05 – Homer

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Werner Rieß
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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

05 – Homer

Es ist leider völlig unmöglich, Homer und die vielen mit ihm verbundenen Fragen in wenigen Minuten zu behandeln. Ich möchte daher nur kurz und ganz überblicksartig auf zwei Themenkomplexe eingehen, welche die jüngsten Debatten bestimmen und in direkter Relevanz zu Troja stehen. Einmal die komplexe Frage, inwieweit die homerischen Texte die mykenische Vergangenheit widerspiegeln können, zum anderen, was es mit den provokanten Thesen Raoul Schrotts auf sich hat, die jüngst in den Medien breit und sehr kontrovers diskutiert wurden.
Niemand bestreitet, dass die homerischen Epen, die Ilias und die Odyssee, auf eine lange vorausgehende mündliche Sängertradition zurückgehen. Wie die Sänger und Rhapsoden genau arbeiteten und in welchem Verhältnis ihr Schaffen zu den Texten steht, die wir haben, kann hier leider nicht erörtert werden. Der Basler Gräzist Joachim Latacz geht davon aus, dass die stark formelhafte Hexameterdichtung durchaus in der Lage war, Sagengut auch in mündlicher Form über Jahrhunderte hinweg recht detailgenau zu tradieren. Er geht daher davon aus, dass der Troja-Stoff in mykenische Zeit zurückreicht und ist recht optimistisch, dass die Sage hier die Kunde von einem tatsächlichen Trojanischen Krieg bewahren konnte.
Dass die Sänger tatsächlich alte Erzählungen in großen Mengen erlernen und, leicht variierend, frei vortragen konnten, hat v.a. die oral poetry-Forschung gezeigt, die Milman Parry in den 30ern des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Als er die mündliche Heldendichtung der Guslare, der serbokroatischen Sänger untersuchte, stieß er auf eine noch lebendige mündliche Vortragskultur. Diese Sänger konnten aufgrund der immer wiederkehrenden Formeln riesige Textbestände ohne schriftliche Fixierung vortragen und waren stolz darauf, nicht zu reproduzieren, sondern die altbekannten Stoffe immer wieder neu und adressatengerecht zusammenzusetzen.
Es geht immer um Ehre, Rivalitäten unter Männern, die mit Macho-Gehabe ausgetragen werden, es geht um den Kampf um Frauen, Liebe, verletzte Frauen- und Männerehre usw., also durchaus um Themen, die in den homerischen Epen auch eine große Rolle spielen. Gerade die oral poetry-Forschung hat aber auch gezeigt, dass sich die Gesänge, so konservativ und starr sie auch sein mögen, sich doch im Laufe der Zeit verändern, weil sie sich immer dem Erwartungshorizont des jeweiligen zeitgenössischen Publikums anpassen müssen. Hier sind wir nun im Bereich der Rezeptionsästhetik. Die Sänger tragen vor, was das Publikum versteht und erwartet. Die Zuhörer müssen das Geschehen in ihre Welt einordnen können.
Langsam, beinahe unmerklich, verändern sich also die Gesänge und orientieren sich immer an der jeweiligen zeitgenössischen Realität oder der ihr unmittelbar vorausliegenden Vergangenheit. Die homerischen Epen können also nur ganz auszugsweise mykenische Realität bewahrt haben und beziehen sich überwiegend auf die Realität der beginnenden Archaik bzw. der ausgehenden Dunklen Jahrhunderte.
Anhand zweier berühmter Beispiele möchte ich in aller Kürze zeigen, dass Homer ein Amalgam kreiert, er also bewusst archaisiert, um seinem Text eine altertümliche Patina zu geben, er aber im wesentlichen seine Zeit beschreibt, wie ja schon oftmals von der Forschung beobachtet wurde.
Im zweiten Buch der Ilias listet Homer im sogenannten Schiffskatalog alle am Troja-Zug teilnehmenden Griechen auf. Könnte diese Liste auf die mykenische Zeit zurückgehen? Ja, würde Latacz sagen, denn die Liste ist Boeotien-zentriert, Mykene und Pylos spielen eine wichtige Rolle, zur Zeit des Dichters aber nicht mehr, also muss die Liste sehr alt sein. Zudem kommen Orte vor, die man später überhaupt nicht mehr identifizieren konnte. Dem ist entgegenzuhalten, dass wichtige mykenische Orte fehlen, wie etwa Midea oder Orchomenos, bei Korinth und Athen ist nicht zu entscheiden, ob der Dichter die mykenischen Orte meint oder die zeitgenössischen, denn hier bestand ja Siedlungskontinuität. Warum werden die wichtigen mykenischen Orte in Kleinasien nicht genannt? Zudem weisen die Orte einiger Protagonisten überhaupt keine Funde aus der Bronzezeit auf, wie man erwarten würde. Fazit: Diese Liste hat mit der Topographie der mykenischen Welt nur wenig zu tun, sondern spiegelt, archaisierend, die Verhältnisse im achten Jahrhundert wider. Der Zweck ist nicht historische Akkuratesse, sondern ein literarischer, die Vorstellung der griechischen Helden. Die Liste besteht wahrscheinlich aus verschiedenen Listen und wurde von verschiedenen Redaktoren verfasst, die Vorlagen sind unbekannt.
Mein zweites Beispiel sind die sog. Mykenaika, also mykenische Gegenstände, wie etwa der berühmte Eberzahnhelm des Meriones, Bronzewaffen und Streitwägen, der Taubenpokal des Nestor, der turmähnliche Schild des Aias, das Vergolden der Hörner von Opferrindern. All diese Funde lassen sich aber auch ins erste Jahrtausend datieren. Oder man machte Funde bei der Grabräuberei, oder aber diese wertvollen Gegenstände waren im Familienbesitz und wurden von Generation zu Generation vererbt. Manche mögen im achten Jahrhundert auch noch in Gebrauch gewesen sein. Aufgrund der archaisierenden Tendenz blendet der Dichter bewusst auch viel Zeitgenössisches aus, wie das Reiten, die Schrift oder das Söldnerwesen, aber er beschreibt definitiv nicht die mykenischen Paläste und deren komplexe und hoch spezialisierte Wirtschafts- und Arbeitsweise. Viele Realia gehören eindeutig ins achte Jahrhundert: Die Massenkämpfe in Phalangen, die Polis, zum Teil auch mit ihren Institutionen, wie etwa die Volksgerichtsbarkeit, und die Eisenwerkzeuge. Die Dichtung ist also ein Amalgam aus verschiedenen Epochen, wobei die Betonung nicht einmal auf Mykene liegt.
Ich möchte im Folgenden auf die umstrittenen Thesen des österreichischen Literaturwissenschaftlers und Autors Raoul Schrott eingehen, die er in seinem 2008 erschienenen Buch „Homers Heimat. Der Kampf um Troja und seine realen Hintergründe“ vorgelegt hat. Homer sei demnach ein griechischer Schreiber in assyrischen Diensten gewesen und habe in der zweiten Hälfte des siebenten Jahrhunderts in Kilikien gelebt und gearbeitet. Er sei also ein griechisches Migrantenkind gewesen und in der griechischen Diaspora im assyrischen Herrschaftsbereich aufgewachsen. Troja sei denn auch nicht in der Troas zu suchen, sondern sei vielmehr in der Südosttürkei zu lokalisieren, genauer in Karatepe. Ich möchte ganz kondensiert die Hauptthesen Schrotts referieren und dann kurz aus meiner Sicht auf sie eingehen:
Vieles bei Homer sei orientalisch geprägt, die Kulturkontaktzone zwischen Ost und West sei Kilikien gewesen. Die Fachwissenschaften dächten in Schubladen und würden die anatolischen bzw. orientalischen Hintergründe ausblenden. Die Beschreibung Trojas bei Homer passe besser zu Karatepe in Kilikien als zu Hissarlik. Etymologisch sei vieles bei Homer aus dem Assyrischen abzuleiten. Die Ilias wird bei Schrott zum Schlüsselroman: Die Assyrer seien die Vorlage für die angreifenden Griechen gewesen, die Trojaner demnach die einheimischen Kilikier. Homer beschreibe also letztendlich Kämpfe zwischen Assyrern und Kilikiern.
Diese Thesen wurden, soweit ich sehe, fast einhellig von der Forschung abgelehnt, übrigens auch von beiden Seiten des Troja-Streites, nur mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Vorsichtigen Zuspruch hat Schrott bislang nur von den Althistorikern Christoph Ulf und Robert Rollinger erfahren, die Schrotts Thesen als Anregung verstehen, sich wieder verstärkt mit den orientalischen Vorgaben auseinanderzusetzen und von Walter Burkert, einem der besten Kenner der orientalisierenden Epoche, der seine Reaktion in der rhetorischen Frage: Warum nicht Karatepe, bündelte.
Ich versuche nun, die Gegenargumente der Forschung zu bündeln und mit einigen eigenen Überlegungen zu versehen: Der große Medienhype war meines Erachtens übertrieben. Man schmälert Homers Leistung nicht, wenn man ihn von West- nach Ostanatolien verlegt. Bislang hat man ja Ionien, vielleicht sogar Smyrna als seine Heimat angenommen. Auch nach Schrott bleibt Homer ja muttersprachlich ein Grieche.
Schrotts Thesen lösen immer noch nicht die Frage nach der Historizität des Trojanischen Krieges. Schrott löst also nicht so viel wie er vorgibt. Mein größter Einwand ist die Frage nach dem geistigen Umfeld, das ein Dichter braucht, so genial er sein mag, um die alten Sängertraditionen zur Großleistung der Ilias zusammenzufassen und grundlegend zu redigieren. Ist es vorstellbar, dass so ein Werk in der Diaspora, in Kilikien entsteht? Rezeptionstheoretisch gesprochen: Ist überhaupt ein Publikum für so ein Monumentalwerk in der griechischen Diaspora vorhanden? Warum schreibt Homer, wenn er schon bilingual war, nicht gleich Assyrisch, für den assyrischen Königshof? Hätte er damit als Migrantenkind nicht besser vorankommen können? Schrotts Kritik, dass die Fachwissenschaften Scheuklappen hätten und sich nicht mit den orientalischen Vorlagen beschäftigen, ist schlichtweg falsch. Forscher wie Walter Burkert, Christoph Ulf, Martin West und v.a.m. haben immer wieder auf die östlichen Traditionen hingewiesen. Es gibt viel Forschungsliteratur dazu, auch interdisziplinäre Tagungen haben immer wieder stattgefunden. Meines Erachtens spricht nach wie vor sehr viel für Ionien als die Heimat Homers. Dort fanden die Kulturkontakte zwischen Ost und West, die Homer brauchte, genauso statt wie in Kilikien. Homer konnte sich dort genauso von der Dichtung des Zweistromlandes inspirieren lassen wie in Kilikien. Und vergessen wir nicht: Die Griechen erwachen geistig in Ionien. Kurz nach den homerischen Epen entsteht dort die vorsokratische Philosophie, später dann auch die Geschichtsschreibung. Thales kommt aus Milet, eben nicht aus Karatepe. Ionien war der Nährboden für den griechischen Geist. Große Werke können immer nur in einem fruchtbaren geistigen Umfeld geschaffen werden. Viele Dinge mussten zusammen kommen, um einen Kultursprung wie die Verschriftlichung der homerischen Epen zu ermöglichen. Ob die Diaspora im Osten, am Rand der griechischen Welt, der geeignete Ort dafür war?
Nun zur Beschreibung Trojas, die besser auf Karatepe passen würde: Die Hissarlik-Befürworter finden genau so viele, wenn nicht mehr Hinweise bei Homer, die genau auf die Troas passen und auf Hissarlik. Das Problem ist, dass Homer eine literarische Landschaft entwirft, keine historische. Viele kleinasiatische Städte könnten Troja sein, sie haben Stadtmauern, Quellen, Flüsse im Umland usw.. Die Etymologien bei Schrott sind oft gewagt und sprachwissenschaftlich keinesfalls abgesichert. Der Stoff wird nach Schrott in Kilikien orientalisiert und wandert dann nach Griechenland, wo er begeistert rezipiert wird. Wenn aber alles so kilikisch und assyrisch ist, warum benutzen die Griechen dann diesen Text zur Identitätsstiftung? Für sie waren die homerischen Helden der Inbegriff des Griechentums.
Das nächste Problem ist, das Epos als Schlüsselroman zu lesen, also die Griechen als Assyrer zu verstehen, die Trojaner als Kilikier. Das kann so nicht richtig sein. Die gesamte Welt, die Homer beschreibt, ist griechisch. Selbst die Trojaner denken und handeln wie Griechen. Griechen und Trojaner teilen eine gemeinsame Wertewelt. Man hat versucht, Priamos und den Trojanerhof luwisch bzw. hethitisch zu verstehen, das ist aber gescheitert. Der trojanische Königshof funktioniert wie ein griechischer Palast.
Schrott widerspricht sich zudem selbst. Einmal seien die Informationen, die Homer liefert, exakt. Er sei ein Protohistoriker, ein Protogeograph. Dann aber, wenn einige Informationen, die bei Homer zu finden sind, nicht ins Schrottsche System passen, befleißige sich Homer der poetischen Fiktion, er sei ein Dichter, man dürfe nicht alles auf die Waagschale legen. Schrott geht also weitgehend intuitiv und spekulativ vor. Schrotts Argument, dass er bislang nicht widerlegt werden konnte, überzeugt nicht. Wie auch? Er kann ja auch die Gegenseite, den mainstream der Forschung, nicht widerlegen.
Die Beweislast liegt doch bei demjenigen, der eine rund zweihundertjährige Troja- und Homerforschung verschiedener Disziplinen als grundlegend falsch erweisen will. Man wird also dabei bleiben müssen: Homer stammt wohl aus Ionien, schreibt in einer hoch kultivierten griechischen Umgebung, aus einem griechischen Blickwinkel heraus, hat aber starke Kulturkontakte in den Orient, die er fruchtbar in sein Werk einbaut und die wir tatsächlich verstärkt interdisziplinär untersuchen müssen. Es ist bezeichnend, dass dieser neuerliche Streit um Troja und Homer bislang im Ausland fast nicht rezipiert wurde.

