließen Athen einen anderen Weg als die anderen griechischen Poleis einschlagen? Wie kam es, dass Athen ab dem 5. Jh. dann die anderen Städte wirtschaftlich, militärisch, politisch und kulturell überflügeln konnte?
Solon wurde 594 v. Chr. zum Archon mit umfassenden Vollmachten bestellt. Er sollte Athen aus seiner Agrarkriese herausführen. Viele kleine Bauern waren so in Not geraten, dass sie sich hoffnungslos verschuldet hatten und sogar in Schuldknechtschaft gerieten, zum Teil sogar als Sklaven außer Landes verkauft wurden. Solon ergriff nun auf verschiedenen Ebenen einschneidende Maßnahmen. Mit seiner Seisachtheia, Lastenabschüttelung, entschuldet er die Bauern. Die Schuldsklaverei ist damit abgeschafft, allerdings nimmt er keine Neuaufteilung des Bodens vor, wie dies die armen Bauern gefordert hatten. Schon diese Maßnahme allein schuf eine gesunde demographische Basis, auf der Athen später aufbauen konnte. Neben vielen anderen Reform- und Gesetzesmaßnahmen ist v.a. seine Verfassungsreform fundamental. Solon bringt die wirtschaftliche und damit die militärische Leistungsfähigkeit in Einklang mit der politischen Teilhabe.
Wir nennen eine Verfassung, die auf dem Vermögen gründet, eine Timokratie, wahrlich keine Demokratie (denn wer reicher ist, hat mehr politisches Gewicht), doch unleugbar ein Fortschritt im Vergleich zur vorherigen Aristokratie. Die adelige Geburt war nun nicht mehr entscheidend; oder andersherum: Auch Neureiche konnten nun aufsteigen und wichtige Ämter bekleiden. Zur Bestimmung der Leistung und der Rechte teilte Solon die Bevölkerung in Vermögensklassen ein: An der Spitze standen die Fünfhundertscheffler, die sogenannten Pentakosiomedimnoi. Nur sie konnten Archonten und Schatzmeister werden. Unter ihnen rangieren die Hippeis, die Reiter oder Ritter, mit einem Mindesteinkommen von 300 Scheffeln. Ab 150 oder 200 Scheffeln war man Zeugite und gehörte damit der Hoplitenklasse an. Die Grundbesitzlosen, die sich als Landarbeiter bedingen, werden Theten genannt. Im Krieg dienen sie als Leichtbewaffnete, später auch als Ruderer. Diese vier solonischen Zensusklassen blieben die ganze klassische Zeit hindurch in Kraft. Nach ihnen stuften sich militärische Pflichten, die Besteuerung und auch die politischen Rechte ab. Da nun für ehrgeizige und fähige Leute Aufstiegschancen bestanden, wurde die soziale Mobilität erhöht. Obwohl, wie gesagt, diese Timokratie, noch nichts mit Demokratie zu tun hat, war sie doch ein wichtiger Schritt auf dem Weg dorthin, und betrachteten die Athener des 4. Jahrhunderts Solon als den Begründer ihrer Demokratie.
Solon behielt in seinen Reformen das Maß, so dass er sich sowohl bei den radikalen Armen als auch bei den konservativen Reichen unbeliebt machte; er hatte sich zwischen alle Stühle gesetzt. Die Tyrannis, die ihm angeblich angetragen wurde, lehnte er ab, stattdessen ging er ins Ausland, um seine Reformen ohne sein Zutun wirken zu lassen. Sie waren nicht von Bestand. Attika zerfiel in drei Regionen, die jeweils unter einem Adeligen standen. 561 versuchte Peisistratos zum ersten Mal die Macht an sich zu reißen. Er sollte noch einmal scheitern, erst 546 konnte er endgültig mit ausländischer Hilfe eine Tyrannis über Athen errichten. Er lässt die Verfassung intakt, besetzt aber die Schlüsselpositionen mit seinen Leuten.
In typischer Adelsmanier sichert er seine Herrschaft ab mit Geld, Söldnern und mit Hilfe internationaler Beziehungen. Peisistratos betrieb Politik mit Zuckerbrot und Peitsche und sehr populistisch. Er verteilte das Land seiner enteigneten Gegner an mittellose Bauern. Er schaffte also, was Solon nicht gewagt hatte zu tun. Adelige, die nicht mit ihm kooperierten, mussten ins Exil. Doch im Allgemeinen versuchte Peisistratos den Adel einzubinden. Religionspolitische Maßnahmen sollten den Zusammenhalt der Athener stärken. Auf der Akropolis entstand der erste Athena-Tempel. Die Panathenäen werden von den Peisistratiden zu einer Art „Nationalfeier“ ausgebaut, zu deren Anlass die homerischen Epen rezitiert werden.
Die Rechtsprechung wurde gestrafft, indem er Demenrichter, also Richter für die Dörfer in Attika, einsetzte. Man kann sagen, dass durch diese Entwicklungen paradoxerweise der Weg hin zur Demokratie beschleunigt wurde oder vorsichtiger ausgedrückt: Der Weg zu einer immer weiteren Verstaatlichung, zu einer Verfasstheit der Polis Athen beschleunigte sich. Peisistratos starb eines natürlichen Todes. Die Herrschaft wurde problemlos auf seine Söhne Hippias und Hipparchos übertragen. Erst als Hipparchos aus persönlichen Gründen ermordet wurde, verschärfte Hippias als Folge die Herrschaft. Erst jetzt gingen die Alkmeoniden ins Exil.
Die Tyrannis wurde schließlich von den Spartanern beendet, die in Athen über ihren Strohmann Isagoras eine Oligarchie einrichten wollten. Hippias wurde vertrieben und ging ins persische Exil. Kleomenes, der spartanische König, verkalkulierte sich. Die Athener lehnten Isagoras rundweg ab, es kam zu innerathenischen Machtkämpfen, aus denen schließlich der aus dem Exil heimgekehrte Kleisthenes als Sieger hervorging. Er konnte sich auf eine breite Machtbasis stützen, v.a. weil er populistische Maßnahmen vorschlug, die mit Begeisterung aufgenommen wurden. Und hier sind wir nun bei den Kleisthenischen Reformen, die die Demokratie begründen sollten.

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09 – Neue Kriegstechnik und Tyrannis

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

09 – Neue Kriegstechnik und Tyranis

Die archaische Zeit ist nicht nur von der Kolonisation und dem starken Einfluss des Orients geprägt, sondern auch von einer militärtechnischen und einer politischen Neuerung, dem Aufkommen der Hoplitenphalanx und der Tyrannis. Zunächst zur Phalanx: In homerischer Zeit kämpfen die Aristokraten Mann gegen Mann im Einzelkampf. Sie fahren mit dem Streitwagen in die Schlacht, steigen dann ab und treten in den Nahkampf mit dem Gegner ein. Eine individuelle Adelsethik, die sich noch nicht auf die ganze Polis bezieht, ist die Folge. Ab dem 8. Jh. greifen wir archäologisch Änderungen:
Die Rüstungen werden ab 750 schwerer, die eigentliche Phalanx wird dann wohl zwischen 700 und 650 v. Chr. eingeführt, wobei mit einer langen Übergangsphase und mit regionalen Unterschieden zu rechnen ist. Ich gehe zunächst auf das idealtypische Szenario und den damit verbundenen Mentalitätswandel ein, bevor ich dieses Modell vor dem Hintergrund neuerer Forschungen kurz kritisiere. In der Phalanx sind alle auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Es geht darum, durch konzertiertes Stoßen mit Schild und Lanze die gegnerische Phalanx aufzubrechen. Dazu muss sich die Schlachtreihe in gleichem Tempo bewegen, niemand darf von der Stelle weichen. Mit dem großen Rundschild am linken Arm deckt man die rechte Blöße des Kameraden links ab; die eigene, ungeschützte rechte Seite wird vom Schild des Nachbarn zur Rechten geschützt. Weder ist es möglich wegzulaufen – Flucht reißt die Phalanx auseinander und wird mit äußerster Verachtung gestraft -, noch ist es möglich, nach aristokratischer Manier individuell voranzustürmen, weil dies den sicheren Tod und ebenfalls die Auflösung der Phalanx bedingt hätte. Auch die Aristokraten müssen sich also buchstäblich in die Schlachtreihe eingliedern, die Bauern fühlen sich nun genau so wichtig wie die Aristokraten, eine kooperative Ethik entsteht, das Bewusstsein, gemeinsam für die Polis verantwortlich zu sein.
Der Individualismus tritt also radikal zurück, die Gemeinschaft zählt, nicht mehr der Einzelne. Wir sind auf dem Weg hin zu einer militärischen und damit auch politischen Gleichheit, die zu einer Form der Demokratie bzw. zu einer Polisverfassung führt, die den Einzelnen vollkommen vereinnahmt, in der es keine Menschenrechte und keinen Schutz vor dem Staat gibt nach dem Motto: Du bist nichts, Deine Polis ist alles. Dies unterscheidet die griechischen Demokratien grundsätzlich von unserem modernen Demokratieverständnis. Soweit also das idealtypische Szenario. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, dass die Entwicklung bei weitem nicht so geradlinig verlief. Das archaische Schlachtfeld war sehr uneinheitlich:
Der adelige Einzelkampf fand parallel neben dem Kampf in der Phalanx statt. Einige Männer kämpften also in dichterer Formation, andere bevorzugten immer noch den Kampf Mann gegen Mann. Daneben gab es auch ärmere Leichtbewaffnete sowie Reiter. Man wird sich die Entwicklung hin zur klassischen Hoplitenphalanx also gar nicht kompliziert und heterogen genug vorstellen können. Meines Erachtens jedoch ist die traditionelle Beschreibung in ihren Grundzügen richtig und gibt uns sehr wohl Aufschluss über die mentalitätsgeschichtlichen Paradigmenwechsel in der archaischen Zeit.