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04 – Der Untergang Mykenes, Troja

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

04 – Der Untergang Mykenes, Troja

Um 1200 sehen wir die mykenische Welt im Niedergang begriffen. Dabei passiert nicht alles gleichzeitig, Pylos wird beispielsweise früher zerstört als Tiryns und Mykene. Der Niedergang ist ein langwieriger Prozess, der sich über 150 Jahre lang hinzieht und ist auf jeden Fall multikausal zu verstehen. Früher war man der Meinung, dass Eindringlinge von außen, die Dorer die Zerstörungen verursachten, und tatsächlich greifen wir mancherorts Neuankömmlinge. Zudem geht zeitgleich auch das Hethiterreich unter; es finden also tatsächlich große Bevölkerungsbewegungen im östlichen Mittelmeerraum statt.
Sie leiten die sogenannten Dunklen Jahrhunderte ein. Die archäologischen Befunde sind alles andere als einheitlich. Es gab Zerstörungen, das Auflassen von Siedlungen (z. B. Gla, Krisa), aber auch immer wieder Neuanfänge. Lefkandi scheint in dieser Zeit geradezu zu wachsen. Wahrscheinlich richten zuerst die Seevölker, die im Alten Testament als Philister auftauchen, die ersten Zerstörungen an und ziehen dann weiter. Es fällt auf, dass man auf den Kykladen keine Zerstörungshorizonte aus dieser Zeit findet. Waren die Kykladen also die Basis der Seevölker? Danach stoßen indoeuropäische Neuankömmlinge in das Machtvakuum vor. Wir sollten hier noch nicht gleich von Dorern sprechen, denn die Ethnogenese findet wohl erst in Griechenland statt. Das Verhältnis der Neuankömmlinge zu den Mykenern ist schwierig zu fassen. Zum Teil gab es kriegerische Auseinandersetzungen, auch Umgruppierungen der bestehenden Bevölkerung sind möglich. Mancherorts bleibt die mykenische Kultur unberührt, wie z. B. in Attika. Erst jetzt bilden sich die späteren griechischen Dialekte heraus. Die mykenische Staats- und Gesellschaftsstruktur löst sich auf, und mit ihr verschwindet auch Linear B. Wie lassen sich nun die großen Bevölkerungsbewegungen bzw. der starke Bevölkerungsrückgang in manchen Gebieten erklären? Messenien verliert in jener Zeit rund 90% seiner Einwohner. Wahrscheinlich gab es Naturkatastrophen, wie Erdbeben, und Ernteausfälle aufgrund von Dürren. Aufgrund knapper werdender Nahrungsmittelressourcen muten innere Auseinandersetzungen plausibel an, also Aufstände der unterdrückten Bevölkerung gegen die Palasteliten, bürgerkriegsähnliche Szenarios und natürlich auch Kriege zwischen den mykenischen Herrschaftsbereichen. Eindringlinge von außen sind ebenfalls nicht zu leugnen, sie profitierten wohl von der Schwäche der mykenischen Gemeinwesen. Doch auch diese Invasionstheorie wirft ihre eigenen Fragen auf: Warum waren die mykenischen Streitwagenkämpfer den Angreifern aus dem Norden dauerhaft unterlegen? Brachten die Männer aus dem Norden wirklich eine neue Kampftechnik mit, die das Hethiterreich zu Fall brachte und sogar Ägypten in Bedrängnis brachte? Man wird sich eine komplexe Gemengelage von Gründen vorstellen müssen, mit mehreren Einwanderungsschüben, die mehr oder weniger kriegerisch verliefen und die mykenischen Herrschaftsgebilde aufgrund deren struktureller Schwäche zum Kollabieren brachte. Dabei müssen wir regional mit stark divergierenden Tendenzen rechnen. Die Katastrophe kam also nicht plötzlich, sondern ist das Ergebnis einer lang anhaltenden Instabilität.
Noch eine Überlegung der Mykenologen zum Abschluss: Meist reagieren Menschen auf Bedrohungen von außen mit Trotz und Widerstandsfähigkeit. Man versucht, das Zerstörte wieder aufzubauen. Hier geschieht dies nicht mehr. Die Untertanen der mykenischen Reiche scheinen den Glauben an diese Herrschaftsform verloren zu haben; sie konnten sich wohl nicht mehr mit der Palastwirtschaft identifizieren. Was also verlorenging, war der gesamtgesellschaftliche Basiskonsens, damit war der Untergang dieses Systems dann besiegelt. Man diskutiert auch heute noch viel über die Brüche bzw. Kontinuitäten von der mykenischen zur späteren griechischen Welt. Und ganz sicher gibt es einige Kontinuitätslinien, gerade im Bereich der Sprache und der Religion. Insgesamt aber ist die Gesellschaft, die wir aus den Tontäfelchen rekonstruieren können, um 1200 untergegangen, die Folge war ein enormer Kulturabfall.
Die materielle Verarmung ist archäologisch zu greifen, Linear B gerät in Vergessenheit, es folgt eine lange schriftlose Periode bis ca. 800/750 v. Chr. Diesen Zeitraum nennen wir die Dunklen Jahrhunderte.

Wir kommen zum nächsten großen Abschnitt der Vorlesung, Troja – alte und neue Kämpfe.
Der Trojanische Krieg gehört zum Grundbestand europäischer Mythenerzählungen und europäischen Bildungsgutes sowie zu unserem kulturellen Gedächtnis. Seine höchst umstrittene Historizität und die damit zusammenhängenden Fragen sind aktueller denn je, wie die Berichterstattung in den Medien gerade seit 2001 deutlich zeigt.
Ich möchte zunächst in einem ersten Schritt auf Troja eingehen, die Stadt und v.a. die Geschichte ihrer Ausgrabung. In einem zweiten Schritt möchte ich dann auf Homer und seine Dichtung und ihre spezifischen Probleme eingehen. In einem dritten Schritt möchte ich dann versuchen, diese beiden Ebenen zusammenzubringen. Sie werden sehen, dass dies nicht gelingen wird. Die Gründe hierfür werden lehrreich sein und die neueren Debatten um die Stellung und Bedeutung der Stadt am Skamander und die Herkunft Homers in einen größeren Kontext stellen. Um es vorweg zu sagen: Weder aus Sicht der Altphilologie noch aus Sicht der Archäologie oder Alten Geschichte kann von einem historischen Trojanischen Krieg die Rede sein. Vielleicht ist der Kern der Sage ein viel unspektakulärer Einwanderungsvorgang von Griechen in der Troas ab dem 11. Jh.

Zur Forschungs- bzw. Grabungsgeschichte:
Seit dem 11. Jh. n. Chr. suchten europäische Reisende Troja in den Ruinen von Alexander Troas bzw. Sigeion. Ab 1750 suchten Engländer unter dem Einfluss der Ilias-Übersetzung von Alexander Pope den Ort. Graf Choiseul-Gouffier ließ als französischer Gesandter an der Hohen Pforte die ersten Karten der Troas anfertigen. 1785 glaubte Jean-Baptiste Lechevalier, den Ort der Sage auf der Anhöhe Balli Dag gefunden zu haben, beim Dorf Pinarbasi. 1801 wies schließlich Edward Clarke aufgrund von Münzfunden nach, dass der Hügel Hisarlik, 4,5km von den Dardanellen entfernt, das antike Ilion war. 1822 kam Charles Maclaren, ein schottischer Verleger und Hobbyarchäologe, zum gleichen Ergebnis. Mit seinen Schriften inspirierte Maclaren den jüngsten Sohn der Familie Calvert, welcher der Hügel gehörte, zu eigenen Forschungen. 1863-1865 nahm Frank Calvert die ersten Probegrabungen vor und war überzeugt, Troja in Hisarlik gefunden zu haben. 1868 kam dann Heinrich Schliemann in die Troas. Er war Kaufmann, kein ausgebildeter Archäologe und kannte den damaligen Forschungsstand nicht. Frank Calvert machte ihn schließlich auf Hisarlik aufmerksam.
Schliemann entfaltete nun, zwischen 1870 und 1890, eine rastlose Ausgrabungstätigkeit, bei der er auch viel zerstörte, weil er schnell zum Felsen, zu den ältesten Schichten vordringen wollte. Allerdings muss man ihm zugutehalten, dass es noch keine Vorbilder gab, die Feldforschung noch in den Kinderschuhen steckte, und er auch im Laufe der Zeit besser wurde, wie seine Tagebücher zeigen. Schliemann war ein Meister der Selbstinszenierung und liebte kühne und voreilige Schlussfolgerungen. Er hielt die zweite Schicht für das Troja Homers und glaubte, den Schatz des Priamos gefunden zu haben.

Heute wissen wir, dass diese Schicht rund 1000 Jahre älter ist als die Schicht, in der ein vermeintlicher Trojanischer Krieg stattgefunden haben könnte. Nach dem Tod Schliemanns übernahm Wilhelm Dörpfeld die Grabung. Auch für Dörpfeld war die Historizität des Trojanischen Krieges nicht hinterfragbar. Er identifizierte aber Troja VI als die entscheidende Schicht. 1932-1938 gruben dann die Amerikaner unter Leitung von Carl Blegen von der University of Cincinnati. Insgesamt unterscheiden wir heute neun bzw. zehn Schichten mit ca. 50 Bauphasen als Untergliederungen. 1988 nahm der Tübinger Prähistoriker Manfred Korfmann die Grabungen wieder auf, in Zusammenarbeit mit der University of Cincinnati.
Seit Korfmanns Tod im Jahre 2005 steht die deutsche Grabung unter Leitung von Ernst Pernicka. Korfmanns Hauptbefund war, dass Troja VI eine große Untersiedlung im Süden und Osten der Zitadelle gehabt habe, eine Hypothese, die v.a. von Frank Kolb, Professor für Alte Geschichte in Tübingen, heftig angezweifelt wurde und noch immer wird. Bevor wir auf diese Kontroversen etwas näher eingehen, möchte ich in aller gebotenen Kürze die neun Schichten Trojas kurz vorstellen. Ich lehne mich hier an die Schriften des Kölner Archäologen Dieter Hertel an.
Troja I aus der 1. Hälfte des 3. Jahrtausends war ein kleines Dorf, das dem ägäisch-westanatolischen Kulturkreis angehörte.
Troja II weist mehrere Megara auf. Eine Untersiedlung war von einer Palisade umgeben. Hier fand sich der berühmte Schatz des Priamos.
Troja III-V ist dann weniger wohlhabend, in der Zitadelle sind die Häuser dicht gedrängt. In Troja III war die Mauer von Troja II wohl immer noch in Gebrauch. Troja IV weist nun eine Fläche auf, die sich im Vergleich zu den vorherigen Schichten verdoppelt hat. In Troja V wächst die Stadt weiter, es finden sich minoische Importe. Die Schichten III-V wurden von Schliemann stark zerstört. Diese fünf ältesten Schichten gehören der frühen Bronzezeit an. Die mittlere und spätere Bronzezeit umfasst die Schichten VI bis VIIb2 (1700-1020).
Troja VI ist dabei die größte und prächtigste Stadt, in der wir acht Bauphasen greifen können. Dörpfeld hielt Troja VI für das homerische Troja, das Troja der Ilias. Kern von Troja VI ist die Burg, die die Vorgängerbauten in den Schatten stellt. Die gewaltige Befestigungsmauer ist 550 Meter lang und hat einen Durchmesser von 220 Metern. Die Anlage im Inneren ist terrassenförmig. In der Mitte der Zitadelle gab es einen Palast und einen Kultbezirk. Die Häuser waren sehr groß. Die Häuser außerhalb der Mauer, die aber nah an die Mauer herangebaut waren, waren kleiner als die Häuser in der Zitadelle. Je näher man also an der Macht wohnte, desto größer wurden die Häuser. Korfmann glaubte in dieser Schicht eine Unterstadt bzw. Untersiedlung entdeckt zu haben.
Kolb stellt sich dieses Umland eher als Gartenland vor mit einzelnen Gehöften. Diverse Gräben und Mauerreste wurden von Korfmann zunächst als Annäherungshindernisse bzw. als weitere Stadtmauern gedeutet, eine These, die sich nicht halten ließ. Es ist schwierig, die Bevölkerungszahl von Troja VI zu berechnen, manche Forscher gehen heute von ca. 7000 aus. Korfmann wollte diese Stadt als orientalische Metropole verstanden wissen, als Residenzstadt und Handelszentrum. Doch ein Vergleich mit der Hethiterhauptstadt Hattusa lässt dies nicht zu. Vor allem fehlt in Troja der Beleg für buchhalterische Tätigkeit, Archive und Magazinierungspolitik. Troja muss also ein viel bescheidenerer Fürstensitz gewesen sein.
Obgleich die Architektur anatolisch ist, scheinen die Bande zwischen Troja und dem Hethiterreich nur schwach ausgeprägt gewesen zu sein. Fazit ist also: Troja VI war keine altorientalische Residenzstadt, kein spätbronzezeitliches Zentrum des Welthandels, sondern nur ein regionaler Mittelpunkt. Troja VI ging in einem Großbrand unter, allerdings finden sich keine Waffen. Die Stadt wurde wohl durch ein Erdbeben zerstört. Der Untergang datiert sich zwischen 1300 und 1250. Die Trojaner bauen nach dem Brand Troja wieder auf, Troja VIIa entsteht. Die Häuser sind nun allerdings kleiner, die Wände dünner als vorher. Die Besiedlung ist insgesamt dichter als in Troja VI. Es gibt keinen Kulturbruch, aber alles verläuft auf einem niedrigeren kulturellen Niveau. Auch Troja VIIa wird durch einen Brand zerstört (wohl um 1190/80), aber nur wenig deutet auf eine kriegerische Zerstörung hin. Es ist aber möglich, dass Feinde von außen, vielleicht die Seevölker, die Stadt niederbrannten. Leute aus dem Balkan ließen sich offensichtlich in Troja VIIb 1 nieder. Die Zäsur zur nächsten Schicht ist scharf. Blegen und Korfmann hielten übrigens Troja VIIa für das homerische Troja, eine These, die auch heute noch Anhänger findet. Beide Schichten von Troja VIIb zeigen eine neue, primitive Keramik, d.h. Menschen von außen müssen zugezogen sein, wahrscheinlich aus dem thrakisch-illyrischen Raum. Beide VIIb Schichten gingen in Bränden unter, die wieder nicht als kriegerisch verursacht einzustufen sind.
Einige halten aber VIIb 1 für das homerische Troja. Mit Troja VIIb 2, das sich nicht wesentlich von VIIb 1 unterscheidet, endet die Bronzezeit um 1020. Im Schutt von Troja VIIb, eine nähere Zuordnung ist leider nicht möglich, fand man ein luwisches Bronzesiegel, woraus Korfmann und der Klassische Philologe Latacz folgerten, dass man in Troja Luwisch sprach, also eine Sprache, die dem Hethitischen verwandt ist. Dies kann, muss aber nicht sein, denn das Siegel kann auch von außen nach Troja gelangt sein. Vielleicht darf man in Troja durchaus Mehrsprachigkeit annehmen, da es ja am Schnittpunkt von Kulturen lag.
Für Troja VI bis VIIb 2 liegt kein Hinweis auf eine mykenische Eroberung vor, es finden sich weder Rampenreste noch Schiffslagerbefestigungen an der Küste. Nur Troja VIIa könnte von Seevölkern oder Dardanern aus dem Balkan zerstört worden sein, nichts deutet auf ein mykenisches Koalitionsheer hin. Allerdings konnte Hertel zeigen, dass die Griechen den Untergang von VIIb 2 nutzten, um selbst auf Hisarlik zu siedeln. Troja VIII ist dann bereits eine griechische Stadt und markiert ab 950 den Beginn der Eisenzeit. Die Einheimischen wohnen nun mit Griechen zusammen. Altes steht neben Neuem. Die Mauer von Troja VI diente weiterhin als Bollwerk; den Griechen muss diese Mauer gewaltig vorgekommen sein.
Dies begünstigte natürlich die Sagenbildung. Troja IX ist dann die römische Stadt. Noch im 9. Jh. war die Stadt ein byzantinischer Bischofssitz (Troja X), bis ins 13. Jh. war sie bewohnt, dann wurde sie aufgelassen und verfiel.
Hertel stellt sich nun den Kern des Troja-Stoffes so vor: Griechen aus Mittelgriechenland versuchten im 11. oder 10. Jh. Troja VIIb 2 zu erobern, aber erfolglos. Die große, unüberwindbare Mauer blieb ihnen in dauerhafter Erinnerung. Erst durch ein Erdbeben waren die Trojaner dann so geschwächt, dass sie den Griechen nicht mehr Widerstand leisten konnten, die sich nun neben der einheimischen Bevölkerung niederlassen.
Ein leicht anderes Szenario ist ebenso plausibel: Es gab überhaupt keinen griechischen Angriffsversuch, weil die Mauern als unüberwindbar galten. Erst die Naturkatastrophe erlaubte eine weitgehend friedliche Landnahme der Griechen, die sich dann einen aitiologischen Mythos für die Landnahme schufen und diese heroisierten, also kriegerisch überhöhten. So könnte es natürlich gewesen sein, doch spricht dem entgegen, dass die Griechen Homers Troja zwar zerstören, dann aber gerade nicht dort siedeln, sondern wieder nach Hause fahren. Eine Landnahme ist mit den Epen gerade nicht zu erklären! Vielfach wurde angenommen, dass es mehrere mykenische Beutezüge in die Troas gegeben habe, die Homer dann zu einem einzigen Krieg kondensierte, so zuletzt von Korfmann geäußert.
Abgesehen davon, dass damit die Historizität des Trojanischen Krieges wieder vom Tisch ist, würde dieses Szenario voraussetzen, dass Troja für die Mykener ein lohnendes Ziel war, aber nach all dem, was wir heute wissen, war es das gerade nicht. Troja war gerade kein exponiertes, reiches und strategisch wichtiges Ziel. Gerade die jüngsten archäologischen Forschungen scheinen also die Historizität eines Trojanischen Krieges in noch weitere Ferne als je zuvor gerückt zu haben.

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03 – Die Mykener

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

03 – Die Mykener

In mittelhelladischer Zeit um 2000 v. Chr. wandern indoeuropäische Gruppen in Griechenland ein. Sie vermischen sich mit der einheimischen Bevölkerung, welche die späteren Griechen Karer oder Pelasger nennen, und werden später zu den mykenischen Griechen. Zur gleichen Zeit gelangen die vedischen Inder nach Indien und die Hethiter nach Kleinasien, es finden also große Bevölkerungsbewegungen statt. Sehr bald geraten die Mykener in den Einflussbereich der minoischen Kultur, doch unterscheiden sich die Mykener auch deutlich von den Minoern, v.a. was die Sprache und ihre Architektur anbelangt. Die Mykener, deren Schrift, Linear B, wir lesen können, sprechen eine frühe Form des Griechischen. Anders als die Minoer leben die Mykener in stark befestigten Burgen, deren Zentrum das Megaron bildete, eine Art rechteckiger Thronsaal mit zentralem Herdfeuer, das als Repräsentations- und Kultraum diente. Auf alle Fälle sind die Mykener also eine kriegerische Kultur. Auf den Fresken finden sich Jagdszenen, wir kennen ihre schwere Bewaffnung, und wir haben Kunde von ihren Streitwägen.
Die bedeutendsten Funde wurden in Mykene gemacht. Wichtig sind hier v.a. die Gräber. Das sogenannte Gräberrund B aus dem 17. Jh., das 30 Gräber enthält, ist noch relativ arm, doch im jüngeren Gräberrund A, das sechs Schachtgräber enthält mit weiteren Gräbern darin, wurden Prunkdolche gefunden, Schmuck, Waffen und Szepter. Am bedeutendsten sind die goldenen Totenmasken, allen voran die sogenannte Maske des Agamemnon, die Heinrich Schliemann fälschlicherweise dem legendären König Mykenes attribuierte. Bedeutsam ist, dass das Gräberrund A in die Palastanlage integriert ist, die Herren von Mykene also eine enge Verbindung zu ihren adeligen Vorfahren hatten. Die Lokalität so nahe am Löwentor unterstreicht die Prominenz dieser Toten und bestätigte täglich die herausgehobene Stellung der herrschenden Eliten.
Daneben gibt es wuchtige Kuppelgräber, auch Tholosgräber genannt, allen voran das sogenannte Schatzhaus des Atreus. Die eigentliche Grabkammer liegt in einem Annexgebäude zum großen Rundbau, das Gewölbe symbolisierte wohl den Kosmos. Ein Gang, Dromos, führt hin zur Tholos. Bei einer Beerdigung fanden hier schaurige Riten statt. Der Dromos musste aufgegraben werden, manchmal wurden in diesem Gang Pferde geopfert. Die Trauergemeinde zog dann mit dem Leichnam in die Tholos, um dort ein Totenmahl einzunehmen. Man findet Feuerspuren. Dann wurde die Leiche in den Annexraum zu den früher Verstorbenen gebracht, die Tholos geschlossen und der Dromos wieder zugeschüttet. Die Trauernden verließen also das Reich der Toten und kehrten wieder in ihre Alltagswelt, in das Reich der Lebenden zurück. Dieser exklusive Bestattungsraum markiert ganz klar den Elitestatus dieser Toten. Die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Toten und den Lebenden werden in diesem eindrucksvollen Bestattungsritual performativ dargestellt und dienen damit auch der dynastischen Legitimation der Herrschenden.
Wir gehen heute von elf Königtümern aus, die wiederum in Provinzen untergliedert waren. Diese Hauptresidenzen sind Knossos, Tiryns, Mykene, Midea, Pylos, Athen, Theben, Orchomenos, Gla, Iolkos in Thessalien und Sparta. Auch Argos war wichtig. Ganz Griechenland ist jedoch von mykenischen Siedlungen überzogen, diese Kultur ist also nicht nur in den Zentren präsent.
Wahrscheinlich sind diese Königtümer lauter Einzelherrschaften. Einen, wenn auch nur temporären Oberbefehl, wie Agamemnon ihn in der Ilias inne hat, erscheint zweifelhaft. Auch die Oberhoheit Mykenes ist keinesfalls bewiesen, die Abgrenzung der Herrschaftsbereiche unklar.

Die Linear B-Schrift
Als die Mykener die Herren von Knossos wurden, lernten Sie die Linear A-Schrift der Minoer kennen und übertrugen diese Schrift auf ihre eigenen Sprache, entwickelten also aus Linear A die Linear B-Schrift, die 1952 von Michael Ventris entziffert wurde. Linear B ist also eine Frühform des Griechischen.
Wir haben heute mehr als 5000 Täfelchen, überwiegend aus Knossos, Chania, Pylos, Mykene, Midea, Tiryns, Theben und Orchomenos. Bei Linear B handelt es sich um eine überregionale Schreibsprache, die ausschließlich für den palastinternen Gebrauch konzipiert war. Es handelt sich hauptsächlich um Inventarlisten von Wertgegenständen, Waffen und Geräten, von Ein- und Ausfuhr aus dem Palast, Kataster von Grundstücken und Listen von Palastbediensteten. Da die Schrift der griechischen Sprache nur schlecht angepasst war, konnte Literatur in unserem Sinne damit nicht geschrieben werden. Die Täfelchen waren ursprünglich nur luftgetrocknet, waren also nicht für die dauerhafte Aufbewahrung gedacht. Erhalten blieben sie nur, weil sie durch die Brände, welche die Paläste zerstörten, gehärtet und damit konserviert wurden. Oft stammt also das gesamte Aktenmaterial nur aus einem einzigen Jahr, nämlich dem Jahr des Untergangs. Wir erhalten also eine Momentaufnahme ohne Kontext, was die Interpretation erschwert. Dennoch lässt sich mit ihnen der Aufbau der mykenischen Gesellschaft recht gut erschließen. Es handelt sich um eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die komplexer als die des klassischen Griechenland war und sich eindeutig an den Palastkulturen des Vorderen Orients orientiert. Es ist sogar möglich, einzelne Schreiber zu unterscheiden. Ihr sozialer Rang war offenbar hoch, sie gehörten wohl zur Verwaltungselite.
Nun zur Schrift selbst: es handelt sich um eine Silbenschrift aus 87-91 Lautzeichen, je nach Zählung. Diese Silbenzeichen, die immer auf einen Vokal enden, nennt man Phonogramme. Daneben gibt es über 150 Ideogramme, also Zeichen, die die Sache selbst bedeuten. Es gibt auch Zeichen, die ein Wort wiedergeben, sogenannte Logogramme. Viele Ideogramme bezeichnen militärische Ausrüstungsgegenstände, Gefäße, Kleidung und landwirtschaftliche Produkte.

Mykenische Religion

Die mykenische Religion kennt zwar keine Gipfel-, Höhlen- und Baumheiligtümer, doch ist die religiöse Ikonographie der minoischen sehr ähnlich. Ganz sicher arbeiteten minoische Künstler in mykenischen Diensten. Die Doppelaxt als Symbol der Macht wurde von den Mykenern bereitwillig übernommen, allerdings fehlen Bilder der Ekstase und der Epiphanie und die damit verbundenen Kultobjekte wie Lustrationsbecken und Säulenkrypten. Den mykenischen Kriegsherren lagen ekstatische Trance-Zustände sehr fern. Das heißt, die Mykener pflegen einen sehr pragmatischen Umgang mit der Vorgängerkultur. Sie übernehmen, was sie zum Ausdruck ihrer religiösen Vorstellungen brauchen und verwerfen die Formen, die sie nicht benötigen.
Religion ist selbstverständlich eng mit den Herrschern verbunden, rituelle Handlungen konzentrieren sich auf das Megaron. Altäre stehen oftmals im Hof vor dem Megaron oder in der Vorhalle, Libationen scheinen im Megaron stattgefunden zu haben. Der zentrale Herd wurde wohl als Zentrum eines mykenischen Staatswesens angesehen. Der Wanax, der König, einen Titel, den noch Agamemnon in der Ilias trägt, erfüllt wohl wichtige sakrale Funktionen, indem er z. B. den Opfern vorsteht. Daneben gibt es viele weitere Kultdiener; wir können also eine entwickelte Kulthierarchie voraussetzen: die Priesterin von Pakijane, eine Schlüsselträgerin in Pylos, war in historischer Zeit für einen Schrein verantwortlich. Sie scheint die einzige weibliche Autoritätsträgerin in den mykenischen Texten zu sein. Wir kennen einen Hieroworgos, also einen Opferpriester, einen Sphageus, der das eigentliche Opfer vollzieht und daneben mehrere allgemeine Priester sowie einen Hautträger und einen Hüter des Feuers. Zudem gibt es viele Diener Gottes, deren sozialer Rang gänzlich unklar ist. Die mykenische Religion ist insofern griechisch, als uns in den Linear B-Täfelchen bereits Zeus, Hera, Poseidon, Artemis, Hermes, Dionysos, Ares und Athene begegnen.
Andere Götter haben auch griechische Namen, gerieten aber in Vergessenheit, wie z. B. die weiblichen Versionen von Zeus und Poseidon, nämlich Diwia und Posidaia. Nicht griechisch sind ganz unverständliche Götternamen, die wir gar nicht identifizieren können. Die Opfer werden in der Reihenfolge wie später durchgeführt: Prozession, vegetabilisches Voropfer in Form von Körner oder Kuchen, Libationen, dann das Tieropfer. Es erfolgen unblutige Zugaben. Auch scheint es schon Kultkalender gegeben zu haben. Zusammenfassend kann man also sagen, dass es gerade im Bereich der Religion durchaus Kontinuitätslinien von der mykenischen in die klassische Zeit gibt. Die mykenische Religion ist also mit der späteren griechischen Religion durchaus verwandt, weist aber für unser Empfinden auch viel Fremdes und Unverständliches auf.

Mykenische Gesellschaft

Die hierarchische Gliederung der Gesellschaft ist auffällig. An der Spitze steht der wanax, dem auch die größte Landzuweisung zusteht. Obwohl er wichtige sakrale Funktionen wahrnimmt, wie wir gesehen haben, ist er kein Pharao, kein Gottkönig, sondern fungiert eher als primus inter pares.
Unter ihm steht der lawagetas, eine Art Vizekönig. Er scheint ein militärischer Führer gewesen zu sein.
Der hepetas oder auch e-qe-ta ist als Reiter oder Ritter ein hoher Gefolgsmann des Königs. Die genauen Funktionen sind unklar, doch scheinen die hequetai die Zentraladministration repräsentiert zu haben. Sie kommen im Zusammenhang mit Streitwägen vor, sie bekommen auch Sklavinnen.
Ein moroqa ist ebenfalls ein hochrangiger Funktionär, dessen Bedeutung unklar ist.
Ein koreter oder korete ist eine Art Provinzstatthalter.
Der qasireu schließlich scheint den wanax auf lokaler Ebene vertreten zu haben. Er scheint auch eine Aufsichtsfunktion in den Schmiedewerkstätten innegehabt zu haben. Etymologisch entsteht aus dem qasireu der basileus, der König in klassischer Zeit. Wie ist diese semantische Aufwertung zu erklären? Als die Suprastrukturen, die Zentralgewalt wegbrechen, bleiben die lokalen Funktionsträger übrig und steigen wohl gesellschaftlich auf.
Die telestai sind die freien Grundbesitzer.
Der damo ist ein genau abgegrenzter Personenkreis von fixierter Rechtsstellung, also gerade nicht das ganze Volk. Der damo hat Land und kann es auch vergeben an die Funktionäre, wie den wanax und den lawagetas. Die Abgrenzung von den telestai ist schwierig.
Auf der untersten Stufe steht der doero, weiblich die doera, eine Art Sklave. Der klassische Begriff ist ja der des doulos, Sklave. Diese Diener werden auch im Zusammenhang mit den Göttern genannt, es handelt sich also um eine Art der Tempelsklaverei oder, sagen wir vielleicht besser, eine Art des Tempeldienstes. Im Kontext eines Tempels werden diese Bediensteten bei ihrem Namen genannt, was sie von herkömmlichen Sklaven unterscheidet.
Daneben gibt es viele weitere Ämter, Ränge und Berufe. Es scheint hohe Spezialisierung und Arbeitsteilung vorgeherrscht zu haben. Ganz klar ist diese Gesellschaft also komplizierter und hierarchischer als die der klassischen Zeit.

In einem Fall kennen wir die agrarischen Strukturen inklusive der Grundstückstypen besonders gut, wir sprechen von der Agrarverfassung von Pylos. Das Reich von Pylos umfasste zwei große Provinzen, die wiederum in neun bzw. sieben Bezirke eingeteilt waren. Jeder Bezirk unterstand einem korete und dessen Stellvertreter. Zwei dumartes haben Aufgaben in beiden Provinzen. Der Provinzstatthalter ist wohl der damokoros. Auf alle Fälle sind diese Reiche größer als die späteren Polis-Gebiete mit ihrem Umland.
Die Agrarverfassung im Reich von Pylos ist bekannt, weil wir Verzeichnisse von Grundstücken haben. Es gibt zwei Arten von Eigentum, die sog. ktoinai ktimenai und die kekemenai ktoinai.
Die ktoinai ktimenai bezeichnen bebautes Privatland, Acker- und Gartenland im Gegensatz zum nicht bebauten Land, oder auch neu kultiviertes Land im Gegensatz zum alten Acker- und Gartenland. Die Inhaber sind frei, das sind die telestai, ihre Zahl ist gering. Die kekemenai kotonai bezeichnen das brach liegende Gemeindeland, die Allmende, also das Gemeindeland, das offenbar genossenschaftlich bewirtschaftet und oft Hirten überlassen wurde. Sehr viel mehr Leute nutzen dieses Gemeindeland. Schon am Ende der mykenischen Zeit ist diese Zweiteilung überholt, die Bewirtschaftung ist bei beiden Arten von Land gleich, beide Typen von Land werden bebaut, was wohl notwendig ist aufgrund des Bevölkerungswachstums.
Eigentum können nur Freie erwerben, Pachten aber alle, d.h. neben Freien auch Sklaven und Frauen. Beide Grundstückstypen können verpachtet werden, d.h. Freie können auch Gemeindeland pachten, Sklaven können beide Typen von Land pachten, die alte Einteilung ist also nur noch rechtlich bedeutsam, nicht mehr wirtschaftlich. Da nun auch Sklaven als Pächter relativ selbständig wirtschaften konnten, nivellierten sich die Standesunterschiede. Was wir also in Pylos in spätmykenischer Zeit greifen, ist ein gewaltiger Landesausbau.