Die Archaische Zeit war jedoch nicht nur von der Tendenz hin zur Demokratie geprägt. Es gab in der Krise auch immer wieder charismatische Männer aus dem Adel, die die Herrschaft illegal an sich rissen und eine Tyrannis begründeten. Sie ist eine hypertrophe Form und gleichzeitig eine Perversion der Adelsherrschaft, da der Tyrann ja meist versucht, seine Standesgenossen auszuschalten. Dabei gibt er vor, im Interesse des Demos, also des Volkes zu handeln. Die populären Maßnahmen, die der Tyrann ergreift, wie etwa die Wiederherstellung von Ordnung im Lande, die Belebung der Wirtschaft, die Errichtung von Großbauten, die Organisation von glanzvollen Festen, die Verminderung sozialer Spannungen sowie auch die Verbesserung der Rechtspflege, geschehen nicht etwa aus philanthropischen Gründen, sondern aus reinem Machtkalkül, um sich die Zustimmung des Volkes möglichst dauerhaft zu sichern. Die Lebensweise der Tyrannen ist betont adelig: Sie züchten Pferde für Wagenrennen, nehmen an den panhellenischen Spielen teil, suchen sich ihre Freunde und Frauen in internationalen Kreisen und mehren ihren Reichtum. Die Macht sichern sie sich eben durch diesen Reichtum, eine Soldateska aus Klienten und Söldnern und ein internationales Netzwerk von Beziehungen.
Die Stellung der Tyrannen zur jeweiligen Stadtverfassung konnte jeweils sehr unterschiedlich sein: Einige Tyrannen lassen sich eine führende Position einräumen, ein ordentliches höchstes Amt mit außerordentlichen Vollmachten. Andere stehen neben der Stadt, regieren sie also wie ein fremder Oberherr von außen, d.h. Magistrate, Rat und Volksversammlung existieren weiter, akzeptieren aber die Oberhoheit, zahlen Steuern und leisten Heeresfolge. Der Tyrann konnte aber auch in der Stadt stehen, die Verfassung zum Schein bestehen lassen, aber die wichtigsten Ämter mit seinen Gefolgsleuten und Verwandten besetzen. Die Schattierungen sind mannigfaltig. Schuller beschreibt die Tyrannis als ein Durchgangsstadium hin zum verfassten Hoplitenstaat, idealiter zur Demokratie. Das ist so nicht ganz richtig, denn Tyranneis konnten auch später in der griechischen Geschichte auftreten, oder anders: Nicht alle Städte hatten in ihrer Geschichte einen Tyrannen.
Sagen wir eher: Die Tyrannis ist gewissermaßen ein Krisenphänomen. Wenn der Demos uneins ist, egal zu welcher Zeit, wenn starke Rivalitäten im Adel vorherrschen, sind das ideale Bedingungen dafür, dass es einer charismatischen Gestalt gelingt, einen Großteil des Volkes auf ihre Seite zu ziehen, also den Demos gegen den Adel zu instrumentalisieren. Aber auch hier gilt es wieder zu differenzieren, die Tyrannis bleibt ambivalent zu bewerten. Der Tyrann ist nicht nur ein Instrument des Demos gegen den Adel, sondern selbst ein hypertropher Adeliger, seine Herrschaft eine Übersteigerung der Adelsherrschaft. In dieser Spannung spiegelt sich ein Grundproblem der Geschichtswissenschaft, das Oszillieren zwischen einer biographischen und einer strukturgeschichtlichen Herangehensweise. Heute ist man mehrheitlich der Meinung, dass auch die Tyrannis nur multikausal zu erklären ist und auch immer nur vor dem Hintergrund der lokalen Begebenheiten. Zwei gegensätzliche Richtungen reiben sich, einerseits die Abschaffung des Königtums, dann die schrittweise Entmachtung des Adels und damit verbunden die kontinuierliche Verschiebung der Herrschaftsbasis nach unten, also der Weg hin zur Demokratie, und im Gegensatz dazu der Aufstieg einiger Adeliger zu einer übersteigerten Adelsherrschaft. Von diesen beiden Tendenzen war dann doch die hin zur Demokratie stärker. Warum?
Paradoxerweise trug gerade die Tyrannis zur Demokratie bei, sie stärkte den Freiheitswillen der Bürger. Der Tyrann hatte seinerseits die Bürgeridentität durch Festspiele erhöht, den Adel geschwächt, die Infrastruktur gestärkt, all dies kam der Demokratie zu Gute. Man kann also paradoxerweise sagen: Der Aufstieg einiger Adeliger, die dann ihre Macht auch oft missbrauchten, führte zu ihrem Fall am Ende der archaischen Zeit. Erst nach dem Sturz der meisten Tyranneis wurde diese Herrschaftsform dann durchgehend negativ konnotiert.

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08 – Die große Kolonisation / Der Orient