Handelsbeziehungen

Unsere wichtigste Quelle für Handelsbeziehungen ist das Schiffswrack von Uluburun. Ein mykenisches Segelschiff, wohl auf der Fahrt vom heutigen Libanon in die Ägäis sank vor der türkischen Südküste, nahe Kap Uluburun, reich beladen mit Handelswaren und Schätzen, die uns einen wunderbaren Einblick in die internationalen Handelsbeziehungen der Bronzezeit vermitteln. Das Wrack wurde von 1984-1994 von amerikanischen und türkischen Wissenschaftlern erschlossen; ich möchte hier nur auf die wichtigsten Funde eingehen: 348 Ochsenhautbarren, Rohkupferplatten zu je 24kg und 121 Barren in Brotlaibform, zusammen 10t. Dazu 1t Zinnbarren. Kupfer und Zinn stehen hier also im Verhältnis 10:1, genau dem Verhältnis, das man zur Herstellung von Bronze braucht. Daneben fand man Rohglas in verschiedenen Farben, Ebenholz aus Afrika, einen großen Elfenbeinzahn, Bernstein von der Ostsee, Lebensmittel, Keramik aus Kanaan und Zypern, Schmuck aus Gold und Silber, Werkzeuge aus Bronze, Bronzewaffen, eine vorderasiatische Schuppenpanzerrüstung, ein Rollsiegel aus Assur, Gewichte zum Abwiegen von Waren, 24 schwere Steinanker, eine aufklappbare Holztafel zum Schreiben, wie sie später auch von Homer beschrieben wird und, eine Sensation, einen goldenen Skarabäus der Nofretete.
Die Waren kamen aus verschiedenen Gegenden, das Schiff war wohl auf einer Rundreise, viele Fragen bleiben jedoch offen: Wie typisch war so ein Schiff? Fuhr es im Auftrag von Palästen oder war es privat initiiert? Die genaue Route ist unbekannt, ebenso die Ursache des Untergangs. Eine spannende Frage ist auch die nach der Besatzung: Die Archäologen vermuten aufgrund der persönlichen Gegenstände vier kanaanitische Händler und Seeleute, einer davon war wohl der Kapitän, zwei Mykener aus der Oberschicht, die vielleicht als Emissäre, als eine Art Botschafter fungierten und vielleicht den Empfänger repräsentierten. Ein weiterer Passagier stammte wohl aus Nordgriechenland.
Daraus kann man vielleicht folgern, dass das Schiff auf dem Weg nach Griechenland war. Auf alle Fälle sehen wir, dass zwischen den Küsten des östlichen Mittelmeeres ein lebhafter Handel stattfand, der insbesondere auch Luxusgüter umfasste.

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02 – Die Minoer

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

02 – Die Minoer

Wir beginnen die Vorlesung mit einem Überblick über die minoische Kultur auf Kreta. Entscheidend ist, dass die Minoer keine Indoeuropäer sind, sondern eine vor-indogermanische Sprache sprechen, weswegen wir ihre Schrift, Linear A, leider nicht lesen können. Die minoische Kultur erschließt sich daher für uns nur über die Archäologie, und auf der Archäologie beruht auch die Epocheneinteilung der minoischen Geschichte. Arthur Evans grub Knossos ab 1899 aus. Wichtige Palastanlagen neben Knossos sind Phaistos, Mallia und Kato Zakros im Osten der Insel. Wir wissen weder, woher die Minoer kommen noch wie es zur Palastentstehung überhaupt kam. Schon in der Vorpalastzeit 3000-2000 v. Chr. finden sich in Stein geschnittene Siegel. Der Stier scheint in der Religion schon eine Rolle gespielt zu haben, die Bauweise der Häuser ist auch hier schon agglutinierend. Der Sprung zur Hochkultur erfolgt um 2000 mit dem Beginn der Älteren Palastzeit. Politik und Wirtschaft scheinen in den Palastanlagen konzentriert gewesen zu sein, doch lassen kleinere Anlagen außerhalb auch auf einen lokalen Adel schließen. Es handelt sich offenbar um eine friedliche Kultur, die sich auch von außen nicht bedroht fühlte: Auf den Fresken finden sich z. B. Delphine. Schon in dieser Älteren Palastzeit waren die Minoer international sehr gut vernetzt, v.a. mit den Kykladeninseln und Ägypten. Zudem legten sie Handelsposten an, wie etwa auf Rhodos, Samos, Knidos und Karpathos. Um 1800 bzw. 1700 vernichtet eine Erdbebenkatastrophe diese älteren Paläste. Sie werden jedoch sogleich wieder aufgebaut, womit die Jüngere Palastzeit eingeläutet wird. Die minoische Kultur erreicht nun bis 1400 v. Chr. ihren Höhepunkt. Die Paläste betrieben als Administrationszentren eine ausgefeilte Versorgungs- und Magazinierungspolitik, was die Grundlage für eine hoch entwickelte Redistributionswirtschaft darstellte. Diese jüngeren Paläste werden um 1500 oder 1450 zerstört. Die Ursachen sind gänzlich unklar. Sicher ist, dass der Vulkanausbruch von Thera, der entweder auf 1640 bzw. 1628 oder aber auf ca. 1530 datiert wird und das minoische Akrotiri zerstörte, nicht für die Zerstörungshorizonte auf Kreta verantwortlich ist, wie früher oft angenommen wurde. Die Dicke der Aschenschicht auf Kreta ist minimal. Die Lavareste auf Santorin zeigen, dass der Vulkan sukzessive ausgebrochen und wieder in sich zusammengefallen ist und daher keinen Tsunami auslöste. Zudem ist die letzte minoische Keramik ca. 50 Jahre jünger als die von Thera. Thera und Knossos gingen also nicht gleichzeitig unter. Wolf-Dietrich Niemeyer fand heraus, dass um 1450 alle Paläste außer dem von Knossos zerstört und die Siedlungen wieder aufgebaut wurden, aber nicht die Paläste und schließt daraus, dass es sich bei diesen Zerstörungen um innerkretische Auseinandersetzungen gehandelt haben muss, aus denen Knossos als Sieger hervorging. Kreta war aber insgesamt wohl so geschwächt, dass es um 1375 seine Vormachtstellung an die Mykener abgeben musste. Nach Niemeyer erlebt das minoische Knossos zwischen 1450, dem Erringen der Alleinherrschaft auf Kreta, und 1375, der Ankunft der Mykener, seine Blütezeit. Das ist nur eine Theorie. Andere Forscher meinen, die Mykener seien schon 1450 gekommen, auf sie sei der Zerstörungshorizont zurückzuführen. Oder es gab zwei verschiedene Eroberungswellen vom Festland aus, eine um 1450, die andere um 1375. Die zweiten Eroberer seien dann die Mykener gewesen. Wie dem auch sei, Linear A bricht um 1375 ab, ab dieser Zeit sind die Mykener die Herren von Knossos und dem größten Teil Kretas. Nur der Osten steht nicht unter ihrer Kontrolle. Die Nachpalastzeit ist also mykenisch. Durch vielfältige Interaktion der Eroberer mit der unterworfenen minoischen Bevölkerung findet ein kultureller Verschmelzungsprozess statt. Die minoisch-mykenische Mischkultur entsteht.
Die Linear A-Schrift der Minoer ist eine reine Verwaltungsschrift. Sie diente zur Buchhaltung der Magazine und Vorratsräume. Sie ist an rund 25 Orten auf Kreta belegt, nicht nur in den Palastzentren. Bedeutende Fundorte sind Hagia Triada, Chania, Phaistos und Zakro. Linear A ist eine Silbenschrift, von der wir rund 800 Wörter unterscheiden können, deren Bedeutung wir aber nicht verstehen. Es gibt 90 Syllabogramme, 70% davon haben eine Entsprechung im mykenischen Linear B. Daneben gibt es auch sogenannte Logogramme, also Zeichen, die ein ganzes Wort bezeichnen. Linear A verwendet auch Monogramme, d.h. Zeichen, die aus zwei oder drei Syllabogrammen zusammengesetzt sind. Zahlzeichen sind in Linear A und B identisch, nur gibt es in Linear A kein Zeichen für 10.000. Obwohl Linear A nach wie vor nicht entziffert ist, haben wir dennoch ein grundlegendes Verständnis der Texte. Zwei Zeichen sind bekannt: KU-RO heißt Summe, Ganzes, PO-TO-KU-RO heißt Gesamtsumme. KI-RO heißt Defizit. Es geht also immer um Transaktionen, um Verwaltungsakte.
Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass es neben Linear A noch eine kretische Hieroglyphenschrift gab. Der Name ist etwas missverständlich, weil es sich auch bei dieser Schrift um eine Silbenschrift handelt. Wir können nicht sagen, ob Linear A oder die kretische Hieroglyphenschrift älter ist. In der mittel-minoischen Periode sind beide Schrifttypen in Verwendung, allerdings gibt es eine geographische Verteilung, die vielleicht auf eine politische Zweiteilung Kretas hinweist. Linear A wird im Süden verwendet, die Hieroglyphenschrift in Nord-Zentral und Nordostkreta. In der mittelminoischen Periode III wird schließlich die Hieroglyphenschrift zugunsten von Linear A aufgegeben. Nun wird überall Linear A bis zum Aufkommen von Linear B geschrieben.

Zur minoischen Religion

Die Minoische Religion geht aus Grabritualen hervor. Bald lösen sich die Riten von den Gräbern und haben nur noch mit Götterverehrung zu tun. In allen Heiligtümern finden sich Gabentische, Tonphalloi, Tassen mit weiblichen Brüsten, Rhyta, also Trinkgefäße in der Form von Stieren und natürlich die typischen Doppeläxte aus Bronze oder Gold, die entweder zu klein oder zu groß für eine tatsächliche Verwendung sind. Wie wir den Stierfresken entnehmen, spielten Stiere wohl auch im Kultus eine wichtige Rolle, vielleicht auch Stieropfer, aber es gibt keine Belege für einen eigentlichen Stiergott. Man muss aber daran denken, dass der Stier im Mythos sehr wohl mit Kreta verbunden wird. Denken Sie daran, dass sich Zeus in einen Stier verwandelt, um die schöne Europa nach Kreta zu entführen. Kreta ist auch die Insel des Zeus und damit auch die Insel des Stieres. Auf den allgemein bekannten Mythos vom Minotauros muss ich gar nicht weiter eingehen. Im Zentrum des Kultes stand also die Fruchtbarkeit des Menschen, worauf die Tonphalloi genauso wie die vielen weiblichen Figurinen hindeuten, die entweder ein Gefäß tragen oder bei denen die Brüste kleine Löcher haben, so dass man aus diesen Figurinen trinken konnte.
Die Minoer suchten die Nähe zu den Göttern in der Natur, auf Berggipfeln, wir sprechen von Gipfelheiligtümern, und drunten in der Erde, wir sprechen von Höhlenheiligtümern. Daneben gibt es auch Baumheiligtümer. Später werden die Götter dann auch in den Städten und Palästen verehrt, Walter Burkert spricht von Hausheiligtümern. Wir sehen also, dass die Religion bei den Minoern alle Lebensbereiche durchdringt.
Zunächst zu den Gipfelheiligtümern: Wir kennen über 20 sicher identifizierte Gipfelheiligtümer. Dort fand man Figurinen, meist Votivdarstellungen in Form von Tieren und menschlichen Körperteilen, wie z. B. Füße, Augen und Genitalia. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Votivgaben, Danksagungen für die Genesung von Krankheiten bzw. Bitten um Genesung bzw. Gesunderhaltung. Vielleicht gab es eine Berggöttin, die man auf den Gipfeln verehrte. Ein wichtiges Zeugnis ist hier das sog. Mutter-der-Berge-Siegel. In Sumer gibt es eine Herrin vom Berge, in Kanaan gab es Feueropfer auf den Gipfeln für Baal, wie im Alten Testament geschildert. Greifen wir also hier auf Kreta orientalische Traditionen? Offenbar hat man auf Kreta große Feuer zur Nacht auf den Gipfeln entzündet, denn wir finden viele Lampen und Tierreste. Figurinen wurden ins Feuer geworfen, auch kleine Tonkügelchen. Vielleicht gibt es hier eine Verbindung zu den späteren griechischen Feuerfesten. In mykenischer Zeit sind Gipfelheiligtümer nicht mehr nachzuweisen. Sie sind also ein typisch minoisches Phänomen.
Höhlenheiligtümer: 15 sind bislang sicher nachgewiesen, wahrscheinlich gab es aber doppelt so viele. Wie die Gipfelheiligtümer liegen auch sie siedlungsnah. In den Höhlen findet man Reste von Libationen und Trinkritualen. Auch Festmähler fanden statt. In den Höhlen wurden für die Gottheit männliche und weibliche Bronzefigurinen zurückgelassen, Doppeläxte, hunderte von dünnen Schwertern, Dolchen und Messern. Vielleicht greifen wir hier schon das Prinzip der Reziprozität, von Gabe und Gegengabe. Es wurde die Vermutung geäußert, dass man in den Höhlen versuchte, in ekstatische Trance-Zustände zu kommen. In dieser Trance wollte man dann Visionen haben vom Erscheinen, der Epiphanie der Göttin.
Auf manchen Goldringen werden Baumheiligtümer abgebildet. Der Baum ist von einer Mauer eingefriedet, es gibt auch einen Altar. Tänzer und Tänzerinnen werden in Ekstase abgebildet.
Die Schreine der Palastkulte, an denen man auch das typische Kultmaterial findet, sind auch für die breitere Öffentlichkeit zugänglich. Wichtig für die Hauskulte sind die Schlangendarstellungen, vielleicht galt die Schlange als Wächterin des Hauses. Und vielleicht wurden Schlangen sogar gehalten und gefüttert.
Tempel sind in der minoischen Kultur nicht belegt, doch gibt es eine wichtige Ausnahme. In Ayia Irini auf Keos fand man ein minoisches Gebäude aus dem 15. Jh. Es bestand aus einem Hauptraum mit Nebenräumen und einem Adyton. Sensationell ist, dass man 20 lebensgroße, weibliche Tonstatuen fand, mit entblößten Brüsten, die Hände an den Hüften, wohl Priesterinnen, die sich in Ekstase tanzen. Dieser Kult wurde offenbar bis in die klassische griechische Zeit praktiziert, also wohl rund 1000 Jahre, denn eine Inschrift belegt, dass der Tempel später dem Gott Dionysos geweiht war, also dem Gott des Weins, des Rausches und der Ekstase. Dies ist vielleicht der einzige archäologische Befund, der uns eine Kontinuitätslinie von der minoischen bis in die griechische Zeit hinein aufzeigt. Der minoische Kult der Ekstase wurde später wohl dionysisch verstanden.
In der neopalatialen Phase fanden im Thronraum von Knossos offenbar Salbungsrituale statt, wie ein Pithos und mehrere Alabastra zeigen, doch wir wissen leider nicht, wer auf dem Thron saß, ein König, ein Oberpriester oder eine Oberpriesterin, die vielleicht die Göttin in einem Ritual spielte? Sind wir hier in einer Theokratie?
In Knossos, Phaistos, Mallia und Zakros gibt es Zentralhöfe, in denen Altäre gefunden wurden. Auf der westlichen Seite gab es immer Kulträume, die sich zur Stadt hin öffnen, allerdings ist die genaue Kulttopographie unklar. Die Stiersprünge fanden wohl nicht in diesen großen Innenhöfen statt, weil diese gepflastert waren, aber die Opferung der Stiere kann man sich hier durchaus vorstellen. Weitere religiöse Architektur stellen die Lustralbecken und die Säulenkrypten dar. In Knosssos liegt der lustrale Baderaum direkt neben dem Thronsaal, in den Säulenkrypten fanden wohl Ernte- und Reinigungsfeste statt.
In der postpalatialen Phase, also nach 1450 werden die Gipfelheiligtümer aufgegeben, die Lustralbecken zugeschüttet, die Säulenkrypten anderweitig verwendet. Hier macht sich nun wohl mykenischer Einfluss bemerkbar. Es gibt viele Veränderungen, aber keinen direkten Bruch, wir greifen also immer noch im Wesentlichen eine Kontinuität im Kult. Offenbar gehen die Mykener sehr pragmatisch mit der minoischen Kultur um: Was in ihre eigenen religiösen Vorstellungen passt, wird übernommen, wie z. B. die Doppeläxte zur Darstellung von Macht, was sie nicht brauchen, wird nicht weitergepflegt.
Noch ein paar Worte zu den minoischen Ritualen: Wichtig sind Prozessionen zu den Heiligtümern, wo Männer und Frauen tanzen, um in Ekstase die Muttergottheit zu erfahren. Anders als im klassischen Griechenland wird auf den Altären nie Feuer gemacht, sondern nur an ihnen gebetet. Dennoch sind alle Elemente des späteren griechischen Opfers schon da: Die Prozession, der Altar, das Voropfer in Form von Libationen, das eigentliche Opfer, das Auffangen des Blutes, die Verzehrung des Fleisches. Es gibt einige, wenige Hinweise für Menschenopfer. In Knossos fand man die Überreste von vier Kindern, deren Knochen Schnittspuren aufweisen, d.h. das Fleisch wurde von den Knochen gelöst. Wenn es sich hier wirklich um Kannibalismus handeln sollte, so ist er auch durch eine Notlage, wie eine Hungersnot erklärbar. In Myrtos, an der Südostküste Kretas fand man bei einem Schrein den Schädel eines jungen Mannes, aber vielleicht handelt es sich hier einfach um Totenkult. Die Evidenz für Menschenoper ist also sehr dürftig.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die minoischen Riten den ganzen Kosmos einbinden, von den Höhlen bis zu den Gipfeln, auch in Häusern finden Riten statt. Die Religion durchdringt also alle Lebensbereiche. Das wichtigste Merkmal ist wohl die Vorstellung von der Epiphanie einer Göttin, die man in einem ekstatischen Tanz zu erleben versucht. Es ist sicher richtig, dass im Zentrum der Religion die Anbetung von Göttinnen stand, doch ist es voreilig, eine einzige minoische Muttergottheit zu postulieren. Die weiblichen Gottheiten werden immer anders dargestellt, einmal als Schlangengöttin, dann im agrarischen, bald wieder in einem kriegerischen Kontext. Es gibt sicher auch männliche Gottheiten, obwohl man auf den Darstellungen nicht unterscheiden kann, ob es sich um einen Gott, einen König, einen Priester oder einen Verehrenden oder einen Initianden handelt. Ein Vergleich mit allen anderen bronzezeitlichen Religionen lässt Polytheismus jedoch als wahrscheinlich erscheinen. Die Frage nach der Kontinuität von der minoischen zur mykenischen und dann sogar zur späteren griechischen Religion ist nach wie vor heftig umstritten.

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01 – Überblick

 

 

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Griechische Geschichte I: Die Archaische Zeit

01 – Überblick

Ich möchte zu Beginn der Vorlesung Griechische Geschichte I: Von Mykene bis in die späte Archaik eine allgemeine Orientierung sowie eine zeitliche Einordung geben. Vorausschicken möchte ich, dass es sich bei dieser Vorlesung um den ersten Teil einer auf sechs Semester angelegten Überblicksvorlesung zur Alten Geschichte handelt, die in alle Epochen der Alten Geschichte einführen wird. Wir beginnen mit der Archaischen Periode Griechenlands, an die sich im nächsten Semester das sogenannte Klassische Griechenland anschließen wird, also das 5. und 4. Jh.. Das dritte Semester wird sich mit dem Hellenismus beschäftigen, also der Geschichte von Alexander dem Großen am Ende des 4. Jhs. bis zur Einverleibung des letzten Diadochenreiches, des Ptolemäerreiches in das Römische Reich durch Octavian nach der Schlacht von Actium 31 v. Chr.. Das vierte Semester wird sich dann der Geschichte der Römischen Republik widmen, das fünfte der Römischen Kaiserzeit. Die Spätantike mit ihrem Übergang ins frühe Mittelalter wird schließlich Gegenstand des sechsten Semesters sein.
Die archaische Zeit Griechenlands ist die erste, zentrale Epoche der Alten Geschichte, in der die Grundlagen für das spätere Griechenland mit seiner Hochkultur gelegt werden, die uns in vielfältiger Weise geprägt hat und auch heute noch betrifft. Dabei ist die archaische Periode eine Zeit stürmischen Wandels; Historiker sprechen oft von einer Zeit beschleunigten Wandels mit tiefgreifenden Transformationsprozessen. Nach dem Untergang der mykenischen Kultur mit ihrer Verwaltungsschrift, Linear-B, gerät die Schriftlichkeit erst einmal in Vergessenheit, sinkt auch die materielle Kultur auf ein niedriges Niveau ab. Diese sogenannten Dunklen Jahrhunderte von ca. 1200-800/750 v. Chr., die uns nur wenige Zeugnisse hinterlassen haben, sind aber gleichzeitig die Vorbereitung für das Erwachen der Griechen ab der Früharchaik. Mit der Übernahme der Schrift von den Phöniziern wird zu Beginn der Archaischen Zeit die Aufzeichnung von Dichtung möglich, wird die mündliche Epentradition, die man unter Homers Großepen Ilias und Odyssee zusammenfassst, schriftlich fixiert und der Grundstein gelegt für weitere Dichtungen und das erste Philosophieren der Vorsokratiker.
Durch das Bevölkerungswachstum kommt es zu krisenhaften Phänomenen, die die Griechen auf verschiedenste Art und Weise zu lösen versuchen. Ein Weg ist die Auswanderung aus dem Mutterland, die Große Kolonisation, die den Griechen nicht nur neue Küsten und Länder erschließt, sondern sie auch geistig befruchtet und ihren Horizont enorm erweitert. Ein anderes Konfliktlösungsmittel ist die Siedlung in größeren Gemeinschaften, sprich die Entstehung der Polis, die wiederum neue Errungenschaften hervorbringt.
Die Vorlesung gliedert sich in zwölf Abschnitte. Nach einer chronologischen Orientierung werden wir zunächst auf die Minoer eingehen, die erste Hochkultur auf griechischem Boden, die allerdings vor-indoeuropäisch und damit nicht-griechisch war. Die Mykener, die bereits Griechen sind, übernehmen viel von der minoischen Kultur und begründen eine minoisch-mykenische Mischkultur. Wenn es überhaupt einen Trojanischen Krieg gab, dann haben ihn der Sage nach Mykener geführt. Troja wird also in einem dritten Abschnitt unsere Aufmerksamkeit gelten. Dabei soll nicht nur nach der Historizität des Trojanischen Krieges gefragt werden, sondern es sollen auch die aktuellen Debatten, d.h. die neuen Kämpfe um Troja zur Sprache kommen, die v.a. um die Größe und Bedeutung der Stadt am Hellespont kreisen. Unsere Hauptquelle zum Trojanischen Krieg ist Homer, dem ein eigenes Großkapitel gewidmet sein wird. Auch hier werden wir wieder auf die jüngsten Debatten eingehen, v.a. auf Raoul Schrotts gewagte These, dass Homer nicht aus dem westlichen Kleinasien stamme, sondern aus dem anatolischen Kilikien, er also als Migrantenkind in der griechischen Diaspora aufgewachsen und Schreiber in assyrischen Diensten gewesen sei. Die beiden Abschnitte Troja und Homer werden die archäologischen Quellen und den literarischen Text aufeinander beziehen. Wir werden sehen, dass Homer primär Literatur ist, dass die Aussagen seiner großartigen Epen mit den archäologischen Befunden nicht in Einklang zu bringen sind und damit die Historizität eines Trojanischen Krieges nach wie vor nicht belegt werden kann.
Homer ist dennoch eine wichtige Quelle, jedoch eher für seine Zeit, den Ausgang der Dunklen Jahrhunderte als für das bronzezeitliche Mykene oder Troja. Wir versuchen in diesem Abschnitt mit Homer und auch mit archäologischen Befunden, wie dem Fürstengrab von Lefkandi und dem Schiffswrack von Uluburun, etwas Licht in die Dunklen Jahrhunderte zu bringen und die Gesellschaft zwischen 1200 und 800 v. Chr. in Umrissen zu skizzieren.
Mit dem Ausgang der Dunklen Jahrhunderte beginnt dann die eigentliche archaische Zeit Griechenlands von 800/750 v. Chr. bis ca. 500 v. Chr. Wir gehen hier auf zentrale Phänomene, wie die Krise der archaischen Zeit, die Entstehung der Polis, die Gesellschaft jener Zeit und die Kolonisation ein. Gerade die Geschichte der Kolonisation wird uns lehren, warum diese Epoche auch als orientalisierende Epoche bezeichnet wird. In einem bis dato nicht gekannten Ausmaß tritt die griechische Welt in einen fruchtbaren Austausch mit dem Orient ein, der auf vielen Gebieten wie eine Initialzündung wirkt, wobei wir sehen werden, dass die Griechen jeweils sehr eigenständig mit diesen Anregungen umgehen und ihnen immer eine genuin griechische Ausprägung geben. Die Entwicklung hin zum verfassten Stadtstaat, zur Polis, als politisch autonomem Gebilde, ist nicht ohne eine Betrachtung der Änderungen in der Kriegstechnik und der Verfassungsform der Tyrannis möglich. Gerade zur Innovation im militärischen Bereich, zum Aufkommen der Hopliten-Phalanx, gibt es Forschungskontroversen, die es hier nachzuzeichnen gilt.
Gegen Ende des Semesters müssen wir uns dann mit der Kultur der archaischen Zeit befassen, mit Religion und Sport, die in der griechischen Welt untrennbar zusammengehören, mit der Literatur, die in Form der archaischen Lyrik einen Gipfelpunkt der Weltliteratur markiert, mit der Kunst, die in der Vasenmalerei, im Tempelbau und in der Skulptur Unvergleichliches schuf, und mit einer spezifisch aristokratischen Form der Geselligkeit, dem Symposion, das gerade in der späteren philosophischen Literatur, denken wir an Platons Symposion, so wirkmächtig werden sollte. Zwei Städte sollen dann zum Ausklang sozusagen als case studies die Entwicklung nachzeichnen helfen, zum einen Sparta und zum anderen Athen, für das gerade ab dem 6. Jh. die Quellen sehr reichlich fließen. In Athen verdichten sich wie in einem Brennglas die krisenhaften Phänomene der archaischen Zeit. Solon versucht mit zahlreichen Reformen Abhilfe zu schaffen. Sein Werk hat keinen unmittelbaren Bestand, die Peisistratiden errichten eine Tyrannis in Athen, aber Solons Reformen entfalten doch eine gewisse Langzeitwirkung, zumindest flachten sich die scharfen sozialen Gegensätze ab, konnte sich Athen auch wirtschaftlich im 6. Jh. konsolidieren, erweiterte sich die Basis für die politische Partizipation beträchtlich. Ohne diese Langzeitwirkung wäre der Weg hin zur Demokratie am Ausgang des 6. Jhs. nicht zu verstehen.
Nun aber zur chronologischen Orientierung: In meiner Zeittafel versuche ich, politische Geschichte, geistige und materielle Kultur einander gegenüberzustellen und damit zu verknüpfen. Die Minoische Kultur gliedert sich in Palastzeiten. Die Vorpalastzeit reicht von 3000 – 2000 v. Chr.. Um 2000 setzen die Minoer mit dem Bau der ersten Paläste zum Sprung zur Hochkultur an, wir sprechen von der Älteren Palastzeit. Diese älteren Paläste werden um 1800 durch ein Erdbeben zerstört, aber sofort wieder aufgebaut. Es beginnt damit die Jüngere Palastzeit; ab dem 16. Jh. steht die minoische Kultur in voller Blüte. Um 1400 geht diese Kultur unter, die genauen Ursachen sind unklar, hängen jedoch nicht mit dem Vulkanausbruch von Thera zusammen. Nach der Theorie von W.-D. Niemeyer geht zunächst Knossos ca. 1450 aus innerkretischen Auseinandersetzungen als Sieger hervor. Zeugnis dafür könnte sein, dass alle Paläste außer dem von Knossos zerstört werden. Kurze Zeit später errichten die Mykener, wohl um 1375 v. Chr., ihre Herrschaft über Kreta. Die Schrift Linear-B, eine Frühform des Griechischen, löst die für uns nicht lesbare Linear-A Schrift der Minoer ab.
Die mykenische Kultur wird nach Stufen des Helladikums datiert. Parallel zur minoischen Vorplastzeit spricht man bzgl. der Mykener für den Zeitraum von 3000-2000 v. Chr. vom Frühhelladikum, das gleichzeitig auch die frühe Bronzezeit darstellt. Das Mittelhelladikum, also die mittlere Bronzezeit, bezeichnet den Zeitraum von 2000 – 1600 v. Chr. Das Späthelladikum ab 1600 v. Chr. ist dann die eigentliche mykenische Zeit. Die mykenische Palastzeit ab 1400 v. Chr. gliedert sich dann in drei Phasen des Späthelladikums III, also A, B und C. Wichtig ist, dass es um 2000 Bevölkerungsverschiebungen auf dem griechischen Festland gibt; hier nimmt man gemeinhin die Einwanderung indoeuropäischer Stämme an, die sich dann mit der indigenen Bevölkerung vermischen und in einem langen und komplexen Assimilationsprozess zu den späteren Mykenern entwickeln. Dieser Prozess setzt offenbar mit dem Mittelhelladikum ein, gerade als auf Kreta die Ältere Palastzeit beginnt. Um ca. 1200 erlebt die mykenische Kultur aus multikausalen Gründen einen Niedergang, der sich über mehrere Generationen erstreckt. Materiell schließt sich die submykenische Zeit an, die den Beginn der Dunklen Jahrhunderte markiert. Ab 1050 entstehen die ersten Vasen im protogeometrischen Stil, sie werden also mit geometrischen Mustern, wie Kreisen verziert. Der geometrische Stil umfasst dann die ganzen Dunklen Jahrhunderte. Oft spricht man auch von der geometrischen Zeit, ein Synonym für die Dunklen Jahrhunderte.
Auch beim Untergang der mykenischen Kultur sind Bevölkerungsbewegungen im Spiel, die jedoch auf keinen Fall die alleinige Ursache für den Niedergang darstellen. Die ältere Forschung sprach hier von der sog. „Dorischen Wanderung“, also der Ankunft der späteren Dorer. Obwohl es unbestritten ist, dass es Neuankömmlinge gab und sie wohl auch einige mykenische Festungen angriffen, geht man heute von einem komplizierten Prozess der Ethnogenese aus. Die griechischen Stämme haben sich wohl erst in den Dunklen Jahrhunderten auf griechischem Boden herausgebildet und sind nicht etwa, wie früher vermutet, als geschlossene Stämme eingewandert. Ab 1050 werden auch die ägäischen Inseln und die kleinasiatische Westküste besiedelt, einen Prozess, den man oft „Ionische Wanderung“ nennt, ein irreführender Begriff insofern, als nicht nur die spätere ionische Küste besiedelt wird, sondern auch die später dorischen Abschnitte im Süden und äolischen Abschnitte im Norden. Auch handelt es sich bei der Ostwärtsbewegung nicht nur und nicht ausschließlich um eine Fluchtbewegung vor den auf dem Festland vordringenden Dorern.
Um 800 lässt man mit dem Aufkommen der Schrift die Archaik beginnen, wir fassen nun einen beschleunigten Wandel in allen Bereichen. Das starke demographische Wachstum zwingt viele Griechen zur Auswanderung. Die Große Kolonisation beginnt. Um 800 wird Al Mina als griechischer Handelsposten an der heutigen syrischen Küste angelegt, kurze Zeit später gründen Griechen aus Chalkis und Eretria Pithekoussai auf der Insel Ischia. In den nächsten zwei Jahrhunderten werden die Griechen Süditalien, Sizilien und das westliche Mittelmeer besiedeln, ebenso die Schwarzmeerküste. Zu Hause schreitet die Entwicklung ebenfalls in rasantem Tempo voran. Das Mehr an Bevölkerung zwingt die Menschen zusammenzuziehen, viele Siedlungen werden aufgelassen, die Polis entsteht. Es wird nun verstärkt über die Formen des Zusammenlebens diskutiert. Die Macht des Königs wird fast überall gebrochen, sie geht vielerorts auf einen Adelsrat über. Die Polis schafft sich die ersten Institutionen und dafür auch die entsprechenden Bauten, die ersten Tempel entstehen. Kurz nach Aufkommen der Schrift werden die bis dahin mündlich vorgetragenen und dabei immer neu improvisierten Heldenepen nun verschriftlicht, die Ilias wohl im 8. Jh.. Dies ist die traditionelle Datierung. Neuere Forschungen gehen von einem viel späteren Datum aus und datieren die Ilias nun um ca. 700 v. Chr. Dementsprechend verschiebt sich dann auch die jüngere Odyssee und das Erscheinen Hesiods, der von den homerischen Epen abhängig ist, zeitlich nach unten. Communis opinio ist heute, dass Homer v.a. eine Quelle für seine eigene Zeit ist, also ca. 750-650 v. Chr., vielleicht mit Reminiszenzen an die Dunklen Jahrhunderte und, ganz gelegentlich, an die mykenische Zeit. Um 700 lassen wir auch die archaische Kunst beginnen, die wir in früh-, mittel- und spätarchaisch einteilen, wobei gerade die früharchaische Periode von 700-620 v. Chr. den Höhepunkt der orientalisierenden Epoche darstellt. In der mittelarchaischen Periode werden dann nach ägyptischem Vorbild die ersten Jünglings- und Mädchenstatuen geschaffen, die sog. Kouroi und Korai.
Während der Großen Kolonisation unterwirft Sparta, das außer der Gründung von Tarent nicht kolonisiert, in mehreren Kriegen Messenien und helotisiert die dort lebende einheimische Bevölkerung, drückt sie also in einen Abhängigkeitsstatus hinab, macht diese Menschen zu Heloten. Schafft es die Kolonisation nicht, den Bevölkerungsdruck abzubauen, kommt es zu Grenzkriegen zwischen Städten. Der sogenannte Lelantinische Krieg zwischen Chalkis und Eretria auf Euboia, wohl auf ca. 730 v. Chr. zu datieren, wird oft auch als letzter Krieg angesehen, der noch nach der alten Manier, also zwischen adeligen Zweikämpfern ausgefochten wurde. Denn ab 700 v. Chr. breitet sich die neue Kampftechnik der Phalanx immer mehr aus, wobei das archaische Schlachtfeld nach wie vor von ganz unterschiedlichen Kampfweisen geprägt gewesen sein dürfte.
Um 700 nach konventioneller Datierung tritt der zweite große Ependichter auf, Hesiod, der, stilistisch noch von Homer abhängig, nun den Themenfokus der alten Epik stark ausweitet, soziale Missstände seiner Zeit anprangert und in seinen Werken eine neue Sozialethik in mythischem Gewande entwirft. Damit trifft er den Nerv der Zeit. Zunehmend stellen die Menschen das Monopol des Adels in der Rechtsprechung in Frage. Man will mehr Mitsprache und v.a. auch mehr Rechtssicherheit. Eine Welle der Rechtskodifikationen ist die Folge, die ganz Griechenland erfasst. Damit entstehen die ersten Prosatexte. Obgleich die Aufzeichnung des Gewohnheitsrechts, die immer auch eine Neuschöpfung des Gesetzes ist, mehr Rechtssicherheit schafft, errichten in einer dialektischen Entwicklung, sozusagen, an vielen Orten charismatische Führer ihre Alleinherrschaft, eine Tyrannis, oftmals mit dem Versprechen, die Krise zu lösen. Die Umstände variieren dabei regional stark, auch die Formen der Herrschaftssicherung.
Zeitgleich zur Hoplitenphalanx entsteht um 700 in Korinth die schwarzfigurige Keramik. Zunächst ist also Korinth in der Vasenproduktion führend. Nach den Epikern Homer und Hesiod finden nun viele Dichter ihren bleibenden literarischen Ausdruck in der Lyrik. Das Individuum wird sich sozusagen literarisch seiner selbst bewusst. Tyrtaios von Sparta, Theognis von Megara, Archilochos von Paros, Alkaios, Sappho von Lesbos, Anakreon, Alkman, Pindar und andere erreichen in mannigfachen lyrischen Gattungen nicht nur Formvollendung, sondern auch eine Tiefe des Gedankens, die ihresgleichen sucht. Das Themenspektrum reicht dabei von der kritischen Gesellschaftsanalyse zur kruden Sexualität, vom hymnischen Lobpreis der Sieger in sportlichen Wettkämpfen bis zur wüsten Beschimpfung und Schmähung des Widersachers, vom Hochgesang auf den Wein bis zur sensibelsten Gefühlsregung.
683 haben wir den ersten Archon in Athen belegt. 624 zeichnet Drakon kurz nach dem Kylonischen Frevel, einer Blutrache, die ausgeufert war, das athenische Totschlagsrecht auf und versucht damit erfolgreich, die Blutrache einzudämmen, indem er sie gewissermaßen unter „staatliche Kontrolle“ stellt. Die sozialen Probleme sind damit in Athen nicht gelöst. Zu Beginn des 6. Jhs. wird Solon Archon in Athen. Ihm wird die Tyrannis angetragen, doch er lehnt ab. Nach Implementierung seiner Wirtschafts- und Verfassungsreform, die eine Timokratie begründete, also eine Regierungsform, die politische Partizipation nach dem Eigentum bemaß, zog er sich bewusst ins Ausland zurück. Seine Reformen waren erst einmal nicht von Bestand, die Peisistratiden errichteten ab 546 eine Tyrannis, doch ermöglichte der soziale Ausgleich, den Solon durchaus erreichte, den späteren Aufstieg Athens.
Ab dem 6. Jh. begründen die Vorsokratiker an der kleinasiatischen Westküste die Philosophie sowie die Naturwissenschaften. Beide Bereiche sind dabei noch nicht getrennt. In Athen blüht ab 600 v. Chr. die schwarzfigurige Vasenmalerei; mit der rotfigurigen Keramik löst dann Athen ab 530 endgültig die Vormachtstellung Korinths in der Vasenproduktion ab. Ebenfalls um 600 beschleunigt das Aufkommen der Geldwirtschaft den sozialen Wandel weiter. Eine vorher ungeahnte soziale Mobilität war nun die Folge. So schnell wie man finanziell aufsteigen konnte, so schnell konnte man auch wieder absteigen, eine Entwicklung, die den Adel in seinen Grundfesten erschütterte, der nun versuchte, sich durch das Pochen auf eine vornehme Geburt, die man sich eben nicht kaufen konnte, nach unten abzuschließen. Als die Peisistratiden die Herrschaft in Athen an sich reißen, geraten die ionischen Städte unter persische Oberhoheit. Ca. 50 Jahre später werden sie im Ionischen Aufstand dagegen aufbegehren, ein Ereignis, das die Perserkriege auslösen wird. Damit und mit dem Sturz der Peisistratiden in Athen 510 und den Reformen des Kleisthenes 508/7 sind wir jedoch schon in der klassischen griechischen Geschichte angelangt.