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

08 – Die Große Kolonisation / Der Orient

Das Hauptereignis der Archaischen Zeit war mit Sicherheit die Kolonisation (750-580 v. Chr.), die den Griechen nicht nur neue Welten, sondern auch neue geistige Horizonte erschloss. Sie erklärt sich hauptsächlich, wie die Krise der Archaischen Zeit insgesamt, durch die enorme Bevölkerungszunahme, die zu Landnot führte und somit viele Menschen zur Auswanderung zwang. Schon vor der eigentlichen Kolonisation folgten die Griechen den phönizischen Handelswegen und tauschten Keramikprodukte und Sklaven gegen Metall und Luxusgüter aus dem Orient. Die frühesten uns bekannten Niederlassungen sind Al Mina an der nordsyrischen Küste und Pithekoussai auf der Insel Ischia.
An beiden Orten wohnen Griechen mit Phöniziern zusammen, wobei Al Mina eher eine Handelsniederlassung als eine Kolonie, wie Pithekoussai, war. Der Ablauf war immer ähnlich: Man fragte zuerst beim Orakel von Delphi oder bei Zeus in Olympia nach, wohin man Kolonisten entsenden sollte. Delphi und Olympia wurden damit zu Koordinationszentren und Informationsbörsen für die ganze Kolonisations-bewegung. Meist zogen junge, waffenfähige Männer, wohl meist nicht mehr als 200, unter der Führung eines Adeligen los. Man nannte ihn Oikistes oder Archegetes. Der Oikistes wurde nach seinem Tode als Heros verehrt. Er bekam seinen eigenen Kult. Sein Grab befand sich nicht außerhalb der Stadt, sondern oftmals auf der Agora. Frauen nahm man sich dann aus der einheimischen Bevölkerung vor Ort; manchmal zogen Frauen aber auch aus der Mutterstadt nach. Schutzgott war meist Apollon, dem man dann den Beinamen Archegetes gab, aber auch Zeus und Hera. Die Einrichtung eines Kultes am Siedlungsort war dann der konstitutive Akt der Koloniegründung. Durch die damit verbundenen Rituale konnte des Gründungsakts dann regelmäßig gedacht werden. Das Land wurde unter den Erstsiedlern gleichmäßig verteilt, rechtliche, politische und religiöse Institutionen gegründet.
Obwohl es sich bei den Neugründungen um selbständige Poleis handelte, blieben sie natürlich den jeweiligen Mutterstädten politisch, religiös, aber vor allem kulturell eng verbunden. Vor allem Korinth übte über seine Kolonien eine strenge Kontrolle aus. Die egalitäre und vor allen Dingen geplante Stadteinteilung führte in den Kolonien zu regelmäßigen Stadtplänen, z. B. in Megara Hyblaia auf Sizilien. Auch hier sieht man wieder den Willen zur Rationalität und Logik bei den Griechen. Diese Gestaltbarkeit, gerade im politischen Bereich, in dem Verfassungen ausgehandelt und sozusagen auf dem Reißbrett entworfen werden konnten, wirkten auf das Mutterland zurück. Die Griechen lernten, dass Verhältnisse nicht naturgegeben und unabänderlich, sondern von Menschenhand verändert und auch neu geschaffen werden konnten.
Am Anfang spielten die Euböer die Vorreiterrolle bei der Kolonisation. Sie legten Al Mina und auch Pithekussai an. Vor allem Chalkis wurde auf Sizilien aktiv. Chalkis und Korinth dominierten bald die Kolonisationsbewegung im Westen, Megara und Milet die im Osten, v.a. im Schwarzmeergebiet. Das Beispiel, das wir am besten kennen, ist die Gründung Kyrenes um 630 durch Thera. Dieser Bericht liegt uns in drei Fassungen vor: Die theraische und die kyrenische Version überliefert uns Herodot; außerdem haben wir einen epigraphischen Text aus dem 4. Jh., der mehr oder weniger auf ältere Texte aus der Kolonisationszeit zurückgeht. In diesem Fall sehen wir, dass die Auswanderung nicht freiwillig war. Es musste gelost werden; wer sich der Verlosung zu entziehen versuchte, wurde hingerichtet. Den Kolonisten wurde die Rückkehr streng verboten. Wir sehen hier also eine Gemeinschaft, deren Ressourcen so knapp waren, dass sie ums Überleben kämpfen musste.

Die archaische Epoche wird aufgrund ihrer intensiven Kontakte zum Orient auch als orientalisierende Epoche bezeichnet. In vielerlei Hinsicht kennen wir heute die Abhängigkeit der Griechen von den Orientalen besser als früher, aber wir gewinnen auch immer mehr Einsicht, wie die Griechen sich die Errungenschaften des Orients fruchtbar und eigenständig anverwandelten. Ich kann hier nur einige, wenige Phänomene kurz ansprechen: In der Kunst sind die archaischen Jünglingsstatuen, die Kouroi, unverkennbar an ägyptischen Statuen orientiert. Der orientalisierende Vasenstil mit Ornamenten und Pflanzen, Voluten, Rosetten, Palmetten und Lotosblüten löst den geometrischen Stil ab. Nun gibt es auch Tierdarstellungen, wie Löwen und Panther, also Tiere, die die Griechen nie sahen. Das Haushuhn wird jetzt eingeführt. Anders als bei den Verdienstfesten der homerischen Zeit beginnen die zum Gastmahl, zum Symposien, Geladenen, jetzt zu liegen. Es geht nun nicht mehr nur ums Essen: In komplizierten Trinkritualen, bei Spielen, Wettbewerben in Rede und Dichtung, Gesang und Tanz und in Begleitung von Hetären feiern wohlhabend gewordene Schichten, die nach aristokratischen Idealen streben, sich selbst. Viele semitische Lehnwörter für Dinge der materiellen Kultur, wie Gefäßformen, Kleidung, Fischfang und Schifffahrt finden nun Eingang ins Griechische. Griechische Söldner kämpfen in ägyptischen und babylonischen Diensten. Von den Lydern lernen die Griechen wahrscheinlich die Geldwirtschaft kennen.
Der entscheidendste Impuls aus dem Osten war jedoch die Übernahme der Schrift von den Phöniziern. Wer auch immer sie vornahm, muss perfekt zweisprachig und ein großes Gefühl für beide Sprachen gehabt haben. Als Ort der Übernahme wird man sich Al Mina vorstellen dürfen. Die Griechen verwenden einige Buchstaben der reinen Konsonantenschrift der Phönizier, die sie in ihrer Sprache nicht brauchen, nun als Vokalzeichen, die im Griechischen so wichtig sind, und kreieren sich damit ein sehr subtiles Schriftsystem, das sehr bald nicht nur zur Magazinierung und zu Handelszwecken eingesetzt wird, sondern auch zum Niederschreiben von bis dato mündlicher Epik, von Lyrik, Gesetzestexten und Geschichtsschreibung. Dieser Medienwechsel stellt tatsächlich einen Quantensprung im Geistesleben der Griechen dar.
Die Schrift fand zwischen 750 und 650 durch den Handel rasche Verbreitung in allen Gesellschaftsschichten, womit der Alphabetisierungsgrad im klassischen Griechenland höher als im römischen Kaiserreich war. Das früheste griechische Schriftzeugnis ist eine Hexameterzeile auf einer Dipylonkanne aus Athen und der Nestorbecher aus Pithekoussai. Erinnern wir uns auch daran, dass die olympischen Sieger seit 776 v. Chr. bezeugt sind, dass man also die Sieger aufzeichnete, sobald man das neue Medium zur Verfügung hatte. Die Gründungsdaten der sizilischen Kolonien werden ab 734 aufgezeichnet, die athenischen Archonten seit 683.
Die mentalen Folgen dieses revolutionären Medienwechsels sind gar nicht zu überschätzen. Die Entstehung der griechischen Philosophie und des Verfassungsdenkens war nun möglich. Dadurch, dass es sich beim griechischen Alphabet um eine säkulare Schrift handelte, die nicht z.B. an eine Priesterkaste gebunden war, konnte es auch nicht zu einer Monopolisierung der Schriftlichkeit durch einige Wenige kommen. Dieser demokratische Grundzug der griechischen Schrift erklärt, warum sie zum Katalysator für viele gesellschaftliche Entwicklungen werden konnte: Durch die Förderung des logischen und rationalen Denkens, die Förderung des Individualismus und die schriftlich fixierte Rechtsprechung war es schließlich möglich, den Weg hin zur Demokratie zu beschreiten.