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Münze Sol Invictus

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Konstantinischer Nummus, 313/4 n. Chr.

Leitfragen:

1) Was ist auf der Münze im Einzelnen zu sehen?

2)Weshalb ließ Konstantin gerade diese Motive auf die Münze prägen?

3)Welche Rückschlüsse lässt diese Münzdarstellung auf die religiöse Haltung Konstantins zu?

Kommentar:

Konstantin I., auch Konstantin der Große genannt, ist heute insbesondere für seine Hinwendung zum Christentum bekannt und den Satz „In diesem Zeichen wirst du siegen“, der ihn angeblich dazu brachte, das Kreuz auf seine Standarten zu setzen. Hier haben wir eine Münze, die er prägen ließ, vor uns, die eine auf den ersten Blick unverständliche Symbolik aufweist, wenn man das gängige Bild vom christlichen Kaiser Konstantin anlegt.

Was aber ist auf der Münze zu sehen? Die Vorderseite zeigt uns ein Porträt Konstantins, umgeben von seinem Namen IMP CONSTANTINUS P F AUG. Dieser Name ist, neben der Bezeichnung des abgebildeten Mannes, auch ein politisches Statement, denn er nennt sich Kaiser (IMP= Imperator) und außerdem Augustus (AUG). Zum Zeitpunkt der Münzprägung, mindestens ein Jahr nach seinem Sieg an der Milvischen Brücke bei Rom, ist er zwar als Augustus, das bedeutet als einer der beiden oberen Kaiser im System der Tetrarchie, anerkannt, aber er möchte dies auch deutlich untermauern. Der Rest seines Namens weist auf religiöse Dinge hin, er ist pius fidelis (P F), also fromm und gläubig. Im Licht der populären Sichtweise auf Konstantin würde man dies selbstverständlich sofort als eine Art christliches Bekenntnis lesen wollen, aber diese Symbolik fehlt auf der Münze vollkommen. Vielmehr ist auf der Rückseite der Münze eine wichtige pagane Gottheit abgebildet, der Sonnengott Sol Invictus. Die Widmung sagt deutlich, wem die Münze gewidmet ist, nämlich dem abgebildeten Sonnengott, „dem Gefährten Sol Invictus“ (SOLI INVICTO COMITI). Sol ist hier als eine Art Weltenherrscher gezeigt, er hält den Globus in seiner Linken, die Rechte ist erhoben, wie ein Feldherr zu den Truppen sprechen würde – die Möglichkeit, diese Figur gleichzeitig mit Konstantin zu identifizieren, ist durchaus vorhanden und sicherlich auch so intendiert gewesen.

Sol Invictus war für Konstantin eine wichtige Gottheit auf seinen Münzdarstellungen, was Rückschlüsse auf seine religiöse Einstellung zulässt. Zum einen nutzt er, trotz seiner starken Begünstigung des Christentums, keine eindeutig christliche Symbolik auf seinen Münzen, ein Kreuz oder Christogramm suchen wir hier vergebens. Zum anderen aber hat er sich gerade den Gott aus dem paganen Pantheon herausgesucht und zu seinem Gefährten erhoben, der die meisten monotheistischen Züge trägt, denn Sol Invictus wurde oft auch als der „größte der Götter“ bezeichnet oder als Personifizierung aller Gottheiten gesehen. Es gibt in der Forschung daher auch die These, dass der Sol Invictus-Kult für Konstantin eine Art Scharnierfunktion zwischen den christlichen und den paganen Untertanen darstellte, da er für beide gleichermaßen akzeptabel war. Der Kult war fast monotheistisch konzipiert, Sol Invictus eine positive Lichtgottheit und daher für die christlichen Untertanen sicherlich eher akzeptabel als andere Gottheiten. Gleichzeitig war er ein Zugeständnis an die paganen Untertanen, die hier eine Fortführung der alten Religion sehen konnten. Abschließend ist auffallend, dass der „erste christliche Kaiser“ auf seinen Münzen nicht Christus, sondern den Sonnengott abbildete.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Religiöse Strukturen, Judentum und Christentum“. Um einen breiteren Einblick in die Kaiserzeit zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte II – Kaiserzeit“.
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Siehe zur Münzprägung in der Spätantike auch die Münze des Diokletian. Zu Konstantin siehe auch seinen Herrschaftsantritt, die Berichte zu seiner Vision (Laktanz), (Eusebius) und den zur Gewaltorgie in seiner Familie.

Rhetorenedikt

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Übersetzung: Tobias Nowitzki
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Übersetzung

Es ist notwendig, dass die Lehrer der Wissenschaften und die Gelehrten zuerst sich durch ihren Charakter auszeichnen, dann erst durch ihr fachliches Können. Aber, weil ich selbst nicht den einzelnen Gemeinden zur Seite stehen kann, befehle ich: Wer auch immer lehren will, möge nicht plötzlich und überstürzt an diese Aufgabe gehen, sondern sich, nachdem er durch das Urteil des Standes der Hofangehörigen für gut befunden wurde, diese Entscheidung verdienen, durch die einmütige Übereinstimmung der Besten. Dieses Dekret wird mir zur Beurteilung vorgelet, damit eine gewisse höhere Ehre durch unser Urteil den Studien der Gemeinden zuteil werde. Gegeben am 15. Tag vor den Kalenden des Juli, bekanntgegeben am 4. Tag vor den Kalenden des August in Spoletio, im Jahr als Mamertinus und Nevitta Konsuln waren.

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Autor_in: Tobias Nowitzki
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Codex Theodosianus XIII, 3, 5

Leitfragen:

1) Was ist der Inhalt des Ediktes?

2)Welche Absicht verfolgte Kaiser Julian mit diesem Dekret?

3)Welche fundamentale Neuerung für die Verwaltung des Reiches bringt dieses Dekret mit sich?