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07 – Krise und Entstehung der Polis

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

07 – Krise und Entstehung der Polis

Um 750 v. Chr. kommt Bewegung in die griechische Welt. Die Griechen erwachen plötzlich auf allen Gebieten: Politik, Tempelbau, Architektur, Vasenmalerei, Bildhauerei, Schrift und damit verbunden individuelle Dichtung und auch Philosophie. Durch die Einführung der Geldwirtschaft und den zunehmenden Handel wird die Gesellschaft auch viel mobiler als vorher. Mit diesen Errungenschaften geht aber auch eine tiefgreifende Krise einher, die die griechische Welt im Laufe der archaischen Zeit grundlegend veränderte. Das starke Bevölkerungswachstum stellte die Griechen vor bis dato ungekannte Probleme.
Zwei Lösungsversuche trugen ihrerseits zu einem beschleunigten Wandel in der Sozialstruktur bei, zum einen die Kolonisation, die ihrerseits wieder die allgemeinen Trends verstärkte und auf die wir im nächsten Podcast eingehen werden, zum anderen die Entstehung der Polis, die wir heute behandeln werden, und die entscheidend diese dynamische Umbruchs- und Achsenzeit prägte. Zu Beginn der archaischen Epoche war Griechenland noch rückständig und lag kulturell weit hinter dem Orient zurück. Am Ende der Archaik war Griechenland auf allen Gebieten führend und distinkt eigenständig gegenüber dem Osten. Die Krise hatte also durch die Produktivkräfte, die sie freisetzte, durchaus auch positive Folgen.
Ausganspunkt ist, wie gesagt, das starke demographische Wachstum und damit einhergehend Landnot, Armut und Elend. Immer mehr Weidefläche wird nun zu Ackerland umgewandelt. Die Großviehzucht geht dramatisch zurück. Die Landwirtschaft intensiviert und spezialisiert sich und wendet sich immer mehr von der Selbstversorgung ab. Dafür müssen nun große Mengen Getreide aus dem Schwarzmeergebiet importiert werden. Der rege Güteraustausch wird durch das Aufkommen der Geldwirtschaft ermöglicht. Damit werden auch Landparzellen veräußerbar. Diese Mobilität des Grundbesitzes hat enorme Auswirkungen auf die Sozialstruktur.
Viele verlassen nun auch die Landwirtschaft und wenden sich Handel und Gewerbe zu und kommen damit zu Reichtum, was das Sozialsystem weiter verändert. Einigen Familien gelingt es nun, Reichtum auf sich zu konzentrieren, v.a. durch Handel; andere verlieren Besitz und sacken in der sozialen Hierarchie ab. Es wurde leichter, sozial auf-, aber auch abzusteigen. Sozialprestige konnte nun also auch mit Geld errungen werden, was oftmals eine mangelnde adelige Abkunft kompensierte. Selbstverständlich betrachtete die alte Adelsschicht diesen Aufstieg der Neureichen mit großer Sorge. Sie suchte sich durch ein neues Kriterium, die vornehme Geburt, die man sich eben nicht kaufen konnte, nach unten, d. h. gegenüber den neureichen Aufsteigern abzuschotten, was jedoch nicht gelang. Wir können durchaus von einem neuen Geldadel sprechen. Die Gesellschaft wurde also horizontal wie vertikal flexibler und mobiler, was auch zu einem Desintegrationsprozess im Adel führte, der als krisenhaft empfunden wurde. Gleichzeitig gab es auch Unmut von unten. Der demographische Druck hielt weiter an, Land war trotz Kolonisation knapp. Die Landparzellen wurden immer kleiner. Bei Missernten reichte es oft nicht mehr zum Lebensnotwendigen.
Mit der Geldwirtschaft kam automatisch auch das Schuldenmachen und das Zinsnehmen auf. Man verschuldete sich also immer mehr bei reichen Geldgebern, d.h. meist beim Adel. In Extremfällen konnte dies zum Verlust des kleinen Grundstücks führen und sogar zur Schuldknechtschaft, d.h. ursprünglich freie Griechen mussten sich als Art Sklaven beim reichen Großgrundbesitzer verdingen, um ihre „Schuld“ abzubezahlen. Dies ist jedoch nur der wirtschaftliche Aspekt. Ein wichtiger jurisdiktioneller Grund kommt hinzu: Die Reichen hatten die Rechtsprechung monopolisiert und fällten Urteile, die für sie opportun und von Interesse