Kommentar:

Im Jahr 362 n. Chr. erließ Kaiser Julian Apostata ein Edikt, das als „Rhetorenedikt“ bekannt geworden ist. Inhalt dieses Ediktes ist eine Vorschrift über die Bestellung von Lehrern in den einzelnen Städten des Reiches. Diese sollen vorrangig moralisch tauglich sein, dann erst fachlich. Um dies sicherzustellen, befiehlt der Kaiser, dass sich alle angehenden Lehrer erst dem Urteil einer moralischen Prüfung durch den Curialenstand unterziehen müssen. Die Curialen sollen dann ein Urteil fällen, das wiederum dem Kaiser zur Gegenprüfung vorgelegt wird. Erst dann kann der Lehrer seinen Dienst antreten.

Die Absicht Julians ist eindeutig: Er möchte einen weit größeren Einfluss auf die Besetzung von Posten in den Städten haben als zuvor. Die Lehrer sollen erst dann bestellt werden können, wenn sie mehrfach geprüft worden sind. Höchst interessant ist dabei, dass er von moralischer Tauglichkeit spricht, dabei aber sich und den Curialen großen Spielraum lässt, wie dies auszulegen sei. Möglicherweise wollte der letzte pagane Kaiser auf diese Weise auch verhindern, dass Christen Lehrer werden und so unter Umständen ihre Schüler in ihrem Sinne beeinflussen könnten. Dabei ist offensichtlich, dass er auch den örtlichen Eliten nicht vollends vertraut, da er sich deren Beschluss noch einmal vorlegen lässt.

Julians Versuch, sich Einfluss in den Städten zu sichern, ist von den späteren Kaisern nicht zurückgenommen worden, auch christlichen Kaisern passte dieses Dekret gut, wahrscheinlich besonders durch die Vagheit der Formulierungen. Die Spätantike war insgesamt geprägt von einer weit stärkeren Bürokratisierung der Reichsverwaltung als zuvor, und dieses Edikt fügt sich gut in die allgemeine Tendenz ein. Denn anders als in der Prinzipatszeit wird nun auch die Bestellung von Lehrern zu etwas, das den Hof direkt angeht. Dieses Hineinregieren in die Gemeinden wurde von den Untertanen zunehmend als Problem empfunden.

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Podcast-Hinweise
Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Diokletian, Konstantin und die konstantinische Dynastie“. Um einen breiteren Einblick in die Spätantike zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte III – Spätantike“.
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Siehe zu den Vorwürfen an Diokletian auch dessen Charakterisierung durch Laktanz.

Konzil von Nizäa

Origninalquelle

 

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Übersetzung: Andreas Bigelmair
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Übersetzung

[11] Darauf erhob sich der Bischof, der auf der rechten Seite den ersten Platz einnahm, und hielt eine ziemlich kurze Rede, in der er sich an den Kaiser wandte und seinetwegen dem allmächtigen Gott feierlich Dank sagte. Als sich aber auch dieser wieder gesetzt hatte, trat Stille ein; aller Augen blickten unverwandt auf den Kaiser, dieser aber sah sie alle mild mit freundlichem Blicke an, sammelte sich im Geiste und hielt dann mit ruhiger und sanfter Stimme folgende Rede:
[12] „Mein höchster Wunsch war es, meine Freunde, mich euer Versammlung erfreuen zu können, und da ich ihn erfüllt sehe, spreche ich offen dem Herrscher der Welt meinen Dank aus, daß er mir zu allem andern auch noch dieses Glück zu erleben gewährt hat, das jedes andere übersteigt; ich meine das Glück, euch alle hier versammelt zu finden und zu sehen, daß alle ein und dieselbe einträchtige Gesinnung haben. Nicht also soll ein neidischer Feind unser Glück trüben, nicht soll der Dämon, der Freund alles Schlechten, nachdem durch die Macht des Erlöser-Gottes die gegen Gott ankämpfenden Tyrannen aus dem Wege geräumt sind, das göttliche Gesetz auf andere Weise bekriegen, indem er es mit Lästerungen überschüttet. Denn für schlimmer als jeder Krieg und jeder furchtbare Kampf gilt mir der innere Zwist der Kirche Gottes und schmerzlicher scheint mir dies als Kämpfe nach außen. Als ich so die Siege über die Feinde durch des Höchsten Willen und Beistand errungen hatte, glaubte ich, es erübrige mir nur Gott Dank zu sagen und mich zu freuen mit denen, die er durch mich befreit hat. Als ich aber wider alles Erwarten von eurem Zwiste vernahm, hielt ich, was hörte, durchaus nicht für unbedeutend, sondern von dem Wunsche beseelt, daß auch hierin durch meine Vermittlung Abhilfe geschaffen werden, rief ich ohne Verzug euch alle zusammen und ich freue mich nun, eure Versammlung zu sehen; dann aber, glaube ich, sind am allermeisten meine Wünsche erfüllt, wenn ich finde, daß ihr alle eines Herzens seid und daß ein allgemeiner Friede und eine Eintracht unter euch allen herrscht, die ihr als Priester Gottes in geziemender Weise auch andern predigen müßt. Zögert also nicht, o geliebte Diener Gottes und getreue Knechte des gemeinsamen Herrn und Erlösers von uns allen, die Veranlassung zu eurem Zwiste sogleich vorzubringen und die ganze Kette von Streitigkeiten durch Gesetze des Friedens zu lösen. Denn so werdet ihr sowohl zustande bringen, was dem höchsten Gott angenehm ist, als auch mir eurem Mitknechte übergroßen Gefalen erzeigen.“
[13] Nachdem der Kaiser also in lateinischer Sprache gesprochen hatte und ein anderer seine Worte verdolmetscht hatte, gab er den Vorsitzenden der Synode das Wort. Da begannen die einen die anderen anzuklagen, diese aber verteidigten sich und erhoben Gegenbeschuldigungen. Als nun so von beiden Seiten sehr viel vorgebracht wurde und anfänglich ein großer Streit tobte, hörte der Kaiser langmütig allen zu und nahm mit gespannter Aufmerksamkeit das Vorgebrachte entgegen, und indem er sich in einzelnen Punkten für das aussprach, was von einer jeden Partei gesagt wurde, brachte er allmählich die streitsüchtigen Gemüter einander näher. Und weil er sich in ruhiger Milde an die einzelnen wandte und sich dabei der griechischen Sprache bediente, die ihm auch nicht unbekannt war, erschien er freundlich und gefällig; so konnte er die einen überzeugen, andere durch seine Worte beschämen, die, welche trefflich redeten, loben, alle aber zur Eintracht anfeuern, bis er es schließlich erreichte, daß sie über alle strittigen Punkte eines Sinnes und einer Meinung waren.
[14] So drang ein einheitlicher Glaube durch und für das Osterfest einigten sich alle auf denselben Zeitpunkt. Besiegelt wurden aber auch gleich die gemeinsamen Beschlüsse, nachdem sie aufgezeichnet worden waren, durch die Unterschriften der einzelnen Bischöfe. Danach erklärte der Kaiser, hiermit habe er einen zweiten Sieg über den Feind der Kirche errungen, und er ließ darum Gott zu ehren ein Siegesfest feiern.
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Autor_in: Tobias Nowitzki
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Euseb. De vita Constantini 3, 11-14

Leitfragen:

1) Wie gelingt es Konstantin nach Eusebius‘ Darstellung die streitenden Parteien in Nicäa zu versöhnen?

2)Wieso befasst sich Konstantin mit den innerkirchlichen Konflikten seiner Zeit?

3) Welche Rückschlüsse lässt das auf seine Herrschaftspraxis zu?

Kommentar:

Eusebius von Cäsarea war Bischof und Zeitgenosse Konstantins, mit dem er auf sehr gutem Fuße stand. In diesem Abschnitt der Biographie des Kaisers beschreibt Eusebius ein Ereignis, an dem er selbst teilgenommen hatte: das Konzil von Nicäa. Es war einberufen worden, um zentrale Streitfragen zwischen den christlichen Strömungen zu klären, wie beispielsweise die Frage nach dem Wesen Gottes und Jesu sowie dem Termin des Osterfestes. Um beide Punkte herrschte ein heftiger Konflikt innerhalb der Kirche.

In der Darstellung des Eusebius tritt Kaiser Konstantin auf dem Konzil als Gastgeber in vermittelnder Rolle auf. Er hört alle Seiten an, zwingt die Anwesenden mit seiner Ruhe zur Ordnung, wir dürfen uns wohl tatsächlich tumultartige Szenen unter den Bischöfen vorstellen, wissen wir doch aus anderen Quellen, dass man mitunter auch nicht vor Handgreiflichkeiten zurückschreckte. Konstantin bleibt besonnen und greift vermittelnd in die Gespräche ein, versucht Gemeinsamkeiten zu finden. Das gelingt ihm, aber wohl auch deshalb, weil er in einer Rede auf seine Machtposition hingewiesen hatte und daran, dass auch andere Feinde der Kirche (beispielsweise sein Rivale Maxentius) ihm unterlegen waren. So gelingt es ihm am Ende, den Beschluss von Nicäa durchzubringen, der neben dem Termin für das Osterfest auch ein gemeinsames Glaubensbekenntnis enthält, das im Wesentlichen heute noch für die protestantische und die katholische Kirche gilt.

Interessant ist die Frage, wieso sich der Kaiser, der durchaus auch andere Probleme in Form von Usurpatoren oder äußeren Feinden hatte, mit einem auf den ersten Blick trivialen Konflikt innerhalb der Kirche befasst. Wieso sollte es den Kaiser angehen, ob Gott und Jesus nun wesensähnlich oder wesensgleich waren oder welche Gemeinde wann das Osterfest feierte? Die Antwort liegt auf der Hand: Der Kaiser möchte den inneren Frieden erhalten. In vielen Gegenden des Reiches, besonders im Osten, wo der Konflikt am heftigsten tobte, war dieser gefährdet. In Alexandria, wo die Strömungen besonders intensiv aufeinander trafen, kam es auch zu Ausschreitungen, Straßenkämpfen und Toten. Die Gefahr bestand also durchaus, dass zwischen den Hardlinern auf beiden Seiten eine Art innerchristlicher Bürgerkrieg ausbrechen konnte – das wollte Konstantin, der das Reich gerade einigermaßen befriedet hatte, um jeden Preis vermeiden.

Dies lässt auch Rückschlüsse auf seine Herrschaftspraxis zu. Konstantin erkennt das gewaltige Potential zu religiös motivierter Gewalt in seinem Reich und merkt, dass er dringend gegensteuern muss. Bemerkenswert ist dabei, dass er zu vermitteln versucht, damit er nicht sich und der Kirche zu viele Feinde schafft – offenbar konnte der Kaiser seine eigenen religiösen Überzeugungen von der politischen Notwendigkeit durchaus trennen. Ebenfalls auffallend ist, dass Konstantin keine Probleme damit hat, direkt in die Kirche hineinzuregieren und den Bischöfen (verhüllte) Anweisungen zu geben. Hier werfen schon Ereignisse ihre Schatten voraus, die viel später eintreten sollten, so beispielsweise der Konflikt zwischen Papst und Kaiser im Mittelalter.

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Sehen Sie zu dieser Quelle auch den Podcast „Religiöse Strukturen, Die Entwicklung des Christentums“. Um einen breiteren Einblick in die Spätantike zu erhalten, sehen Sie auch die Podcastreihe „Römische Geschichte III – Spätantike“.
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Siehe zu Konstantins religiöser Einstellung auch die Berichte über seine Vision (Laktanz; Eusebius) und seine Münzprägung. Zur religiösen Gewalt in der Spätantike siehe auch die Berichte zur Christenverfolgung(I; II; III).

Laktanz zu Konstantins Vision

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Autor_in: Laktanz
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Lact. De mort. pers. 44,1,6 – Original

Iam mota inter eos fuerant arma civilia. Et quamvis se Maxentius Romae contineret, quod responsum acceperat, periturum esse, si extra portas urbis exisset; tamen bellum per idoneos duces gerebatur. Plus virium Maxentio erat, quod et patris sui exercitum receperat a Severo, et suum proprium de Mauris atque Italis nuper extraxerat. Dimicatum, et Maxentiani milites praevalebant; donec postea confirmato animo Constaninus, et ad utrumque paratus, copias omnes ad urbem propius admovit, et e regione Pontis Mulii consedit. Imminebat dies, quo Maxentius imperium ceperat, qui est ad sextum kalendas novembris; et quinquiennalia terminabantur. Commonitus est in quiete Constaninus, ut coeleste signum Dei notaret in scutis, atque ita proelium committeret. Fecit ut iustus est, et transversa X littera, summo capite circumflexo, Christum in scutis notat. Quo signo armatus exercitus capit ferrum. Procedit hostis obviam sine imperatore, pontemque transgreditur. Acies pari fronte concurrit. Summa vi utrinque pugnatur. Neque his fuga nota, neque illis. Fit in urbe seditio, et dux increpitatur, velut desertor salutis publicae. Tumque repente populus (Circenses enim natali suo edebat), voce subclamat, Constantinum vinci non posse. Qua voce consternatus proripit se, ac vocatis quibusdam Senatoribus, libros Sibyllinos inspici iubet, in quibus repertum est, illo die hostem Romanorum esse periturum. Quo responso in spem victoriae inductus procedit, in aciem venit. Pons a tergo eius scinditur. Eo viso, pugna crudescit, et manus Dei supererat aciei. Maxentianus proterretur; ipse in fugam versus properat ad pontem, qui interruptus erat, ac multitudine fugientium pressus, in Tiberim deturbatur. Confecto tandem acerbissimo bello, cum magna Sentus populique Romani laetitia sesceptus Imperator Constaninus, Maximi perfidiam cognoscit, litteras deprehendit, statuas et imagines invenit. Senatus Constantino, virtutis gratia, primi nominis titulum decrevit, quem sibi Maximinus vindicabat, ad quem victoria liberatae Urbis quum fuisset allata, non aliter accepit, quam si ipse victus esset. Cognito deinde Senatus decreto, sic exarsit dolore, ut inimicitias aperte profiteretur, convicia iocis mixta adversus imperatorem maximum diceret.

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Übersetzung: Aloys Hartl
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Übersetzung

[44] Sieg Konstantins über Maxentius, 312.
Bereits war der Bürgerkrieg zum Ausbruch gekommen. Maxentius hielt sich innerhalb Roms, denn ein Götterspruch verkündete ihm den Untergang, wenn er den Fuß vor die Tore der Stadt setzen würde. Doch ließ er den Krieg durch tüchtige Feldherren führen. An Streitkräften war Maxentius überlegen; denn er hatte das Heer seines Vaters von Severus überkommen und sein eigenes Heer jüngst aus dem Lande der Mauren und Gätuler herbeigezogen. In der ersten Schlacht behielt das Heer des Maxentius die Oberhand. Da faßte Konstantin neuen Mut, und zu Sieg oder Tod entschlossen rückte er mit der ganzen Macht gegen die Stadt heraun und lagerte sich gegenüber der Milvischen Brücke. Es stand der Tag bevor , an dem Maxentius die Herrschaft angetreten hatte. Es war dies der siebenundzwanzigste Oktober; die Feierlichkeiten seiner fünfjährigen Regierungszeit gingen zu Ende. Konstantin ward im Traume ermahnt, das himmlische Zeichen Gottes auf den Schildern anbringen zu lassen und so die Schlacht zu beginnen. Er kommt dem Befehle nach, und indem er den Buchstaben X waagerecht legte und die oberste Spitze umbog, zeichnete er Chr(istus) auf die Schilde. Mit diesem Zeichen gewaffnet, greift das Heer zum Schwert. Der Feind rückt ohne Oberfeldherren entegegen und überschreitet die Brücke. Die Heere stoßen in gleicher Ausdehung aufeinander. Auf beiden Seiten wird mit höchster Anstrengung gekämpft: „Nicht hier gilt Fliehen und dort nicht“.
In der Stadt entsteht Aufruhr. Man schult auf Maxentius als Verräter der öffentlichen Wohlfahrt, und als man seiner ansichtig wurde – er gab gerade Rennspiele am Jahrestage seiner Erhebung -, da schrie plötzlich das Volk wie mit einer Stimme: „Konstantin kann nicht besiegt werden!“ Durch diesen Zuruf außer Fassung gebracht, stürzt er aus der Rennbahn, beruft einige Senatoren und läßt die Sibyllinischen Bücher nachschlagen. In diesen fand sich, daß an jenem Tage ein Feind der Römer umkommen werde Dieser Ausspruch erweckt in ihm die Hoffnung auf Sieg. Er bricht auf und zieht in die Schlacht. Hinter ihm wird die Brücke aufgerissen. Bei seinem Anblicke verschärft sich der Kampf, und die Hand Gottes waltete über dem Schlachtfelde. Schrecken befällt das Heer des Maxentius; er selbst wendet sich zur Flucht und eilt der Brücke zu, die teilweise abgebrochen war. Die Masse der Fliehenden stürzt ihm nach und drängt ihn in den Tiber hinab. So war endlich der erbitterte Krieg zu Ende. Konstantin wird unter großer Freudenbezeugung des Senates und Volkes als Kaiser empfangen. Er überzeugt sich von der Treulosigkeit Maximins, entdeckt dessen Briefe und findet die Statuen und Bilder. Zur Anerkennung der Tapferkeit erkannte der Senat dem Konstantin das Vorrecht des ersten Namens zu, das Maximin für sich in Anspruch nahm. Dieser nahm die Nachricht vom Siege und der Befreiung der Stadt nicht anders auf, als wäre er selbst besiegt worden. Als er dann noch vom Senatsbeschluß hörte, entbrannte er so in Unmut, daß er nicht mehr mit der Feindschaft zurückhielt, sondern sich in Spott und Schmähungen wider den obersten Imperator erging.
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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
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Autor_in: Tobias Nowitzki
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Lact. De mort. pers. 44,1,6

Leitfragen

1)Wie beschreibt Laktanz die Annahme des Kreuzes als Feldzeichen Konstantins?

2) Welche Schwerpunkte setzt Laktanz bei seiner Beschreibung und welche Rückschlüsse lässt dies auf seine Absichten zu?

3)Wie unterscheidet seine Version sich von der des Eusebius?

Kommentar:

Eine der berühmtesten Geschichten der Antike betrifft Konstantin und seinen Übertritt zum Christentum. Der Satz in hoc signo vincas „In diesem Zeichen wirst du siegen“, gehört beinahe schon zur Allgemeinbildung und zählt zu den bekanntesten Sentenzen der Alten Geschichte.

Die Geschichte von Konstantins Vision des Kreuzes am Himmel und diesem Zeichen auf seinen Schilden und Standarten und seinem Sieg 312 n. Chr. über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke bei Rom, ist in zwei Versionen überliefert. Beide Schriftsteller, Eusebius von Cäsarea und Lactantius Firmianus, sind Christen, aber v.a. Zeitgenossen Konstantins. Eusebius ist ein von ihm geschätzter Bischof, Lactantius wird sogar Lehrer des Kaisersohnes. Es ist demnach anzunehmen, dass beiden Berichten persönliche Gespräche mit dem Kaiser über diesen entscheidenden Moment zu Grunde liegen.

Laktanz‘ Bericht konzentriert sich auf die militärische Situation. Er beschreibt die Lage innerhalb der Stadt Rom, die von Konstantins Rivalen Maxentius gehalten wird. Interessanterweise waren laut Laktanz auf beiden Seiten Visionen im Spiel. Konstantin sah das Kreuz am Himmel und bekam im Anschluss daran im Traum den göttlichen Befehl, dieses auf seine Schilde zu malen, was er auch sogleich tut. Maxentius hingegen lässt seine Generäle den Krieg führen, weil ihm ein Orakel den Tod vorausgesagt hatte, sollte er die Stadt verlassen. Obwohl er den ersten Sieg erringt, werden die Bewohner Roms ungeduldig und beginnen an Maxentius zu zweifeln. Als dieser in den Sibyllinischen Orakelbüchern nachschlagen lässt, steht dort, dass an diesem Tage ein Feind der Römer sterben werde. Maxentius interpretiert dies zu seinen Gunsten, zieht in die Schlacht und fällt, auch weil nach Laktanz Gott persönlich in den Verlauf der Schlacht eingreift.

Die Schwerpunktsetzung des Laktanz ist deutlich: Er nimmt neben Konstantin ebenso Maxentius in den Blick und beschreibt dessen Ende in großer Ausführlichkeit. Da sein Werk den Titel De mortibus persecutorum, also etwa „Von den Todesarten der Verfolger“, trägt, ist dies nur verständlich; seine Absicht ist nicht primär, den Weg Konstantins zum Christentum zu beschreiben, sondern für jeden Christenverfolger das jeweilige Ende in möglichst brutaler Art und Weise zu schildern. Damit unterscheidet er sich deutlich von seinem Zeitgenossen Eusebius, dessen Beschreibung sich viel mehr auf das Aussehen des Feldzeichens und die verschiedenen Visionen Konstantins fokussiert und Maxentius kaum erwähnt.

Höchst umstritten ist die Frage nicht nur nach der Vereinbarkeit der beiden Darstellungen, sondern auch nach dem tatsächlichen Vorgang. Eine beliebte moderne Hypothese besagt, dass Konstantin tatsächlich etwas gesehen haben könnte, nämlich ein sogenanntes Halo, ein optisches Phänomen, bei dem sich eine Art Strahlenkranz um die Sonne legt und man durchaus auch ein Kreuzeszeichen erkennen könne. Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, so war klar, dass Konstantin, ganz Mensch seiner Zeit, darin ein göttliches Zeichen gesehen hat. Und Eusebius beschreibt auch das, was immer nach solchen Zeichen kommen musste: die Interpretation. In diesem Fall scheint sich der Kaiser für eine christliche Deutungsweise entschieden zu haben. Aber auch das ist nicht ganz sicher, denn wir wissen aus seinen Münzdarstellungen, dass er zeit seines Lebens einen besonderen Bezug zum Sonnengott Sol Invictus besaß, den er möglicherweise auch mit dem christlichen Gott identifizierte.

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Vergleiche zu der Vision Konstantins auch den Bericht des Eusebius und zur Darstellung des Sol Invictus auf den Münzen Konstantins den entsprechenden Beitrag.

Eusebius zu Konstantins Vision

Orignialquelle

 

Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Übersetzung: Andreas Bigelmair
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Übersetzung

Übersetzung: Andreas Bigelmair
[28] Gott gewährt Konstantin auf seine Bitte eine Erscheinung: er läßt ihn um die Mittagszeit am Himmel ein Kreuz aus Licht schauen mit der Inschrift, er solle durch dieses siegen.
Er rief also in seinen Gebeten diesen Gott an und flehte inständig zu ihm, er möge ihm offenbaren, we er sei, und ihm zu dem bevorstehenden Unternehmen hilfreich seine Recht reichen. Während der Kaiser aber so betete und eifrig darum flehte, erschien ihm ein ganz unglaubliches Gotteszeichen, das man wohl nicht leicht gläubig hinnehmen würde, wenn ein anderer davon berichtete; da es aber der siegreiche Kaiser selbst uns, die wir diese Darstellung schreiben, lange Zeit hernach, als wir seiner Freundschaft und des Verkehres mit ihm gewürdigt worden waren, erzählt und diese Worte mit Eidschwüren bekräftigt hat, wer sollte da noch Bedenken tragen, der Erzählung Glauben zu schenken, zumal auch die Folgezeit der Wahrheit seines Wortes Zeugnis gab? Um die Stunde der Mittagszeit, da sich der Tag schon neigte, habe er, so sagte der Kaiser, mit eigenen Augen oben am Himmel über der Sonne das Siegeszeichen des Kreuzes, aus Licht gebildet, und dabei die Worte gesehen: „Durch dieses siege!“ Staunen aber habe bei diesem Gesichte ihn und das ganze Heer ergriffen, das ihm eben auf seinem Marsche, ich weiß nicht wohin, folgte und dieses Wunder schaute.
[29] Der Christus Gottes erscheint Konstantin im Traume und befiehlt ihm, sich im Kriege eines Feldzeichens zu bedienen, das dem Kreuze nachgebildet sei.
Da sei er nun in Verlegenheit gewesen, was doch diese Erscheinung bedeute. Während er aber dieses erwogen und noch lange darüber nachgedacht habe, habe ihn die Nacht überrascht. Da habe sich ihm nun im Schlafe der Christus Gottes mit dem am Himmel erschienenen Zeichen gezeigt und ihm aufgetragen, das am Himmel geschaute Zeichen nachzubilden und es bei seinen Kämpfen mit den Feinden als Schutzpanier zu gebrauchen.
[30] Die Anfertigung dieses Kreuzeszeichens
Nachdem dann der Kaiser gleich bei Tagesanbruch aufgestanden war, erzählte er seinen Freunden den geheimnisvollen Vorfall. Darauf berief er Künstler zu sich, die sich auf die Bearbeitung von Gold und Edelsteinen verstanden, setzte sich mitten unter sie, beschrieb ihnen die Gestalt des Zeichens und gab ihnen den Auftrag, dasselbe in Gold und Edelsteinen genau nachzubilden. Dieses Werk nun ließ er auch uns einmal schauen, da Gott uns auch diese Gnade erweisen wollte.
[31] Beschreibung des kreuzähnlichen Feldzeichens, das die Römer jetzt Labarum nennen.
Es war aber das Zeichen auf folgende Art verfertigt: ein langer goldüberzogener Lanzenschaft trug eine Querstange und hatte somit die Gestalt des Kreuzes; am oberen Rand des ganzen war ein kunstvoll geflochtener Kranz aus Gold und Edelsteinen befestigt, in dem das Zeichen für den Namen des Erlösers angebracht war, zwei Buchstaben, die als Anfangsbuchstaben den Namen Christi bezeichneten, indem das P in der Mitte durch das X gekreuzt wurde. Eben diese Buchstaben trug der Kaiser für gewöhnlich in der Folgezeit auch auf seinem Helm. An der Querstange, die an den Lanzenschaft gesteckt war, hing ferner ein Stück Linnen herab, ein kostbares Gewebe, das mit bunt aneinander gesetzten, in den Sonnenstrahlen hell funkelnden Edelsteinen über und über besät und reich mit Gold durchwirkt war, ein unbeschreiblich schöner Anblick für jedes Auge. Dieses an der Querstange befestigte Linnen maß ebensoviel in die Länge wie in die Breite; der Längsschaft aber, der bis zum unteren Ende eine beträchtliche Länge hatte, trug oben unmittelbar das Zeichen des Kreuzes, gerade am Ende des beschriebenen Gewebes, das goldene Brustbild des gottgeliebten Kaisers und in gleicher Weise das seiner Söhne. Dieses heilbringende Zeichen gebrauchte nun der Kaiser stets als Schutzmittel gegen jede Macht, die sich ihm feindlich entgegenstelltem und er befahl, daß das Abbild desselben allen seinen Heeren vorangetragen werde.

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Projekttitel: eManual Alte Geschichte
Modul [optional]:
Autor_in: Tobias Nowitzki
Lizenz: CC-BY-NC-SA

Eusebius, de vita Constantini, 1, 28-31

Leitfragen:

1) Wie beschreibt Eusebius die Annahme des Kreuzes als Feldzeichen Konstantins?

2)Welche Schwerpunkte setzt Eusebius bei seiner Darstellung und welche Rückschlüsse können daraus auf seine Absichten gezogen werden?

3) Wie unterscheidet sich diese Version von der des Laktanz?

Kommentar:

Eine der berühmtesten Geschichten der Antike betrifft Konstantin und seinen Übertritt zum Christentum. Der Satz in hoc signo vincas „In diesem Zeichen wirst du siegen“, gehört beinahe schon zur Allgemeinbildung und zählt zu den bekanntesten Sentenzen der Alten Geschichte.

Die Geschichte von Konstantins Vision des Kreuzes am Himmel und diesem Zeichen auf seinen Schilden und Standarten und seinem Sieg 312 n. Chr. über seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke bei Rom, ist in zwei Versionen überliefert. Beide Schriftsteller, Eusebius von Cäsarea und Lactantius Firmianus, sind Christen, aber v.a. Zeitgenossen Konstantins. Eusebius ist ein von ihm geschätzter Bischof, Lactantius wird sogar Lehrer des Kaisersohnes. Es ist demnach anzunehmen, dass beiden Berichten persönliche Gespräche mit dem Kaiser über diesen entscheidenden Moment zu Grunde liegen.

Der Bericht des Eusebius beginnt mit der Beschreibung der Vision. Konstantin habe am Mittag über der Sonne ein Kreuz aus Licht und Schrift gesehen. Da er unsicher ist, wie er das Zeichen zu deuten habe, erscheint ihm Christus im Traum und erläutert ihm das Zeichen. Der Rest des Abschnittes widmet sich einer ausführlichen Beschreibung des Feldzeichens, das Konstantin anfertigen lässt. Der Schwerpunkt der Beschreibung ist dabei eindeutig auf dem spirituellen Vorgang der Wundererscheinung und dem Eindruck, den sie bei Konstantin hinterließ. Außerdem liegt der Fokus auf dem Labarum, dem Feldzeichen, das Eusebius in einer Art und Weise beschreibt, die bereits an Reliquienverehrung denken lässt. Er ist eindeutig an der spirituell-religiösen Seite des Übertrittes Konstantins zum Christentum interessiert, die eigentliche Schlacht und der Sieg werden nur in einem Nebensatz erwähnt.

Damit unterscheidet er sich stark von der Version des Laktanz, der sich auf das Geschehen in Rom bei Maxentius und dessen Tod in der Schlacht fokussiert und auf die Wirkung, die das Labarum auf die Soldaten Konstantins gehabt habe.

Höchst umstritten ist die Frage nicht nur nach der Vereinbarkeit der beiden Darstellungen, sondern auch nach dem tatsächlichen Vorgang. Eine beliebte moderne Hypothese besagt, dass Konstantin tatsächlich etwas gesehen haben könnte, nämlich ein sogenanntes Halo, ein optisches Phänomen, bei dem sich eine Art Strahlenkranz um die Sonne legt und man durchaus auch ein Kreuzeszeichen erkennen könne. Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, so war klar, dass Konstantin, ganz Mensch seiner Zeit, darin ein göttliches Zeichen gesehen hat. Und Eusebius beschreibt auch das, was immer nach solchen Zeichen kommen musste: die Interpretation. In diesem Fall scheint sich der Kaiser für eine christliche Deutungsweise entschieden zu haben. Aber auch das ist nicht ganz sicher, denn wir wissen aus seinen Münzdarstellungen, dass er zeit seines Lebens einen besonderen Bezug zum Sonnengott Sol Invictus besaß, den er möglicherweise auch mit dem christlichen Gott identifizierte.

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Vergleiche zur Darstellung von Konstantins Vision auch die Version des Laktanz, zu den Münzdarstellungen mit Sol Invictus die entsprechende Münze.