waren, d.h. oftmals zu Gunsten der reichen/adeligen Gläubiger und zu Ungunsten der armen Schuldner. Ihre Wut wird man sich vorstellen können. Hesiod spricht von krummen Urteilen. Der Ruf nach einer Entschuldung und sogar einer Neuaufteilung des Bodens wurde immer lauter. Hier setzte Solon an, auf den wir im Kontext der Entwicklung in Athen noch eingehen werden. Um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, kam es ab ca. 750 v. Chr. zu einer Welle von Gesetzeskodifikationen, die den Unterschichten mehr Rechtssicherheit geben sollten. Es muss aber gleichzeitig betont werden, dass die absolute Verarmung nur Wenige traf, mit Sicherheit eine Minderheit, denn sonst hätte man ja keine Hoplitenphalanx aufstellen können.
Keinesfalls kann also von einer Dichotomie zwischen Armen auf der einen und reichen Adeligen auf der anderen Seite gesprochen werden. Die archaische Gesellschaft war bereits komplex und relativ weit ausdifferenziert. Wir haben es mit einer sehr heterogenen Protestbewegung zu tun aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen politischen, sozialen und ökonomischen Zielen. Während die wohlhabenderen, nichtadeligen Freien nach mehr politischer Partizipation strebten, gerade weil sie sie Hauptlast im Krieg als Hopliten tragen mussten, ging es den Ärmeren weniger um politische Teilhabe als vielmehr um Entschuldung und eine Neuverteilung des Landes. Um Verfassungsfragen wie um die Gesellschaftsordnung wurde also heftig gestritten. Der Raum dieser Auseinandersetzungen war nun, aufgrund des Bevölkerungswachstums, eine dichter bebaute Siedlung, die sich auch öffentliche Einrichtungen gab, die Polis. Wir können sie definieren als eine städtische Siedlung, oft auf einer befestigten Anhöhe, in der auch der Adel wohnt. Zur ihr gehört auch ein landwirtschaftliches Umfeld, doch die politischen Entscheidungen werden in der Stadt getroffen, in politischen Institutionen, für die entsprechende Bauten geschaffen werden: Ein öffentlicher Platz, die Agora, ein Gebäude für den Rat der Ältesten und Tempel für die gemeinsame Kultausübung, aber auch Straßen und eine Stadtmauer. Die Polis ist die örtliche Konzentration des politischen, wirtschaftlichen, religiösen und geistigen Lebens. Sie ist die oberste staatliche Einheit für ihre Bewohner. Gleichzeitig bezeichnet der Terminus auch die politische Verfasstheit, die in Gesetzen ihren Ausdruck findet. Über der Polis-Ebene gibt es nur ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Polis ist also grundsätzlich politisch autonom und wirtschaftlich autark. Daher ist sie auch als Mikro-Staat so exzellent zu untersuchen, v.a. aufgrund der Schriften des Aristoteles und Platons. Selbstverständlich existieren stammstaatliche und monarchische Herrschaftsformen parallel zur Polis weiter. Dennoch ist sie in ihrer zentralen Bedeutung für den mediterranen Kulturkreis überhaupt nicht zu überschätzen. Ab dem Hellenismus und der Ausbreitung der Polis bis nach Indien durch die Eroberungszüge Alexanders des Großen wird die Polis zum Inbegriff griechischen, urbanen Lebens. Das Konzept wird dann auch von den Römern übernommen. Wer nicht in Poleis lebt, lebt offenbar in Dörfern und Stammesverbänden und ist demnach ein Barbar. Mediterrane, d.h. zivilisierte Menschen leben dagegen in Städten. Die Entstehung der Polis ist im Detail noch immer unklar, doch brachten Ausgrabungen erhebliche Fortschritte.
Der Motor aller Entwicklungen war das starke demographische Wachstum an der Wende vom neunten zum achten Jahrhundert. Drei Phänomene sind für uns archäologisch greifbar. 1. Alte Siedlungen wachsen. 2. Neue Siedlungen werden gegründet. Die Kolonisierung scheint von Beginn an in Form der Polis von statten gegangen zu sein. 3. Manche Siedlungen werden aufgegeben (Lefkandi, Zagora auf Andros, Emporion auf Chios) und mit anderen zusammengelegt (Binnenkolonisation oder Synoikismos). Diese Konzentrationsprozesse fanden im Wesentlichen im siebenten statt.

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Quellen-Hinweise
Sehen Sie zu diesem Podcast auch die Quellen zur archaischen Krise. Alle Quellen enthalten einen Leitfragen- und Kommentarbereich zum besseren Verständnis des Textes.
Hier geht’s zu den Quellen

 

 

 

 

06 – Die Dunklen Jahre

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

06 – Die Dunklen Jahrhunderte

Wir gehen im Folgenden bei der Behandlung der Dunklen Jahrhunderte exemplarisch auf das Fürstengrab von Lefkandi ein, anschließend auf die Homerische Gesellschaft, also die Gesellschaft, die in den Epen entworfen wird und in etwa der Gesellschaft des achten und frühen siebenten Jahrhunderts entsprochen haben dürfte, also der Archaischen Gesellschaft.
In Euböa ist ein gewisser Aufschwung schon ab dem 11. Jh. zu greifen, der Handel mit dem Orient ist intensiv. In einer Notgrabung in Lefkandi kam 1981 ein prunkvolles Fürstengrab zum Vorschein, ein 45m langes Haus, 10m breit, offenbar aus dem 10. Jh. Das Haus war schon vor der Bestattung ca. 950 v. Chr. eingestürzt.
Ein Mann und eine Frau wurden hier mit einem Pferd in einem Tumulus bestattet, der im Haus aufgeschüttet wurde. Ganz klar handelt es sich um eine Bestattung innerhalb der Oberschicht. Eine Eisenklinge, eine Pfeilspitze und ein Schwert deuten auf eine Kriegeridentität hin. Die junge Frau war mit Goldschmuck bestattet worden. Eine weitere Grabkammer enthält vier Pferde. Diese Fürstenfamilie von Lefkandi war also reich, gesellschaftlich herausgehoben und pflegte intensive Kontakte zum Orient. Östlich vom Fürstengrab befindet sich ein Gräberfeld mit ebenfalls wohlhabenden Bestatteten. Dieses Gräberfeld ist auf das Heroengrab hin ausgerichtet. Beisetzungen fanden hier bis ins neunte Jahrhundert hinein statt. Wir greifen hier also eine differenzierte Sozialstruktur: Die Elite im Tumulus, die reicheren Gemeindemitglieder nahebei. Lefkandi ist reicher als jede andere Siedlung im Griechenland jener Zeit, was Euböa als Drehscheibe für den Orienthandel einmal mehr bestätigt. Wichtig ist, dass es also auch in den sogenannten Dunklen Jahrhunderten durchaus fürstliche Herrschaftsformen gab, die den bei Homer geschilderten ähneln. Für diese frühe Zeit ist keine mündliche Sagenkunst belegt, aber es ist möglich, dass an diesen Fürstenhöfen die ersten Heldenlieder mündlich vorgetragen wurden, die homerischen Gesänge also in diesem Kontext ihren Sitz im Leben haben.
Ich komme zur Gesellschaft des achten und siebenten Jahrhunderts und folge hier im Wesentlichen den Ausführungen Fritz Gschnitzers in seiner „Griechischen Sozialgeschichte“. Grundsätzlich handelt es sich bei dieser Gesellschaft um eine Aristokratie; alles basiert auf Nah- und Treuverhältnissen. Die Verhältnisse sind noch einfach, eine grundlegende Unterscheidung betrifft die Einteilung dieser Gesellschaft in Freie und Unfreie. Bei den Freien wird zwischen Einheimischen und Fremden unterschieden. Wir gehen nun von oben nach unten, also vom König über den Adel zum Volk. Schließlich gehen wir auch noch auf Abhängige und Sklaven ein.
Die Stellung des Königs ist relativ schwach, sie ist nur ein wenig aus dem Kreis der Adeligen herausgehoben. Der König überragt seine Standesgenossen an Reichtum und Macht, ist aber vom Adelsrat abhängig. Er ist als Geschäftsführer der Gemeinde auch für die Kriegführung zuständig. Daneben erfüllt er auch sakrale Funktionen und übt die Rechtsprechung aus. Seine Stellung ist erblich.
Der Kriegeradel ist einem strengen Ehrenkodex verpflichtet. Sich vor allen anderen auszuzeichnen, immer der Beste zu sein und die anderen zu überragen ist die Leitvorstellung, die die Ilias vorgibt (6.208; 11.783f.). Arete, also die Bestheit, gilt als Tugend. Status muss immer erkämpft und behauptet werden, einen Erbadel gibt es nicht vor dem Ausgang der Archaik, als der Adel sich nach unten abschließen will. Noch ist es entscheidend, dass man so herausragt, dass einem die Gemeinschaft Ehre erweist, das ist die time. Zu dieser Adelsethik gehört auch, dass die homerischen Helden die Handarbeit noch nicht scheuen. Sie arbeiten auf dem Feld mit und können auch zimmern.
Eine wichtige Institution ist die Gastfreundschaft nach außen, die Proxenie, die auf Gegenseitigkeit beruht und sich vererbt. Der griechische Adel ist also von Anfang an international. Die Adeligen holen sich ihre Frauen häufig aus dem Ausland und stärken so ihre internationalen Verbindungen. Nach innen sind die Verdienstfeste von entscheidender Bedeutung. Die Adeligen laden ihre Gefährten, ihre hetairoi, zu Gastmählern nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit ein. Nah- und Treuverhältnisse werden hier nicht nur zum Ausdruck gebracht, sondern auch begründet und ständig erneuert. Bei Raubzügen ist man auf die Kooperation seiner Standesgenossen angewiesen. Ein erfolgreicher und damit angesehener Adeliger musste also gut im Networking sein.
Die Hauptbeschäftigungen dieser Aristokraten waren Krieg, Raub und Jagd, aber auch Spiel, Gesang und Tanz. Feine höfische Sitte gehörte auch dazu. Wenn die Adeligen nicht im Krieg oder auf Beutezügen waren, dann maßen sie sich in sportlichen Disziplinen, wie etwa Wagenrennen, Faustkampf, Ringkampf, Wettlauf, Diskus- und Speerwerfen. Schon hier sieht man die Wettbewerbsethik der Griechen, ihre agonale Kultur und es verwundert nicht, dass die Olympischen Spiele angeblich 776 v. Chr. einsetzen, also schon zu Beginn der Archaischen Zeit.
Wir kommen nun zum Volk, also zu den nichtadeligen Freien. Sie untergliedern sich in Grundbesitzer und Grundbesitzlose. Politische Rechte sind faktisch auf die Grundbesitzer beschränkt. Eine Volksversammlung wird nur gelegentlich einberufen. Manchmal berät der Adelsrat auch vor dem Volk. Doch nur die Vornehmen ergreifen das Wort. Das Volk ist im Wesentlichen auf eine Zuschauerrolle beschränkt und äußert seine Meinung durch Schweigen, Murren oder Beifall. Die Volksversammlung erfüllt also eine Akklamationsfunktion.
Der Begegnungsraum zwischen Adel und Volk ist die Polis, die bei Homer schon deutlich zu greifen ist, v.a. in der Odyssee. Das Volk kämpft schwerbewaffnet im Krieg mit, allerdings zu Fuß. Die Frühform der Phalanx kommt bei Homer, realistischerweise, neben dem adeligen Einzelkampf vor.
Eine eigene Gruppe sind die Handwerker, die Demiurgen, die, obgleich grundbesitzlos, wichtige Aufgaben für die Allgemeinheit erfüllten, wie etwa Schmiede und Töpfer. Neben den sesshaften Handwerkern gab es auch fahrende Leute, die Spezialwissen anboten: Sänger, Seher, Ärzte, Herolde, Zimmerleute, Kunst- und Lederarbeiter und auch Kaufleute. Diese wandernden Menschen hatten eine ambivalente Stellung in der Gesellschaft, ihre Berufe waren erblich.
Unter den Grundbesitzern und den Handwerkern stehen die Grundbesitzlosen, die sich oftmals als freie Lohnarbeiter, Theten, verdingen müssen. Sie sind fast so verachtet wie Bettler. Eine Sonderstellung kommt den Fremden zu. Sie sind nicht rechtlos, stehen unter dem besonderen Schutz des Zeus, haben es aber schwerer, ihr Recht in der Fremde durchzusetzen.
Rechtlos waren die Sklaven. Der Ursprung der Sklaverei lag in der ganzen griechischen Geschichte immer in der Kriegsgefangenschaft.
Wurde eine Stadt erobert, wurden die Männer meist getötet, Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppt, wurden also wie Beute behandelt. D.h. es gab viel mehr Sklavinnen als Sklaven. Männliche Sklaven, die in den Haushalten heranwuchsen, dienten oft als Hirten, Handwerker, manche wurden auch als Gutsverwalter eingesetzt. Neben diesen erworbenen Sklaven entstand in den Gebieten, in denen sich die neuen Eroberer (Dorer) die einheimische Bevölkerung abhängig gemacht hatten, eine Schicht von landsässigen Unfreien, die von der herrschenden Schicht streng geschieden waren: Das waren in Sparta die Heloten, in Kreta die Periöken, in Thessalien die Penesten. Homer erwähnt diese Großgruppen mit keinem Wort, da er ja die ruhmvolle Vorzeit der Helden schildern will.
Die archaische Gesellschaft gliedert sich in verschiedene soziale Gruppen. Kern sind die oikoi, die individuellen Haushalte. Die nächstgrößere Einheit ist der genos, also die Verwandtschaft, die mehrere Generationen zurückverfolgt werden kann. Ein genos umfasst mehrere oikoi.
Unterabteilungen des Stammes sind die Phylen. Es gibt drei dorische und vier ionische Phylen. Doch weisen sie keine überlokale Organisation auf und auch keine gentilizischen Unterabteilungen.
Die Phratrien, wörtlich Bruderschaften, sind Sozialverbände, die nicht auf Verwandtschaft beruhen. Vielleicht sind das die Gemeinschaften der hetairoi unter Führung einer oder zweier aristokratischer Familien, also eine Untergliederung der Phyle, aber eben nicht gentilizisch.
Deutlich erkennen wir Elemente der Kontinuität von der Archaischen zur Klassischen Zeit. An erster Stelle natürlich das Wertesystem. Hier ist Homer besonders wirkmächtig, dann die Kultur des Symposion, des vornehmen Gelages als Oberschichtenritual, das sich im Lauf der Zeit zusehends demokratisiert, und die Vorstellung von einer Gesellschaft als gift-giving society, also einer Gesellschaft, die sich wesentlich über den Austausch von Geschenken identifiziert, was den späteren Euergetismus und die Liturgien mitbegründen wird.

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